_ Ich hatte 2012 in Zusammenarbeit mit dem Verein Sterbehilfe Deutschland zwei 85 und 81 Jahre alte Damen auf ihren ausdrücklichen Wunsch in ihrem altersperspektivischen Doppel-Suizid begleitet und anschließend — wie in der Schweiz üblich — die Ermittlungsbehörden über die nicht natürlichen Tode informiert. Aufgrund der vorgelegten Dokumentation der Freiverantwortlichkeit, bestätigt durch Zeugenaussagen, hat der Bundesgerichtshof (BGH) am 3. Juli 2019 eine ärztliche Garantenpflicht für das Leben verneint und den Freispruch vom Vorwurf des Totschlags bzw. der versuchten Tötung auf Verlangen durch Unterlassen bestätigt.

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Die Dres. Johann F. Spittler und Christoph Turowski (2. u. 3. v. l.) vor dem BGH.

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Dabei bezog sich der BGH auch auf ein Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2011: Zum Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Art. 8 EMRK gehöre auch das Recht zu entscheiden, wie und wann das eigene Leben enden soll. Der BGH stellt auch klar, dass das ärztliche Standesrecht keine Strafe begründen kann, wenn der Arzt dem autonomen Willen des Suizidenten nachkommt.

Von Interesse ist ein Vergleich mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2017 zur Herausgabe von Natriumpentobarbital zum Zwecke eines Suizids. Darin wurde als Bedingung eine „schwere und unheilbare Krankheit“ mit „unerträglichem Leiden“ und „extremer Notlage“ gefordert. Im Falle der Patientin von Dr. Turowski kann man diese Kriterien vielleicht diskutieren, im Falle der beiden Hamburger Damen sicher nicht.

Die Zivilgesellschaften in den Niederlanden und in der Schweiz sind so verschieden von der deutschen Gesellschaft nicht. Dort existieren große Sterbehilfe-Vereinigungen mit vielen freiwilligen Mitgliedern. Die Schweiz hat ein Zehntel der Einwohner Deutschlands und registriert jährlich ca. 900 assistierte Suizide. Man kann darin für Deutschland ein Horrorszenario beschwören oder einen tatsächlichen Bedarf prognostizieren. In jedem Fall muss man sich fragen, wie ein „Dammbruch“ hier auf Dauer verhindert werden sollte.

Als Beschwerdeführer gegen den § 217 StGB über die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung habe ich diese Überlegung dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt [Spittler JF. PflR. 2019;23:348–53]. Man darf auf die Entscheidung gespannt sein.