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Beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit muss geklärt werden, ob der Patient nach seinem freien Willen handelt und ob eine psychische Erkrankung vorliegt.

Toa55 / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

_ „Bisher sind es nur Einzelfälle, aber es werden mehr“, erklärte Prof. Alfred Simon von der Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen. Bei einer Befragung gaben 62% der palliativ tätigen Hausärzte an, in den letzten fünf Jahren mindestens einen Patienten beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) begleitet zu haben. FVNF einer einwilligungsfähigen Person ist etwas anderes als die Beendigung einer künstlichen Ernährung, so Simon: FVNF ermögliche ein selbstbestimmtes Sterben, die Entscheidung sei reversibel, Angehörige könnten Abschied nehmen, das Ableben sei für sie weniger traumatisierend und für den Arzt sei das juristische Risiko geringer. Der Tod tritt allerdings erst nach einer relativ langen Frist ein.

Eine besondere Art des Suizids

Im Unterschied zum Suizid fehlt beim FVNF eine gewaltsame Einwirkung von außen, und das Vorgehen ist wohlerwogen und nicht impulsiv. „FVNF ist eine Form des passiven Suizids, ähnelt mehr dem natürlichen Sterben“, so Simon. FVNF und Suizid sollten als zwei Ausdrucksformen des Wunsches nach vorzeitigem Lebensende gewertet werden, die ähnlich zu behandeln sind.

Bei entsprechendem Wunsch des Patienten sollten zunächst alternative Handlungsmöglichkeiten erörtert werden. Man sollte sich fragen: Welche Not steht hinter diesem Wunsch? Gibt es alternative Möglichkeiten, diese Not zu lindern? Beruht der Wunsch auf einer wohlüberlegten Entscheidung? Können steuernde Einflüsse wie eine psychische Krankheit oder sozialer Druck ausgeschlossen werden? „Wenn dies alles beantwortet ist, sollte man die Entscheidung des Patienten auch bei Lebenssattheit respektieren“, so Simon. Dies beinhaltet auch die Pflicht einer Sterbebegleitung mit dem Ziel der Symptomlinderung, nicht aber, um die Selbsttötung zu fördern: „Der Arzt sollte Hilfe beim Sterben, aber nicht zum Sterben leisten.“ Die ärztliche Garantenpflicht zur Suizidintervention entfällt, denn die Alternative wäre die Zwangsernährung, zu der der Patient sein Einverständnis erteilen müsste.

Natürlicher Tod

Und wie sieht das der Jurist? „Jeder Patient hat das Recht, unerwünschte Maßnahmen abzulehnen, auch wenn das mit dem Ziel des Todes geschieht, es gibt keine Pflicht zu leben“, so Rechtsanwalt Oliver Tolmein, Hamburg. Entscheidend sei, dass die Tathoheit beim Patienten liege und dies sei bei FVNF gegeben. Ansonsten wäre es Tötung auf Verlangen, also ein Tötungsdelikt. FVNF impliziere auch nicht den Tatbestand einer Tötung durch Unterlassen, sei kein assistierter Suizid, sondern ein natürlicher Tod. „Und so sollte man auch den Totenschein ausfüllen.“

Reversible Ursachen ausschließen

Die Regulationsmechanismen der Nahrungsaufnahme verändern sich im Alter mit der Folge eines ungewollten Gewichtsverlustes. Der Geschmacks- und Geruchssinn nimmt ebenso ab wie das Hungergefühl, und das Gefühl der Sättigung wird schneller erreicht. Dazu kommen meist Medikamente, die den Appetit schmälern und somit ebenfalls zum Gewichtsverlust beitragen. „Deshalb müssen zunächst reversible Ursachen einer unzureichenden Nahrungsaufnahme ausgeschlossen werden“, betonte PD Mathias Pfisterer, Leiter der Klinik für Geriatrische Medizin am Evangelischen Krankenhaus in Darmstadt.

Ist der Patient wirklich lebenssatt?

Die Hauptursachen für einen Gewichtsverlust beim alten Menschen sind: Zahnstatus, Dysgeusie, Dysphagie, chronische Erkrankungen, Depression, Demenz, Sozialstatus und Medikamente. „Diese Faktoren müssen geprüft und korrigiert werden, bevor man die Diagnose „lebenssatt“ stellen darf“, so Pfisterer.

Bei einem „lebenssatten“ Patienten sei der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit mit der Aufgabe des Lebenswillens verknüpft. Nicht selten führe dies zu konflikthaften Situationen mit den Angehörigen oder Betreuenden, die dann den Arzt bedrängen, eine künstliche Ernährung einzuleiten. Eine einheitliche Kommunikation der Beteiligten mit den Angehörigen könne solche Entscheidungskonflikte mindern.