_ Eine mir lang bekannte Patientin rief aufgeregt in der Praxis an. Nach vielen Jahren hatte sie endlich einmal die Zeit gefunden, die Beipackzettel aller ihrer Medikamente zu studieren. Nun wollte sie von meiner Mitarbeiterin wissen, warum ich ihr ASS 100 rezeptiert hätte — obwohl sie doch täglich ein Glas Wein zu sich nehme, was laut der Packungsbeilage verboten sei!

figure 1

Dunkelroter Quell der Lebensfreude.

© Syda Productions / stock.adobe.com

Die Patientin war regelrecht aufgebracht und wollte sofort ins Sprechzimmer durchgestellt werden, um diesen Sachverhalt, den sie als klaren Fehler meinerseits sah, unverzüglich zu klären. Meine Mitarbeiterin teilte ihr freundlich, aber bestimmt mit, dass sie beim nächsten Termin mit mir darüber reden könne.

Der Tag kam, und mir war etwas mulmig, weil ich nicht genau wusste, wie ich mich aus dieser Bredouille befreien sollte. Was sollte ich der Patientin raten? Sollte sie das ASS absetzen, weil es schließlich eine relative Kontraindikation gibt? Oder sollte ich ihr vorschriftsmäßig raten, ihren Alkoholgkonsum zu reduzieren? Und wie sollte ich sie davon überzeugen, dass die weitere Therapieentscheidung nicht von mir, sondern von ihr abhinge?

Am Ende war alles ganz einfach: Nach meiner kurzen Einleitung zum Thema Alkohol und Medikamente kam die Patientin zu einer klaren Entscheidung: Sie wäre nicht bereit, eine Lebensstiländerung vorzunehmen, solange ihr Ehemann noch lebte. Diesen gemeinsamen Genuss wolle sie sich einfach nicht nehmen lassen. Aber auf das ASS würde sie auch nicht verzichten wollen — da komme, was wolle.