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_ In der Diskussion um die Gewaltbereitschaft psychisch Kranker wird ein Aspekt oft wenig berücksichtigt: Solche Menschen sind weitaus häufiger Gewaltopfer als -täter, sagte Prof. Tilman Steinert von der psychiatrischen Klinik in Weissenau. Er verwies etwa auf eine britische Studie bei über 360 psychisch schwer kranken Patienten. Von ihnen war ein Viertel in den vergangenen zwölf Monaten Opfer von Gewalt geworden, 10% der Frauen berichteten über sexuelle Übergriffe. Solche Gewalttaten trafen psychisch Kranke etwa fünffach häufiger als dies in der Allgemeinbevölkerung der Fall ist. Psychisch kranke Frauen sind im Vergleich zu nicht erkrankten Frauen sogar einem sechs- bis siebenfach höheren Risiko ausgesetzt, Opfer von Gewalt zu werden. Zu ähnlichen Resultaten kam eine australische Studie mit über 1.800 Teilnehmern: Psychosekranke Frauen wurden 6,5-fach häufiger Opfer von körperlichen und sexuellen Übergriffen, Männer 3,8-fach häufiger als nicht erkrankte Geschlechtsgenossen.

Tab. 1 Ereignisse innerhalb psychiatrischer Einrichtungen

Schließlich deutet eine US-Untersuchung bei 142 Patienten darauf, dass die Gewalt auch in der Psychiatrie nicht endet: 65% der Befragten waren bei der Klinikeinweisung in Handschellen in einem Polizeifahrzeug transportiert worden, ein Viertel hatte Medikamente gegen ihren Willen bekommen, ebenso viele mussten körperliche Angriffe durch Mitpatienten erdulden, 18% nannten auch sexuelle Übergriffe.

Die Hälfte der Frauen berichtet von Vergewaltigungen

Nicht viel besser ist die Situation in Deutschland, wie Steinert anhand einer eigenen Studie deutlich machte. Darin wurden 170 Patienten in Wiedereingliederungsmaßnahmen befragt — die Hälfte Frauen. Ein Großteil hatte eine psychotische Erkrankung, im Schnitt waren die Patienten bereits elfmal in einer psychiatrischen Klinik gewesen. Die Erhebung erfolgte anonym anhand eines umfangreichen Fragenbogens und ohne persönliches Gespräch.

Wie sich zeigte, war im privaten Umfeld 70% der Patienten schon einmal Gewalt angedroht worden, bei 37% wurde der Drohung mit einer Waffe Geltung verschafft. 51% hatten tatsächlich Gewalt erlebt, 41% um ihr Leben gefürchtet. Die Hälfte der Frauen berichtete von Vergewaltigungen.

Auch in der Psychiatrie scheint es Patienten in Deutschland nicht besser zu ergehen als in den USA: 56% beklagten eine Einweisung und 29% eine Medikation gegen den eigenen Willen, 38% nannten Fixierungen, 51% hatten schon mal Angst vor Mitpatienten, 17% erwähnten körperliche Angriffe und 21% sexuelle Annäherungsversuche. 11% berichteten von körperlichen Angriffen durch das Psychiatriepersonal, 7% von sexuellen Übergriffen durch Mitpatienten, 4% auch durch das Klinikpersonal. Letztere, so Steinert, hatten besonders dramatische Folgen für die Betroffenen: Mehr als alle anderen negativen Erlebnisse blieben diese im Gedächtnis haften und gingen mit einem Gefühl von Demütigung, Hilflosigkeit und Angst einher.

Der Psychiater geht davon aus, dass negative Erlebnisse in der Psychiatrie, etwa durch Zwangsmaßnahmen, die Viktimisierung der Patienten noch verstärken und sich ungünstig auf den Therapieerfolg auswirken. „Es gibt Patienten, die können uns nur noch als Täter sehen. Hier wird der Umgang ganz schwierig.“