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Prof. Dr. med. H. S. Füeßl Privatpraxis für Integrative Innere Medizin, München

_ Eine 29-jährige, bisher immer gesunde Medizinstudentin wurde wegen eines „Nervenzusammenbruchs“ in die Nothilfe der Freiburger Universitätsklinik gebracht. Bei der Aufnahme war sie agitiert und kooperierte nicht, was Anamnese und körperliche Untersuchung erschwerte.

Seit einem heftigen Streit mit ihrem Freund einige Stunden zuvor fühlte sie sich „hysterisch“. Sie klagte über Unwohlsein, Kribbeln und ein leichtes Taubheitsgefühl in beiden Händen und Füßen, welches sich allmählich entwickelt habe. Schmerzen hatte sie nicht. Die Anamnese bezüglich psychischer Erkrankungen war ebenso unauffällig wie die orientierende neurologische Untersuchung und ein EKG. Blutdruck und periphere Sauerstoffsättigung ließen sich nicht messen, was man initial auf den Unruhezustand zurückführte.

Zur Behandlung der Hyperventilation mit 30 Atemzügen/min ließ man die Patientin in einem Plastikbeutel rückatmen. Außerdem wurden 2 mg Lorazepam sublingual verabreicht und der Psychiater wegen des Verdachts auf eine Panikattacke mit Hyperventilation hinzugezogen.

Zweifel an psychiatrischer Genese

Eine leichte Lippenzyanose, Gesichtsblässe und marmorierte Hände ließen aber Zweifel an der psychiatrischen Genese der Symptomatik aufkommen. Auch die venöse Blutgasanalyse mit einem pH-Wert von 7,23, einem normalen Wert für das ionisierte Kalzium und einem erhöhten Laktatwert von 6,4 mmol/l passten nicht zur Verdachtsdiagnose.

Eine neue körperliche Untersuchung unter ruhigeren Bedingungen ergab fehlende Pulse an allen vier Extremitäten. Tatsächlich konnte der Puls nur an der linken A. carotis palpiert werden. Weiterhin bestand ein 2/6-Diastolikum. Eine transthorakale Echokardiografie ergab eine zweitgradige Aorteninsuffizienz als Folge eines Aneurysmas der Aorta ascendens, die einen Durchmesser von 52 mm aufwies. Das CT des Thorax ergab eine Aortendissektion vom Stanford-Typ A, welche sich von der Klappenebene bis in die Höhe beider Aa. iliacae erstreckte. Beide Aa. subclaviae waren durch Thromben verschlossen.

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A1, 2: CT der Aortendissektion mit Trennwänden in der Aorta ascendens (rote Pfeile) und descendens (schwarze Pfeile). B: Ersatz des Aortenbogens und der supraaortischen Äste; die Trennwand zieht sich bis in die rechte Karotis (roter Pfeil).

© Emerg Med. 2015;49:627–29

Die Patientin erhielt in einer Notfall-OP einen Ersatz des Aortenbogens unter Aussparung der Aortenklappe. 19 Tage nach der Aufnahme wurde sie beschwerdefrei entlassen. Auch ihre Mutter hatte im Alter von 40 Jahren eine Aortendissektion erlitten.

Die histologische Untersuchung der Aorta ergab eine zystische Mediadegeneration Erdheim-Gsell. Eine genetische Untersuchung, insbesondere auf das Vorliegen eines Marfan- oder Loeys-Dietz-Syndroms wurde von der Patientin abgelehnt. Klinische Hinweise auf diese Syndrome bestanden nicht.

KOMMENTAR

Wir neigen alle dazu, in der langen Kette von Arzt-Patienten-Begegnungen das Häufige zu erwarten. Wenn einzelne Beobachtungen (hier z. B. die Unmöglichkeit, Blutdruck zu messen) nicht in unsere Erwartung passen, suchen wir zunächst Zuflucht in simplen Erklärungen wie mangelnde Kooperation, technische Probleme usw. Erst die Wahrnehmung subtiler Veränderungen, nämlich der Lippenzyanose, weckte hier den diagnostischen Impetus. Die Ergebnisse der Blutgasanalyse brachten das diagnostische Rad in Schwung. Unklar bleibt, ob die Aortendissektion tatsächlich den Erregungszustand hervorrief – oder ob vielleicht die Erregung die Dissektion der risikobelasteten Aorta provozierte. Spektakuläre Fälle wie dieser erhöhen stets die eigene Wachsamkeit – bis man nach vielen Patienten mit ähnlichen Symptomen wieder in den Trott zurückfällt.