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Prof. Dr. med. Wulf Dietrich

_ Der Umfang der medizinischen Versorgung für Asylsuchende, Geduldete und Menschen ohne Aufenthaltsstatus wird im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) festgelegt. §§ 4 und 6 AsylbLG bestimmt, dass sich die Versorgung auf akute oder schmerzhafte Erkrankungen, Vorsorge und Impfungen, Leistungen in Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt sowie sonstige Leistungen, die zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind, beschränken soll.

Das AsylbLG umfasst damit — anders als häufig proklamiert — nicht nur die Notfallversorgung. Tatsächlich sind in Bremen und Hamburg Verträge mit Krankenkassen geschlossen worden, die sich mit wenigen Ausnahmen am GKV-Leistungskatalog orientieren. Andererseits stiften die unklaren Formulierungen des Gesetzes landauf, landab Verwirrung. Willkürliche Auslegungen mit teils gravierenden gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen sind gängige Praxis.

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Flüchtling mit Kind auf dem Weg nach Deutschland (am 5. Oktober 2015 in Ungarn).

© RadekProcyk / iStock

Sowieso ist die Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Erkrankungen medizinisch nicht sinnvoll und in der Praxis nicht möglich. Ein Abwarten, bis ein Diabetes in einer hyperglykämen Krise gipfelt und in die Rettungsstellen führt, ist weder mit der ärztlichen Ethik vereinbar noch ökonomisch sinnvoll.

Behandlung auch ohne Krankenschein

Ärzte sollten Asylsuchende bei dringenden medizinischen Anliegen immer behandeln — auch ohne Krankenschein. Dieser kann bei Notfällen auch im Nachhinein beantragt und abgerechnet werden. Asylsuchende, die mit Krankenschein oder Krankenversicherungskarte in die Sprechstunde kommen, sollten entsprechend dem hippokratischen Eid ohne Ansehen der Person wie alle anderen Patienten bedarfsgerecht behandelt werden. Die Kosten sollten dann vom Sozialamt oder der Kommune eingefordert werden. Am sinnvollsten wäre es, das Bremer und Hamburger Versorgungsmodell bundesweit einzuführen.

Chronische Krankheiten dürfen nicht unversorgt bleiben

Beschränkungen der Behandlung sind weder mit Art. 2 Abs. 2 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) noch mit der Europäischen Sozialcharta (Art. 11) vereinbar. Ebenso verstößt die aktuelle Regelung — die Genehmigung und die Ausgabe eines Krankenscheins durch die Sozialbehörde — gegen Art. 12 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte, gemäß dem die Vertragsstaaten „das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ anerkennen. Auch das Bundesverfassungsgericht urteilte am 18. Juli 2012: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“

Die Ablehnung einer angemessenen medizinischen Versorgung von Asylsuchenden aus Angst vor mehr Asylanträgen erscheint verfassungswidrig. Zudem ist diese Annahme wissenschaftlich nicht haltbar und wird in der politischen Debatte zynisch missbraucht. Flucht und Migration sind durch Krieg und Not bedingt, nicht durch den Wunsch nach besserer medizinischer Versorgung.

Unterstützenswert ist deshalb die Möglichkeit, Asylsuchende über eine Versichertenkarte quasi wie Regelversicherte zu versorgen, wie sie auch das Mitte Oktober im Bundesrat verabschiedete Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz fördert. Das Recht auf gute medizinische Versorgung gilt bedingungslos — und es ist die ärztliche Pflicht, jedem Patienten unabhängig von seinem Status die notwendige Versorgung zukommen zu lassen.