_ Vor Jahren wurde ich im ärztlichen Notdienst von einer besorgten Mutter zu ihrer 30-jährigen Tochter gerufen, die so depressiv war, dass sie seit Tagen ihr Bett nicht mehr verlassen hatte. Die junge Frau hatte verheulte Augen und sprach nur sehr zaghaft und stockend. Trotz ihrem verheulten Gesicht sah man auf den ersten Blick, dass es sich um eine gut aussehende junge Frau mit schönem Gesicht und schlankem wohlgeformten Körper handelte. Genau dieses Aussehen aber war ihr Problem, wie sie mir mitteilte.

Ich mutmaßte zuerst, dass die Patientin eine Dysmorphophobie haben könnte, dann erklärte sie aber Folgendes: Als sie 20 Jahre alt war, sei sie wunderschön gewesen. Viele Männer hätten sie umschwärmt, darunter auch Millionäre und betuchte Playboys. Sie sei auf den wunderbarsten und teuersten Partys auf Ibiza, Mallorca, in Nizza und Monte Carlo dabei gewesen, habe in den besten Hotels gewohnt und in den besten Restaurants gegessen.

Oft sei sie Freitag nachmittags in einen Privatjet nach Ibiza gestiegen und sei amSonntagabend mit dem Taxi vom Flugplatz nach Hause gebracht worden.

Alles auf Einladung. So ging das mehrere Jahre. Mit 27/28 Jahren seien die Einladungen aber erheblich weniger geworden und seit zwei Jahren würden sie vollständig ausbleiben. Sie sei vom Jetset „abgeschrieben“.

Sie zeigte mir auch Fotos von damals und ich musste eingestehen: Wenngleich sie auch heute noch sehr apart war, früher war sie wunderschön. Ganz vereinzelt hatte sie jetzt auch schon ein graues Haar.

Mir war klar, dass eine nachhaltige Therapie auf die Schnelle nicht möglich war, bot ihr deshalb eine Krankenhauseinweisung als Möglichkeit an, was die junge Patientin aber rigoros ablehnte. Ich bot ihr daraufhin einen Psychotherapieplatz bei mir an und ließ meine Visitenkarte zurück. Ich habe aber nie mehr von ihr gehört.