_ An einem Sonntagvormittag rief eine mir gut bekannte Frau aus der Nachbarschaft an: Ihre Tochter fühle sich nicht wohl, klage über Halsschmerzen — und am übernächsten Tag stünde zu allem Überfluss noch eine schriftliche Abiturprüfung an. Um die gestressten Damen möglichst zu schonen, verwies ich sie nicht an den ärztlichen Bereitschaftsdienst, sondern versprach vorbeizukommen.

Angesichts der sehr vitalen jungen Dame, die mich erwartete, war ich erleichtert — einerseits, weil kein behandlungsbedürftiger medizinischer Notfall vorlag, andererseits, weil die Teilnahme an der bevorstehenden Prüfung somit auch nicht gefährdet schien. Ich beruhigte Mutter und Tochter, erklärte, der leicht gerötete Rachenring wiese auf einen Virusinfekt hin, den man nicht gezielt behandeln, wohl aber beeinflussen könne. Ich empfahl, den Tag in Ruhe zu Hause zu verbringen, heißen Tee mit Honig zu trinken, das bewährteste homöopathische Mittel aus der gut bestückten Hausapotheke einzunehmen und bei weiter bestehendem Krankheitsgefühl am Montag den Hausarzt aufzusuchen.

Ich staunte nicht schlecht, als die Mutter mir am Montagabend vorwurfsvoll mitteilte, man habe den ganzen Vormittag mit der Suche nach Ersatz für den abwesenden Hausarzt verbringen müssen. Auch habe die Tochter ein Antibiotikum verschrieben bekommen, was ich ja für unnötig gehalten hätte. Mit gelindem ±rger und dem Vorsatz, mich künftig derartiger Nachbarschaftshilfe zu enthalten, war der Vorfall für mich erledigt.

Einige Wochen später — nach bestandenem Abitur — gestand mir die Mutter, ihre Tochter hätte als „naturwissenschaftlich gebildet“ meine Hausmittel von vornherein als unprofessionell abgelehnt. Auch habe man mehrere Niedergelassene aufsuchen müssen, bis endlich einer die Halsschmerzen widerwillig antibiotisch abdecken wollte. Die Tochter habe auch sehr rasch mögliche Nebenwirkungen vom Beipackzettel an sich entdeckt und die Medikation nach wenigen Tabletten abgebrochen — folgenlos, denn nach der Prüfung ging es ihr überraschenderweise sowieso wieder gut.

Da dämmerte mir, dass meine Sorgen um eine „gute“ Medizin vielleicht der geringste Teil des Problems sein könnten!