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Folge 73

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© A. Klementiev/Fotolia

_ Während einer Famulatur in der chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses einer Kleinstadt war ich zu Hilfsdiensten im OP eingeteilt. Ein etwa 80-jähriger Patient hatte sich eine HWK-4-Fraktur zugezogen und sollte eine Extensionsbehandlung der HWS bekommen. Ursprünglich war geplant, diese Extension mittels einer Manschette unter dem Kinn durchzuführen. Ein junger Assistenzarzt schlug jedoch vor, die Extension mithilfe einer Crutchfield-Zange vorzunehmen, da dies für den Patienten viel weniger belastend sei.

Nach längerer Suche im „Metallwarenlager“ des OP fand sich ein derartiges Gerät, an dessen Einsatz sich keiner der Anwesenden mehr erinnern konnte. An der Innenseite der langen Bügel dieser Zange fanden sich zwei kurze Nippel aus Metall im Durchmesser von etwa 0,5 cm, die in kleinen Bohrlöchern an der seitlichen Kalotte stecken sollten. Auf diese Weise hätte der Patient unbehelligt von Manschetten im Kinnbereich problemlos essen und trinken können.

Nach einer kleinen Rasur oberhalb der Ohren beidseits und einer Hautinzision griff der Chefarzt zum Druckluftbohrer, um die Tabula externa der Schädelkalotte anzubohren. Auf der rechten Seite griff der Bohrer nicht gleich, der Chef wandte etwas mehr Druck an, der Knochen gab nach und plötzlich fuhr der Bohrer etwa 6–8 cm tief ins Gehirn. Als der Chef den Bohrer zurückzog, zeigte sich für den Kenner eindeutig graue und weiße Substanz am Bohrer. Beim Zurückziehen des Bohrers war in der Runde betretenes Schweigen und man sah sich viel sagend an. Gesprochen wurde aber nichts. Beim Bohren des Lochs auf der Gegenseite wurde vorher ein Sicherheitsring am Bohrer befestigt, der nach einem halben Zentimeter Widerstand geboten hätte. Hier lief alles problemlos.

Zum allgemeinen Erstaunen hatte der Patient weder irgendwelche neurologischen Ausfälle noch traten sonst Komplikationen auf. Die Extensionshandlung mit der Crutchfield-Zange war erfolgreich.