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Folge 66

Ärztliche Erfahrung beschränkt sich nicht auf medizinisches Fachwissen. Sie entsteht auch aus den mehr oder minder alltäglichen, heiter, ärgerlich oder nachdenklich stimmenden Erlebnissen mit Patienten, Kollegen und Mitarbeitern. Senden Sie uns Ihre Geschichte an: Brigitte.Moreano@springer.com. Für jeden veröffentlichten Text erhalten Sie bis zu 100 Euro.

© A. Klementiev/Fotolia

_ Vor meiner Niederlassung als Lungenfacharzt hospitierte ich eine Zeit lang bei einem erfahrenen Kollegen in dessen großer, gut organisierter Lungenfachpraxis. Um mich dem Praxisinhaber für seine Informationen und für den damit verbundenen Zeitaufwand erkenntlich zu zeigen, aber auch um eigene Erfahrungen in der Gestaltung eines möglichst optimalen Praxisablaufs zu sammeln, beteiligte ich mich auch an der Sprechstunde und übernahm vertretungsweise den einen oder anderen Patienten.

An einem dieser Tage mit Hochbetrieb wurden der Kollege und ich etwas verspätet mit der Vormittagssprechstunde fertig. In der Mittagspause unterbreitete ich dem Kollegen die von mir behandelten Fälle. Der Kollege wollte mir im Röntgenraum noch ein paar technische Details erklären, und er wählte zwecks Abkürzung des Weges dahin eine der Umkleidekabinen als Zugang.

Der Schreck und unsere Verlegenheit waren riesengroß, als uns eine unwirsche Stimme, die einem spärlich bekleideten, fröstelnden Mann gehörte, entgegenschallte: „Herrgott nochmal! Jetzt wird’s aber auch Zeit! Ich hab’ schon Angst bekommen, ihr hättet mich vergessen!“

Wie souverän der Kollege die Situation meisterte, habe ich auch als wichtiges Lehrstück aus dieser Praxis mitgenommen: Er gab unverhohlen zu, dass die Mitarbeiterinnen ihn wohl tatsächlich in der Kabine vergessen hätten, entschuldigte sich vielmals, führte unverzüglich die vergessene Untersuchung in Vertretung für sein Personal durch, erledigte auch gleich die Abschlussbesprechung und händigte beim Abschied dem dann vollends versöhnten Patienten eine Flasche Cognac aus seinen im Umkleideschrank angesammelten Beständen aus. Und noch vor Beginn der Nachmittagssprechstunde gab es eine kurze, sachliche Belehrung der Damen, wie eine Wiederholung dieses Vorfalls vermieden werden kann.