Eine hochwirksame MS-Therapie kann Behinderungen wirksam verhindern - vor allem bei jüngeren Patienten. Wer erst im Alter von 45 Jahren mit einer Behandlung beginnt, scheint einer Registeranalyse zufolge aber nicht stärker davon zu profitieren als von einer Basistherapie.

Immer mehr Menschen mit MS erreichen ein höheres Alter, zugleich zeigen sich auch in der MS-Population die Effekte einer alternden Bevölkerung: So bewegt sich der Peak der MS-Prävalenz langsam in die Altersgruppe der 55- bis 59-Jährigen, erläuterte Dr. Matteo Betti von der Universität Florenz, Italien. In dieser Altersgruppe ist die Wirksamkeit von krankheitsmodifizierenden Therapien (DMT) generell geringer als bei jüngeren Patientinnen und Patienten: Die entzündliche MS-Aktivität, gegen die sich die meisten DMT richten, wird schwächer, dafür nimmt die Bedeutung der entzündungsunabhängigen Progression zu.

Geringere Wirkung, aber mehr Risiken?

Betti verwies auf eine Metaanalyse von 38 randomisiert-kontrollierten Studien - sie ergab keine Vorteile hochwirksamer DMT im Vergleich zu Basistherapeutika bei der Behinderungsprogression von MS-Kranken über 40 Jahren. Beobachtungsstudien wiesen in eine ähnliche Richtung: So konnte in einer Analyse eine Behandlung mit Natalizumab oder Rituximab bei über 45-Jährigen die MS-Aktivität nicht stärker reduzieren als eine Therapie mit Dimethylfumarat oder Fingolimod. Auf der anderen Seite deuten Metaanalysen von kontrollierten Studien auf ein erhöhtes Tumorrisiko unter B- und T-Zell-depletierenden Mitteln hin, was ein ungünstigeres Nutzen-Risiko-Verhältnis solcher Medikamente bei Älteren vermuten lässt.

Auf dem Kongress der beiden MS-Gesellschaften ECTRIMS und ACTRIMS in Mailand präsentierte Betti eine weitere Analyse, und zwar von MS-Kranken in Italien, die erstmals eine DMT begannen. Auch sie spricht dafür, dass hochwirksame DMT bei über 45-Jährigen einer Basistherapie nicht überlegen sind. Die Gruppe um Betti hatte retrospektiv Angaben von über 22.000 Patientinnen und Patienten mit schubförmiger MS aus dem italienischen MS-Register ausgewertet, die entweder eine Basistherapie oder eine hochwirksame DMT erhalten hatten und mindestens zwei Jahre nachuntersucht worden waren. Zu den Basistherapien zählten Interferone, Glatirameracetat, Dimethylfumarat, Teriflunomid und Azathioprin; zu den hochwirksamen DMT gehörten Antikörper, S1P-Analoga, Cladribin sowie Mitoxantron.

Kaum Unterschiede hinsichtlich der Behinderungsprogression

Betti und Mitarbeitende wählten aus dem Pool möglichst vergleichbare MS-Kranke aus: Jeder Person mit einer hochwirksamen DMT stellten sie zwei ähnliche MS-Kranke mit Basistherapie gegenüber, wobei sie auf gleiches Alter, Geschlecht, Krankheitsdauer sowie weitere Krankheitscharakteristika achteten (propensity score matching). Letztlich verglichen sie den Verlauf von rund 1.780 MS-Kranken mit hochwirksamen DMT und 3.480 mit Basistherapeutika. Primärer Endpunkt war die Differenz beim Anteil der MS-Kranken mit einer mindestens sechs Monate anhaltenden Behinderungsprogression.

Im Schnitt waren die MS-Kranken zu Beginn der DMT 35 Jahre alt, seit rund vier Jahren erkrankt und hatten einen EDSS-Wert von 2,5 sowie im Schnitt 1,2 Schübe im Jahr vor Beginn einer DMT. Nach zwei Jahren unter hochwirksamen DMT hatten 12,5 % eine Behinderungsprogression entwickelt, mit den Basistherapeutika waren es 14,9 % - ein signifikanter Unterschied. Eine Cox-Regressionsanalyse kam über die gesamten zwei Jahre hinweg auf ein um 47 % reduziertes Risiko für eine Behinderungsprogression unter hochwirksamen DMT. Besonders ausgeprägt war der Vorteil der hochwirksamen DMT - wie erwartet - bei Personen bis 45 Jahren.

Ein anderes Bild ergab sich unter den 1.055 MS-Kranken mit Beginn einer DMT im Alter von über 45 Jahren: Mit hochwirksamen DMT hatten im Laufe von zwei Jahren 20,6 % eine Behinderungsprogression entwickelt, mit Basistherapeutika waren es 20,7 %. Die Cox-Regressionsanalyse deutete zwar auch in dieser Altersgruppe auf ein um ein Viertel geringeres Risiko mit den hochwirksamen Therapien, doch selbst diese Differenz war statistisch nicht signifikant.

Ließen die Neurologinnen und Neurologen um Betti die Regressionsanalyse nicht nur über zwei Jahre, sondern über die gesamte mittlere Nachbeobachtungsdauer von zehn Jahren laufen, dann war das Risiko für eine anhaltende Behinderungsprogression unter MS-Kranken bis 45 Jahren mit hochwirksamen Therapien um 31 % reduziert - ein signifikanter Unterschied. Dagegen lag das Risiko unter Betroffenen über 45 Jahren mit hochwirksamen DMT um nicht signifikante 1 % höher als unter einer Basistherapie.

Alter darf nicht das einzige Kriterium sein

Betti geht jedoch davon aus, dass einige ältere Menschen, etwa solche mit hoher inflammatorischer MS-Aktivität, ebenfalls noch in besonderem Maße von hochwirksamen Mitteln profitieren. Man dürfe die Therapieentscheidung daher nicht allein am Alter festmachen.

Ein Manko vieler solcher Analysen ist zudem, dass Angaben aus unterschiedlichen Therapieepochen einfließen. Heute wird in der Regel früher behandelt und früher eskaliert als noch vor zehn Jahren. Möglicherweise fahren auch über 45-Jährige mit hochwirksamen DMT besser, sofern sie nach der MS-Diagnose nicht vier Jahre auf eine Therapie warten müssen, wie es in dieser Analyse der Fall war.

MSMilan2023: Gemeinsamer Kongress des Americas Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ACTRIMS) und des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS). Mailand, 11.-13.10.2023. Scientific Session 5: „Efficacy of different treatment algorithms for MS“