Eine merkwürdige Stimmung legt sich über das Land. Nicht nur in Universitätskliniken werden Beatmungsgeräte und Schutzkittel gezählt, auch kleinere Krankenhäuser und Arztpraxen erleben das Ansteigen eines Bedrohungsgefühls. Die Ausbildung von Medizinstudenten am Krankenbett und die Weiterbildungsveranstaltungen werden abgesagt. Eine Reduktion von Besuchen im Krankenhaus wird empfohlen. Wer als Patient nicht muss, sucht keine Arztpraxis auf.

Hyperactive Agency Detection Device

Die Anthropologie nimmt an, dass ein menschliches Spezifikum ein Hyperactive Agency Detection Device (HAAD) ist. Dieses kognitive Detektionssystem lenkt unsere Aufmerksamkeit immer auf gravierende Ereignisse. Diesen versuchen wir einen Auslöser zuzuschreiben, um die Ursache zukünftig vermeiden, beherrschen oder bekämpfen zu können. Frühe kulturelle Erfolge dieses HAAD sind zum Beispiel Religionsvorschriften zum Umgang mit Verstorbenen (Beerdigung innerhalb von 24 Stunden, Verbrennen von Toten), die zur Reduktion von Infektionen und Mortalität beitrugen, ohne dass eine wissenschaftliche Vorstellung von Bakterien und Viren existierte.

Andererseits findet man aber auch sinnlose bis widersinnige Riten und Praktiken. So wurde die Pest durch Aderlässe eher verschlimmert als geheilt. Noch heute unternehmen Menschen umfangreiche Pilgerreisen zu religiösen Stätten in Risikogebiete, um mit tausenden anderen Pilgern Steine als Schutz vor Krankheit oder zur Heilung zu küssen.

Das HAAD ist auch schuld daran, dass aufgrund des Kausalitätsbedürfnisses für Pestausbrüche oft ganze Menschengruppen zu Unrecht als Verursacher angegriffen wurden. Im Bereich der Psychiatrie kann man diesen Gedankengang gut weiterspinnen. Eine Paranoia könnte dann als ein pathologisch überaktives HAAD beschrieben werden. Zwei aktuelle Beispiele internetgängiger Verschwörungstheorien passen dazu: das Coronavirus ist ein von Bill Gates patentiertes Produkt und die Funkstrahlen der neuen 5G-Mobilfunknetze sind am Ausbruch schuld. Klar, Wuhan ist technisch tatsächlich im Mobilfunk sehr gut ausgerüstet - deutsche Funklöcher sind dann wohl die letzten Schutzzonen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wies schon zu Beginn der Pandemie auf die Gefahr entsprechender Falschmeldungen hin. Aber ist er nicht auch ein Vertreter von Digitalisierung und schnellen Übertragungsnetzen? Der paranoide Modus des HAAD hat auch ansteckenden Charakter.

Auch die Psychologie spielt eine große Rolle

Der augenblickliche Stand unserer Wissenschaft erlaubt es zum Glück, überaktive HAAD in Grenzen zu halten. Jetzt ist die Resilienz des Gesundheitssystems gefragt, um die es besser bestellt wäre, wenn Krankenhäuser und Arztpraxen nicht schon zu Normalzeiten oft an die Kapazitätsgrenzen stoßen würden. Aber auch die Psychologie spielt eine große Rolle. Von der Ebola-Epidemie in Afrika ist bekannt, dass die Darstellung des Ebolavirus in Schlangenform auf Plakaten über stark verwurzelte Assoziationen in Teilen der Bevölkerung eine Panikreaktion auslöste, die zur Flucht mit Erkrankten in vollgestopften Fahrzeugen führte. Auch die Sitte, Verstorbene nach deren Tod zu umarmen, hat die Ebola-Epidemie verstärkt.

Ebola wurde unter schwierigen Umständen eingedämmt und die Epidemie wurde beendet. Nachfolgend gab es vermehrt schwere depressive Erkrankungen und posttraumatische Störungen in den betroffenen Ländern. Verschiedene Organisationen stellten die Forderung, die nationalen Gesundheitssysteme resilienter zu machen.

Es wird interessant, ob sich nach Corona etwas ändern wird. Händeschütteln sollten wir auf jeden Fall weiter vermeiden.

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Prof. Dr. med. Michael Hüll

Klinik für Geronto- und Neuropsychiatrie Emmendingen

E-Mail: m.huell@zfp-emmendingen.de