Die meisten Neurologen werden sich an Situationen erinnern, in denen sie von Kollegen anderer Fachrichtungen dafür bemitleidet wurden, sich für ein überwiegend diagnostisches Fach mit wenigen therapeutischen Möglichkeiten entschieden zu haben. Die Zeiten haben sich inzwischen gravierend geändert. Die Neurologie ist längst zu einem therapeutischen Fach geworden. Und wer daran immer noch zweifeln sollte, sei auf die Zulassungsstatistik der US-amerikanischen FDA für 2019 verwiesen. Das Jahr 2019 entwickelte sich zum Ende fast unbemerkt zum absoluten Rekordjahr bei den Zulassungen für neurologische Indikationen. Dabei handelt es sich keineswegs nur um Modifikationen bekannter Moleküle oder Erweiterungen bereits vorhandener Indikationen. Nein, knapp die Hälfte aller Neuzulassungen sind First-in-Class-Medikamente - mit anderen Worten, komplett neue Therapieansätze, die gezielt und hochspezifisch auf Basis pathophysiologischer Mechanismen für eine Zielindikation entwickelt wurden.

First-in-Class-Medikamente

  1. Zolgensma: erste wirksame Gentherapie in der Neurologie überhaupt gegen spinale Muskelatrophie vom Typ 1

  2. Golodirsen: erste wirksame Antisense-Therapie gegen die Duchenne-Muskeldystrophie (Exon-53-Skipping)

  3. Lasmiditan: erster 5-HT1F-Agonist (erstes Ditan) zur Akutbehandlung der Migräne

  4. Ubrogepant: erster CGRP-Rezeptorantagonist (erstes Gepant) zur Akutbehandlung der Migräne

  5. Galcanezumab: erster monoklonaler Antikörper gegen CGRP zur Prophylaxe des episodischen Clusterkopfschmerzes

  6. Lemborexant: erster kombinierter Orexin-/Hypokretin-Rezeptorantagonist gegen Insomnie

Weitere Zulassungen

  1. Solriamfetol: selektiver Noradrenalin-/Dopamin-Wiederaufnahmehemmer gegen Tagesschläfrigkeit bei Narkolepsie

  2. Eculizumab: monoklonaler Antikörper gegen das C5-Protein des Komplementsystems zur Therapie der AQP-4-Ak-positiven Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen

  3. Pitolisant: H3-Antihistaminikum zur Narkolepsietherapie

  4. Istradefylline: A2A-Adenosinrezeptorantagonist zur Behandlung von Dyskinesien bei Morbus Parkinson

  5. Siponimod: selektiver S1P1-Modulator zur Behandlung der sekundär chronisch-progredienten Multiplen Sklerose

  6. Diroximelfumarat: eine besser verträgliche Variante des Dimethylfumarats gegen schubförmige remittierende Multiple Sklerose (RRMS) und klinisch isoliertes Syndrom (CIS)

  7. Cenobamat: kombinierter atypischer Natriumkanalblocker/präsynaptischer GABA-Freisetzungsmodulator zur Therapie fokaler Anfälle

  8. Midazolam-Nasenspray: Darreichungsvariante zur Therapie akuter Anfälle

Was bedeuten all diese Neuerungen nun für den klinisch tätigen Neurologen? Zunächst natürlich, dass sie oder er sich mit diversen neuen Substanzen und Therapieprinzipien vertraut machen muss, auch wenn er mit hoher Wahrscheinlichkeit persönlich keine Genetherapie vornehmen wird. Aber er wird sich mit den Indikationen und den therapeutischen Algorithmen beschäftigen müssen, die in den nächsten Jahren immer komplexer werden. Aber nicht nur die therapeutischen Algorithmen werden eine Herausforderung sein, auch diagnostisch stehen wir vor einer Revolution. Wenn, wie bei der Duchenne-Muskeldystrophie, auch nur ein kleiner Teil der Patienten (derzeit nur mit nachgewiesenem Exon-53-Skipping) in den Genuss der Therapie kommen kann, wird auch die Indikation zur genetischen Diagnostik eine wesentlich prominentere Rolle im Alltag spielen. Ergo, regelmäßige Fortbildungen werden aus ethischen aber auch juristischen Gründen - sofern nicht schon geschehen - ein fester und noch wichtigerer Bestandteil des Berufslebens werden (müssen).

Wird 2019 eine Ausnahme bleiben? In diesem Umfang vielleicht, aber das Rad wird sich weiter und wahrscheinlich immer schneller drehen. Vor der Tür stehen monoklonale Antikörper gegen Amyloid zur Therapie des Morbus Alzheimer oder gegen α-Synuclein zur Behandlung des Morbus Parkinson, Antisense-Oligonukleotide zur Therapie des Morbus Huntington und vieles mehr. Und was werden die Autoren dieses Editorials am Ende dieses Jahrzehnts, also 2030, schreiben? Wahrscheinlich werden sie von therapeutischen Optionen berichten, die wir heute noch für unmöglich halten. Aber etwas deutet sich bereits an: Wenn die Entwicklung derart rasant weitergeht, wird es den General-Neurologen kaum noch geben können. Vielmehr wird es der Neurologie wahrscheinlich so ergehen wie der Inneren Medizin vor 30 Jahren: eine zunehmende Subspezialisierung mit neuen Gebietsbezeichnungen. Vielleicht werden die Kollegen dann die neuen Gebietszuschnitte und Fachärzte in der Neurologie besprechen: vaskuläre Neurologie, neurodegenerative Erkrankungen, Neuroimmunologie, periphere neurologische Erkrankungen?

Wie auch immer, eins ist sicher: in den nächsten Jahren wird es nicht langweilig in der Neurologie.