Fragestellung: Sind selektive Tyrosinkinaseinhibitoren (TKI) wie Evobrutinib potenziell wirksam in der Therapie der schubförmigen Multiplen Sklerose (MS)?

Hintergrund: Tyrosinkinasen sind Enzyme, die zu den Proteinkinasen gehören und die reversible Übertragung einer Phosphatgruppe (Phosphorylierung) auf die Hydroxygruppe der Aminosäure Tyrosin eines anderen Proteins vornehmen. Inhibitoren dieser Enzyme sind inzwischen etablierte Substanzen für die Malignombehandlung. In den letzten Jahren konnte jedoch von mehreren Arbeitsgruppen gezeigt werden, dass Tyrosinkinasen auch eine wesentliche Rolle bei der Aktivierung von B-Zellen spielen. TKI wie Evobrutinib, die selektiv wirken, unterdrücken die Aktivierung von B-Zellen in vitro und in vivo. Es lag daher nahe, einen selektiven TKI zur Behandlung der schubförmigen MS zu untersuchen. Diese Phase-II-Studie untersuchte erstmals die Wirkung eines selektiven TKI in der Therapie der MS.

Patienten und Methodik: In diese Phase-II-Studie wurden Patienten mit schubförmiger MS oder sekundär chronisch-progredienter MS mit noch nachweisbaren Schüben im Alter von 18 bis 65 Jahren eingeschlossen, sofern der EDSS nicht über 6,0 lag. Das Design war doppelblind, mit Randomisierung in fünf Arme (Placebo, Evobrutinib 25 mg/Tag, Evobrutinib 75 mg/Tag, Evobrutinib zweimal 75 mg/Tag oder Dimethylfumarat [DMF]). Der primäre Endpunkt war die kumulative Zahl Gadolinium-aufnehmender Herde in T1-gewichteten MRTs in den Wochen 12, 16, 20 und 24. Sekundäre Endpunkte umfassten die jährliche Schubrate und die Änderung des EDSS von der Baseline bis zu verschiedenen Kontrollzeitpunkten.

Ergebnisse: Insgesamt wurden 267 Patienten eingeschlossen und randomisiert auf die verschiedenen Gruppen verteilt. Die mittlere (±SD) kumulative Zahl der Gadolinium-anreichernden Läsionen zwischen den Wochen 12 bis 24 war 3,85±5,44 in der Placebogruppe, 4,06±8,02 in der Evobrutinib-25-mg-Gruppe, 1,69±4,69 unter Evobrutinib 75 mg, 1,15±3,70 unter Evobrutinib zweimal 75 mg/Tag und 4,78±22,05 in der DMF-Gruppe. Die nicht adjustierte jährliche Schubrate in Woche 24 war 0,37 in der Placebogruppe, 0,57 unter Evobrutinib 25 mg, 0,13 unter Evobrutinib 75 mg, 0,08 unter Evobrutinib zweimal 75 mg/Tag und 0,20 in der DMF-Gruppe. Signifikante Unterschiede in der Entwicklung des EDSS ergaben sich im Untersuchungszeitraum nicht. Die Therapie war gut verträglich. Wichtigste Sicherheitssignale waren Transaminasenerhöhungen unter Evobrutinib.

Schlussfolgerungen: Evobrutinib reduziert dosisabhängig signifikant Gadolinium-anreichernde Läsionen bei MS-Patienten innerhalb von 24 Wochen.

Kommentar von Volker Limmroth, Köln

Die Erfolgsstory der MS-Behandlung geht weiter

Die Studie ist zurecht hochrangig publiziert und stellt eine Trendwende in der Entwicklung von Substanzen für die Therapie der MS dar: weg von Substanzen, die mehr oder weniger selektiv einen immunologischen Mechanismus beeinflussen, hin zur gezielten hypothesengesteuerten Beeinflussung nachgewiesener und gut verstandener Mechanismen, die nicht primär immunologisch sein müssen. Erst kürzlich wurde gezeigt, dass die Aktivierung von B-Zellen, insbesondere auch B-Memory-Zellen, ein tyrosinkinaseabhängiger Mechanismus ist. Es ist ein damit ein hochspezifischer Schlüsselmechanismus in der bei der MS so charakteristischen B-Zell-T-Zell-Interaktion.

Mit diesem selektiven TKI steht nun das erste Medikament für die MS-Therapie zur Verfügung, das hochspezifisch in die Interaktion von B- und T-Zellen eingreift, ohne eine der beiden Zellgruppen dauerhaft zu depletieren. Das könnte insofern von Bedeutung sein, als bis heute nicht klar ist, welche langfristigen Effekte eine möglicherweise jahrzehntelange B-Zell-Depletion haben könnte. Klinisch sind die Effekte von Evobrutinib ziemlich eindeutig und zeigen eine hochsignifikante dosisabhängige Reduktion der MRT-Läsionen. Auch die Reduktion der Schubrate zeigt einen klaren Trend, auch wenn diese bei der benutzten konservativen Statistik nicht signifikant war. Hierfür war die Studie offensichtlich nicht ausreichend gepowert. Aber nur zur Erinnerung sei hier noch erwähnt, dass dieser Trend bereits nach 24 Wochen sichtbar wird und einige der etablierten Substanzen erst nach zwei Jahren milde klinische Unterschiede zu Placebo zeigen. Zusammenfassend: Mit der „einfachen“ B-Zell-Depletion ist die Entwicklung von Therapeutika zur Behandlung der MS noch lange nicht am Ende angekommen. Die Erfolgsstory der Behandlung der MS geht weiter — mit immer spezifischer wirkenden Substanzen.

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Prof. Dr. med. Volker Limmroth, Köln-Merheim