Fragestellung: Welchen langfristigen Einfluss hat die Erstbehandlungsstrategie der Multiplen Sklerose (MS)?

Hintergrund: Es besteht Unsicherheit darüber, wie aggressiv die MS in der Frühphase zu behandeln ist. Hochwirksame krankheitsmodifizierende Therapien (DMT) sind oft Patienten mit schlechter Prognose zu Krankheitsbeginn vorbehalten.

Patienten und Methodik: Die Kohortenstudie analysierte die Daten von 592 Patienten, die nach ihrer Erstbehandlung stratifiziert wurden: hochwirksame, frühe intensive Therapie (n = 104 [EIT]) versus Basis-DMT mit Eskalationsoption (n = 488 [ESC]). Zu den EIT gehörten Alemtuzumab und Natalizumab, die bei schlechter Prognose (hohe Schubrate, paraklinische Krankheitsaktivität) eingesetzt wurden. Zu den ESC zählten Beta-Interferone, Glatirameracetat, Dimethylfumarat, Teriflunomid und Fingolimod. Primärer Endpunkt war die EDSS-Veränderung nach fünf Jahren, sekundärer Endpunkt die Zeit bis zur bestätigten Akkumulation von Behinderung (SAD).

Ergebnisse: Das mittlere Alter der 592 Patienten bei Erstmanifestation betrug 27,0 ± 9,4 Jahre. Bei Therapiebeginn waren die Patienten der EIT-Gruppe signifikant jünger als die der ESC-Gruppe (34,0 vs. 38,5 Jahre, p < 0,001) und hatten eine signifikant höhere jährliche Schubrate vor Therapiebeginn (1,7 vs. 0,7 Schübe/Jahr, p < 0,001). Die mediane Therapiedauer betrug zwei Jahre. Die durchschnittliche 5-Jahres-Änderung des EDSS war in der EIT-Gruppe geringer als in der ESC-Gruppe (0,3 vs. 1,2), was auch nach Anpassung für relevante Kovariaten signifikant blieb (p = 0,002). Die mediane Zeit bis SAD betrug 6,0 Jahre in der EIT- und 3,14 Jahre in der ESC-Gruppe (p = 0,05). Für diejenigen in der ESC-Gruppe, die zu hochwirksamer DMT als Zweitlinienbehandlung eskaliert wurden, betrug die mediane Zeit bis zur SAD 3,3 Jahre. Nach Korrektur der relevanten Kovariaten ergab sich zwischen den Gruppen kein Unterschied im SAD-Risiko.

Schlussfolgerungen: Die langfristigen Ergebnisse waren für die EIT-Gruppe günstiger als für die ESC-Gruppe. Die aktuellen Strategien zur Überwachung der Krankheitsaktivität und die Eskalationsprotokolle scheinen nicht ausreichend responsiv zu sein. Die Ergebnisse haben eine besondere Relevanz, weil Patienten im Praxisalltag für das EIT-Regime aufgrund von Merkmalen ausgewählt werden, die eine schlechte Prognose vorhersagen.

Kommentar von Til Menge, Düsseldorf

Bestätigung eines vermuteten Phänomens

Dem Trend folgend, liegt der Fokus nicht auf der Schubaktivität, sondern auf dem EDSS beziehungsweise der SAD unter DMT. Der Titel verspricht allerdings mehr, als die Daten halten. So werden 104 EIT-Patienten, von denen 70 mit Alemtuzumab behandelt wurden, mit 488 ESC-Patienten verglichen, von denen aber nur 54 (11 %) eskaliert wurden. Das heißt, der Großteil der ESC-Patienten verblieb auf dem initialen DMT (65 %) oder wurde innerhalb der ESC-Therapeutikagruppe umgestellt (24 %). Dennoch lassen sich drei wichtige Schlüsse ziehen:

  • Das Alter bei Therapiebeginn war der einzige unabhängige Faktor für die EDSS-Zunahme beziehungsweise Zeit bis zur SAD, der in der multivariaten Analyse Bestand hatte. Da die Patienten beider Gruppen bei Erstmanifestation gleich alt waren, ist dies Ausdruck einer offensichtlich zu langen Wartezeit bis zum Therapiebeginn (EIT 4,2 Jahre vs. ESC 8,3 Jahre).

  • Patienten mit hoher Krankheitsaktivität nach Diagnosestellung sollten von vornherein aggressiv therapiert werden. Die Zunahme des EDSS über fünf Jahre war deutlich geringer und die Zeit bis zur SAD deutlich länger als bei den initial weniger krankheitsaktiven Patienten, die mit DMT behandelt wurden, zu denen in dieser Studie auch Fingolimod gezählt wurde. Wohlgemerkt: Die Patienten mit initial schlechterer Prognose standen nach fünf Jahren besser da als diejenigen mit „durchschnittlicher“ Krankheitsaktivität.

  • Beim stufenweisen Eskalieren werden krankheitsaktive Patienten wohl zu spät erfasst. Zumindest lag die Zeit bis zur SAD bei den wenigen Patienten, die lege artis eskaliert wurden, im Median bei 3,3 Jahren (vs. 3,1 für die gesamte ESC-Gruppe).

Natürlich sind diese Daten durch den hohen Anteil von Alemtuzumab-Patienten beeinflusst, von denen 47 % eine sekundäre Autoimmunopathie entwickelten. Unter dem Strich bleibt aber, dass eine frühe intensive Therapie einen mittelfristigen positiven Effekt auf die Behinderung bei MS hat.

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Prof. Dr. med. Til Menge, Düsseldorf