Fragestellung: Wirkt Natalizumab auch bei der sekundär chronisch progredienten Multiplen Sklerose (scpMS)?

Hintergrund: Natalizumab ist seit 2006 in der Behandlung der schubförmigen MS (RRMS) zugelassen und gehört zu den wirksamsten Präparaten. Weniger gut untersucht ist die potenzielle Wirkung in der Behandlung der scpMS, insbesondere bei Patienten mit scpMS ohne Schübe. In einer doppelblinden randomisierten placebokontrollierten Phase-III-Studie wurde daher die Wirksamkeit bei scpMS-Patienten untersucht.

Patienten und Methodik: Eingeschlossen wurden Patienten, die seit mindestens zwei Jahren unter einer scpMS litten und bei denen im vorangegangenen Jahr eine Progression ohne Schübe erfolgt war. Die Studie bestand aus zwei Phasen. In der Phase 1 erhielten Patienten Natalizumab 300 mg i.v. alle vier Wochen (n = 439) oder Placebo (n = 448) für jeweils zwei Jahre. In der Phase 2 hatten die mit Natalizumab behandelten Patienten die Möglichkeit, für weitere zwei Jahre mit Natalizumab behandelt zu werden und die mit Placebo behandelten Patienten die Möglichkeit, für ebenfalls zwei Jahre auf Natalizumab zu wechseln. Primäre Outcome-Kriterien waren das Ausmaß einer Progression gemessen am EDSS, der (zeitlich) gemessene 25-foot-walk-Test (T25WT) sowie der 9-hole-peg-Test (9HPT).

Ergebnisse: Im ersten Studienabschnitt wiesen 44 % der mit Natalizumab behandelten Patienten und 48 % der Placebopatienten eine bestätigte Progression im kombinierten Endpunkt auf. Allerdings zeigten im 9HPT nur 15 % der mit Natalizumab, aber 23 % der mit Placebo behandelten Patienten eine bestätigte Progression (p = 0,001). Im zweiten Abschnitt der Studie (Jahr 3 und 4, Natalizumab-Fortsetzer und Natalizumab-Wechsler) zeigten 52 % der Natalizumab-Fortsetzer und 61 % der Natalizumab-Wechsler eine bestätigte Progression. (p = 0,01). Im 9HPT war der Unterschied erneut deutlich (19 % bzw. 28 % mit Progression, p = 0,009).

Schlussfolgerungen: Zusammenfassend zeigte sich damit, dass Natalizumab bei Patienten mit scpMS in den ersten zwei Jahren verglichen zu Placebo zwar keine signifikanten therapeutischen Effekte in kombinierten Endpunkten bewirkt, sich allerdings Unterschiede bei (fein-)motorischen Endpunkten der oberen Extremität ergeben können. Nach vier Jahren zeigte sich jedoch ein statistischer Unterschied zwischen Patienten, die durchgehend mit Natalizumab behandelt und Patienten, die zunächst zwei Jahre mit Placebo und dann zwei Jahre später mit Natalizumab behandelt worden waren.

Kommentar von Volker Limmroth, Köln

Der Teufel steckt im Detail

Die Studie ist bei näherem Hinsehen interessanter, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Studien zur scpMS sind grundsätzlich schwieriger als Studien zur RRMS da Art und Umfang einer Progression sehr viel schwieriger zu erfassen und quantifizieren sind als Schubaktivität oder MRT-Parameter. Der Teufel steckt also im Detail der Quantifizierungen. Grobe oder komplizierte Parameter wie EDSS oder T25WT bewegen sich langsamer als ein 9HPT. Es gibt also feine Unterschiede, die sich bei einer Therapie dann doch anders entwickeln. Spannend ist aber auch, dass nach vier Jahren eben auch die komplizierteren Parameter unter Therapie signifikant besser abschneiden. scpMS-Patienten profitieren also langfristig von einer Natalizumab-Therapie.

Die Studie dokumentiert ferner erneut, dass scpMS-Patienten keine homogene Gruppe darstellen, sondern einen unterschiedlichen Grad an inflammatorischer Aktivität aufweisen. Patienten mit höherer inflammatorischer Aktivität unter den scpMS-Patienten profitieren offensichtlich eher von einer Natalizumab-Therapie. Was bedeutet das für die Kliniker? Natalizumab wird sicher nicht für die Behandlung der scpMS zugelassen, aber Patienten, die im Übergang von RRMS zu scpMS sind, sollten nicht deshalb abgesetzt werden. Bei Patienten mit scpMS, die noch Schübe haben, darf ebenfalls vermutet werden, dass sie sich unter einer Natalizumab-Therapie besser entwickeln als ohne Therapie.

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Prof. Dr. med. Volker Limmroth, Köln-Merheim