Fragestellung: Wie verbreitet sind dissoziative Symptome bei verschiedenen psychischen Erkrankungen?

Hintergrund: Dissoziative Phänomene treten nicht nur bei den dissoziativen Störungen wie der dissoziativen Amnesie oder der Depersonalisations-/Derealisationsstörung auf, sondern wurden auch bei anderen Störungen beschrieben. Sie gehen mit einer höheren Krankheitsbelastung und einem schlechteren Therapieansprechen einher. Die Autoren erstellten daher eine aktuelle Übersichtsarbeit zur Häufigkeit von Dissoziationen bei einem breiten Spektrum von Erkrankungen.

Patienten und Methodik: Die Metaanalyse schloss 216 Studien zu dissoziativen Symptomen bei Erwachsenen mit psychischen Erkrankungen ein. In die Analysen gingen Daten von 15.219 Patienten aus 19 diagnostischen Kategorien ein. Zur Erfassung von dissoziativen Phänomenen wurde die „Dissociative Experiences Scale“ (DES), eine Selbstbeurteilungsskala mit 28 Items, die eine hohe Validität und Reliabilität besitzt, verwendet. Daten zu gesunden Probanden wurde nicht erfasst. Aus früheren Studien ist allerdings bekannt, dass die Normalwerte auf der DES zwischen zirka 8 und 14 Punkten liegen.

Ergebnisse: Erwartungsgemäß wurden die höchsten DES-Werte mit > 35 Punkten bei dissoziativen Störungen gefunden. Werte > 25 Punkte zeigten sich bei posttraumatischer Belastungsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung und Konversionsstörungen. Werte zwischen 15 und 25 Punkten hatten verschiedene andere Störungen, wie Suchterkrankungen, Essstörungen, Schizophrenie, Angst-, Zwangs- und affektiven Störungen. Die niedrigsten Werte fanden sich für bipolare Störungen.

Schlussfolgerung: Die Erhebung dissoziativer Symptome ist bei jeder psychischen Erkrankung ein wichtiger Teil des psychopathologischen Befundes.

Kommentar von Klaus Lieb, Mainz

Nachfragen kann therapeutisch wichtig sein

Die Studie bestätigt im Wesentlichen die Ergebnisse einer früheren Metaanalyse aus dem Jahr 1996, die allerdings deutlich weniger Studien einschloss. Abgesehen von den Störungen, die typischerweise hohe DES-Werte aufweisen, wie PTBS, Borderline-Störung und dissoziative Störungen, lagen die Durchschnittswerte bei den meisten psychischen Erkrankungen in einem Bereich nahe dem Normbereich . Interessanter ist daher ein genauerer Blick auf die Variation dissoziativer Phänomene bei den einzelnen Erkrankungen: So lag der durchschnittliche Wert auf der DES bei PTBS zwischen 9 und 54 Punkten, bei der Borderline-Störung zwischen 18 und 44 Punkten (für andere Erkrankungen wurde die Variationsbreite leider nicht angegeben). Die wichtigste Botschaft ist somit, dass dissoziative Phänomene bei einzelnen Patienten in unterschiedlichster Ausprägung vorliegen können. Daher ist es wichtig, solche immer zu erfragen. Mehrere Studien haben eine Assoziation dissoziativer Phänomene mit traumatischen Erfahrungen beschrieben. Insofern kann die Erhebung dieser Symptome ein wichtiger Hinweis für das Vorliegen eines Traumas sein.

Therapeutisch sind dissoziative Symptome relevant, da Patienten, die stark dissoziieren, weniger von Psychotherapie profitieren und Dissoziationen einen Prädiktor für ein schlechtes Therapieansprechen darstellen. Deshalb sollten insbesondere Patienten, für die eine Psychotherapie vorgesehen ist, nach solchen Phänomenen befragt und gegebenenfalls Techniken zur Kontrolle dissoziativer Zustände vermittelt werden.

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Prof. Dr. med. Klaus Lieb, Mainz