Fragestellung: Welchen Einfluss hat die Langzeiteinnahme von Opioiden bei Polyneuropathie (PNP) auf den funktionellen Status, unerwünschte Wirkungen und Mortalität?

Hintergrund: Polyneuropathien gehören zu den häufigsten Ursachen neuropathischer Schmerzen. Opioide werden gemäß internationaler Leitlinien als Medikation der zweiten Wahl zur Behandlung neuropathischer Schmerzen empfohlen. Bislang wurden die Auswirkungen einer Langzeittherapie mit Opioiden bei PNP nicht systematisch untersucht. Ziel der Studie war zu bestimmen, wie hoch die Prävalenz einer Opioidbehandlung bei Patienten mit PNP ist, und wie sich diese auf den funktionellen Status, unerwünschte Wirkungen und die Mortalität auswirkt.

Patienten und Methodik: Es handelt sich um eine retrospektive populationsbasierte Kohortenstudie, in der Opioidverschreibungen innerhalb des „Rochester Epidemiology Projects“ in Minnesota in den Jahren 2006 und 2010 analysiert und die entsprechenden Patienten nachverfolgt wurden. Als Langzeitbehandlung wurde eine Behandlung mit Opioiden an mindestens 90 Tagen definiert. Als Indikatoren für den „funktionellen Status“ dienten Einträge in den Patientenakten bezüglich Schmerzintensität, Einschränkungen bei Verrichtungen des täglichen Lebens, Arbeitsfähigkeit, der Beanspruchung von Hilfsmitteln etc. Es wurden PNP-Patienten mit Kontrollpatienten, sowie PNP-Patienten mit und ohne Opioidlangzeiteinnahme verglichen. Zudem wurde auch die Art der Opioidverschreibung sowie die Fachrichtung des rezeptausstellenden Arztes analysiert.

Ergebnisse: Es wurden 2.892 Patienten mit PNP und 14.435 Kontrollpatienten identifiziert, wobei Patienten mit PNP häufiger (18,8 %) als Kontrollpatienten (5,4 %) eine Langzeitbehandlung mit Opioiden erhielten. Das am häufigsten verordnete Opioid bei PNP-Patienten war Oxycodon. Am häufigsten wurden (bei PNP-Patienten und Kontrollen) die Opioide von Internisten verschrieben. Nur wenige (3,7 %) PNP-Patienten erhielten ihre Opioidverschreibung von einem Schmerztherapeuten. Bei etwa der Hälfte (52,5 %) der PNP-Patienten waren — nach Aktenlage — muskuloskelettale Schmerzen der Anlass für die Verschreibung von Opioiden, nur bei einem Viertel (24 %) wurden Opioide aufgrund der PNP verschrieben.

PNP-Patienten mit einer Opioidlangzeitbehandlung wiesen in den verschiedenen Indikatoren des funktionellen Status schlechtere Werte auf als PNP-Patienten ohne Opioidlangzeitbehandlung. Dieser Effekt war auch unter statistischer Berücksichtigung der Komorbidität der Patienten stabil. Die Häufigkeit unerwünschter Auswirkungen wie Depression, Opioidabhängigkeit und akzidentelle Opioidüberdosierungen hingegen waren in der Gruppe der PNP-Patienten mit Langzeitopioideinnahme signifikant erhöht.

Schlussfolgerungen: Eine Langzeitbehandlung mit Opioiden führte in dieser retrospektiven Kohortenstudie mit nahezu 3.000 PNP-Patienten nicht zu einer Verbesserung des funktionellen Outcomes und erhöhte das Risiko für unerwünschte Effekte wie Depression, Opioidabhängigkeit und Opioidüberdosierungen.

Da weder die Qualität noch Quantität der Schmerzen systematisch erfasst wurden, bleibt unbeantwortet, wie sich eine Langzeitbehandlung mit Opioiden auf die Schmerzsymptomatik auswirkt und ob systematische Gruppenunterschiede, zum Beispiel höhere Schmerzintensität = höhere Wahrscheinlichkeit, Opioide zu erhalten, das schlechtere funktionelle Outcome der Patienten mit einer Langzeitopioideinnahme zumindest partiell bedingt.

Kommentar von Ulrike Bingel, Essen

Indikation für eine Opiodtherapie kritisch und regelmäßig überprüfen

Diese relativ große Kohortenstudie stützt frühere Beobachtungen bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen und anderen Nichttumorschmerzen, dass die Langzeiteinnahme von Opioden eher mit einem schlechteren als besseren funktionellen Outcome assoziiert ist. Im Fall der vorliegenden Untersuchung können hieraus aufgrund des fehlenden prospektiven Charakters allerdings keine kausalen Schlüsse gezogen werden. Leider lässt die Studie auch keine Aussagen bezüglich der analgetischen Effekte einer Langzeiteinnahme von Opioiden bei PNP zu. Mir persönlich ist unklar, inwiefern die Untersuchung — wie von den Autoren postuliert — „hilfreiche Informationen für das Management von PNP-Patienten liefert“. Außer, dass auch diese Studie Anlass dazu gibt, die Indikation und Fortführung einer Opioidtherapie beim Nichttumorschmerz kritisch und regelmäßig zu prüfen.

figure 1

Prof. Dr. med. Ulrike Bingel, Essen