Fragestellung: Lassen sich Symptome, die sich bei ehemals depressiven Patienten finden, nutzen, um das individuelle Risiko einer weiteren depressiven Episode in den nächsten sechs Monaten abzubilden?

Hintergrund: Mindestens 50 % der Menschen mit einer depressiven Episode in der Vorgeschichte erleben im Verlauf ihres Lebens eine oder mehrere weitere Episoden. Zirka 80 % derer mit zwei depressiven Episoden erleben mindestens eine dritte. Für eine adäquate Behandlungsplanung in der Remission erscheint es sinnvoll Risikofaktoren zu identifizieren, mit denen beispielsweise die Frequenz der Wiedervorstellung individuell auf den Patienten angepasst werden kann.

Patienten und Methodik: Die Autoren nutzten die vorhandenen Daten der National Institute of Mental Health Collaborative Depression Study. Dies ist eine Längsschnittstudie zum Krankheitsverlauf mit 955 Patienten, die mit dem Behandlungsgrund „Affektive Störung“ im Zeitraum 1978 bis 1981 in die Studie aufgenommen wurden. Dabei wurde die Behandlung protokolliert, nicht kontrolliert und es fanden systematische Follow-up (zunächst sechs-, später zwölfmonatlich) über maximal 31 Jahre hinweg statt. Alle Teilnehmer waren weiß und hatten einen IQ über 70, weder ein organisches Psychosyndrom, noch eine tödliche Erkrankung. Erfasst wurden jeweils die psychiatrische Vorgeschichte, Charakteristika der Episode zu Studienbeginn, Behandlung, Selbstbeurteilungen (z. B. mittels der SCL-90) und Fremdbeurteilungen durch Angehörige. Aus diesem Datenpool wurden Patienten mit einer bipolaren Störung, einer schizoaffektiven Störung und einer Schizophrenie ausgeschlossen. Weiterhin musste mindestens eine SCL-90 vorliegen, die nach mindestens acht Wochen Remission ausgefüllt wurde, sowie in den darauffolgenden sechs Monaten eine wöchentliche psychiatrische Einschätzung. Übrig blieben 514 SCL-90, die den oben beschriebenen Anforderungen genügten, und von 188 Patienten stammten. Auf 73 der SCL-90 folgte in den nächsten sechs Monaten eine depressive Episode, auf 441 SCL-90 folgte keine. Die fünfstufigen SCL-90 Items wurden dichotomisiert (0 – 1 überhaupt nicht, ein wenig: klinisch nicht relevant; 2 – 4 ziemlich, stark, sehr stark: klinisch relevant) und mithilfe eines gemischten Regressionsmodells diejenigen Items herausgefiltert, die signifikant zwischen Rückfall und keinem Rückfall unterschieden. Aus diesen 17 Items wurden weiterhin die zwölf herausgefiltert, die in der Kombination den höchsten prädiktiven Wert für eine depressive Episode in den nächsten sechs Monaten hatten.

Ergebnisse: Die Items, die am geeignetsten waren, zwischen Rückfall und keinem Rückfall zu unterscheiden, beinhalteten Symptome der Depression, Angst und Somatisierung. Wenn ein oder mehr dieser zwölf Symptome vorlagen (ziemliche bis sehr starke Belastung), ergab sich eine Sensitivität von 80,8 % für eine depressive Episode in den folgenden sechs Monaten und eine Spezifizität von 51,2 %. Eine Spezifizität von 80,0 % ergab sich dann, wenn vier oder mehr dieser zwölf Symptome vorlagen. Wenn keines dieser zwölf Symptome vorlag, ergab sich eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 5,8 %, bei einem bis fünf Symptomen von 16,4 %, bei sechs bis neun Symptomen von 34,1 % und bei zehn bis zwölf Symptomen von 72,7 %.

Schlussfolgerung: Es ist möglich, ein sehr kurzes, einfach auszuwertendes Selbstbeurteilungsinstrument zu konstruieren, das erlaubt, die Wahrscheinlichkeit einer weiteren depressiven Episode in den folgenden sechs Monaten abzuschätzen.

Kommentar von Christoph Stein, Erlangen

Ein guter Schritt in Richtung individuelle Nachsorge

Neben den wichtigsten Prädiktoren, die Anzahl und die Dauer früherer Episoden, werden bislang in der S3-Leitlinie zur unipolaren Depression junges Ersterkrankungsalter, weibliches Geschlecht, mangelndes Erleben sozialer Unterstützung sowie der ledige Familienstatus als Risikofaktoren eines Rückfalls genannt. Aber was genau bedeutet das für den Praktiker? Inwieweit hat das Einfluss auf die Nachsorge bei einer remittierten Depression? Mithilfe eines kurzen Selbstbeurteilungsinstruments könnte jedoch die Risikoeinschätzung für die folgenden sechs Monate genauer getroffen und beispielweise die Frequenz der Termine stärker darauf angepasst werden. Die Arbeit zeigt aber nur, dass dieses Konzept funktionieren kann. Weitere Forschung ist nötig, insbesondere um zu klären, ob es eine Sprach- oder Kulturspezifizität gibt, ob sich die relevanten Items mit einer Veränderung der gängigen Behandlung verändern, und allgemein, ob es Kennwerte abseits der SCL-90 gibt, die noch besser geeignet sind.

figure 1

Dipl.-Psych. Christoph Stein, Erlangen