Fragestellung: Gibt es außer den bekannten HLA (Human-leucozyte-antigen)-Allelen auch andere Genloci, die zur Entwicklung einer Multiplen Sklerose (MS) beitragen oder die klinische Ausprägung (mit-)regulieren?

Hintergrund: In den letzten 20 Jahren wurde gezeigt, dass die HLA-Allele, die in der MHC (major-histocompatibility-complex)-Region liegen, maßgeblich an der Entwicklung einer MS beteiligt sind. Zudem wurden inzwischen über 100 nicht HLA-assoziierte Kandidatengene identifiziert, die ebenfalls die Prädisposition oder klinische Ausprägung einer MS beeinflussen könnten. Für einige dieser Gene konnte eine spezifische immunologische Funktion nachgewiesen werden, wobei meist die Differenzierung immunologisch aktiver Zellen, deren Signalübertragung oder Migration betroffen waren. Da die direkte Vererbung einer MS nur selten beobachtet wird, tragen offensichtlich auch Umweltfaktoren zur MS-Entwicklung bei, die über epigenetische Regulationsmechanismen wie DNA-Methylierung oder Histonmodifikationen wiederum spezifische Genexpressionen beeinflussen können. Ziel dieses Projekts war es, die epigenetische Genregulation bei MS-Patienten besser zu verstehen.

Patienten und Methodik: Für die genomweite Assoziationsstudie (GWAS) wurden 4.888 MS-Patienten und 10.395 Kontrollen aus deutschen Zentren untersucht. Die Ergebnisse wurden mit denen einer genetisch distinkten sardinischen Kohorte von MS-Patienten und Kontrollen verglichen, um identifizierte Loci zu replizieren.

Ergebnisse: Neben der Bestätigung der bereits beschriebenen HLA-Loci (MHC-Loci, die stärkste Assoziation mit HLA Allel DRB1*15:01) konnten 15 weitere Non-MHC-Genloci identifiziert werden, die genomweite Signifikanzen erreichten. Vier dieser Loci waren bisher nicht beschrieben und konnten den Genen L3MBTL3, MAZ, ERG und SHMT1 zugeordnet werden. Der Hauptkandidat SHMT1 (Serine hydroxymethyltransferase 1) konnte auch in der sardinischen Kohorte repliziert werden. SHMT1 katalysiert den Transfer einer Carboneinheit, die für die Synthese von Nukleotiden und Methionin gebraucht wird. SHMT1 ist daher eine wichtige, wenn nicht essenzielle Komponente für die Methylierung von Proteinen und DNA. Diverse Studien konnten bei MS-Patienten eine Fehlsteuerung der DNA-Methylierung nachweisen. Sowohl Hyper- als auch Hypomethylierungen wurden mit der Erkrankung assoziiert, sodass wahrscheinlich eine gestörte Homöostase der Methylgeber krankheitsrelevant ist. Da auch Umweltfaktoren DNA- und Proteinmethylierungen beeinflussen, könnte hier eine Schnittstelle liegen, an der spezifische genetische Dispositionen und Umweltfaktoren zusammenkommen und krankheitsentstehend wirken.

Schlussfolgerung: Die Ergebnisse bestätigen die für die Entwicklung einer MS bekannten Genloci, zeigen aber auch vier bisher nicht bekannte, an der epigenetischen Regulation beteiligte Loci.

Kommentar von Volker Limmroth, Köln

Die Genetik der MS: komplizierter als gedacht

Zunächst kann man den Planern und Hauptakteuren der Studie gratulieren, die es geschafft haben, eine Studie dieser Größenordnung in Deutschland umzusetzen. Inhaltlich zeigt die Studie vor allem eines: Die Genetik der Autoimmunerkrankungen ist noch viel komplizierter als bisher gedacht. Dass eine Autoimmunerkrankung wie die MS nicht auf die Fehlfunktion von ein oder zwei Genen heruntergebrochen werden kann, war sicher den meisten Kollegen klar, dass aber epigenetische Faktoren derart komplex an der Entstehung und wohl auch klinischen Ausprägung beteiligt sind, war sicher nicht auf unseren Radarschirmen. Neben den seit langem bekannten Genloci der HLA-Gene konnten auch einige der bisher bekannten nicht HLA-assoziierten Genloci bestätigt werden. Es wurden jedoch auch vier bisher nicht bekannte Loci entdeckt, die teilweise in einer zweiten Kohorte aus Italien bestätigt werden konnten. Damit sind die Ergebnisse sehr valide. Diese neuen Loci stehen für Gene, die Enzyme wie das der SHMT1 kodieren, die ganz unmittelbar am Stoffwechsel der DNA und wichtiger Proteine beteiligt sind, und so unter anderem die Funktion und Funktionsfähigkeit von Lymphozyten regeln. Haben die Ergebnisse dieser Studie einen direkten Einfluss auf die Diagnostik oder Therapie unserer MS-Patienten? Nein, heute und morgen sicher noch nicht. Aber die Ergebnisse sind ein wichtiger Schritt hin zur Charakterisierung der individuellen immunologischen Mechanismen und im zweiten Schritt zu einer individualisierten Therapie, die sich an den jeweiligen Mechanismen orientiert. Das klingt noch etwas theoretisch und weit weg, wird aber viel schneller kommen, als wir denken.

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Prof. Dr. med. Volker Limmroth, Köln-Merheim