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Prof. Dr. med. Christian Gerloff

Auch in dieser Ausgabe der Info Neurologie & Psychiatrie diskutieren wir Publikationen mit „harten Endpunkten“ im Journal-Club. Überlegenheit im Hinblick auf harte Endpunkte ist die entscheidende Grundlage für Therapieempfehlungen im Sinne evidenzbasierter Medizin. Aber während Endpunkte wie Rezidiv oder Tod nach Schlaganfall offensichtlich sind, sind andere Ergebnisparameter nicht so leicht zu erfassen. In diesem Falle greifen wir auf – mehr oder weniger gut validierte – Scores oder Surrogatparameter zurück. Das ist sinnvoll und in klinischen Studien häufig der einzig gangbare Weg. Wie ist es aber in der klinischen Routine? Setzen wir routinemäßig validierte Instrumente ein, die Aussagen darüber erlauben, ob wir Patienten tatsächlich geholfen haben und berücksichtigen wir dabei ausreichend die Patientenperspektive? Welche existierenden Qualitätssicherungssysteme erfassen den „Nutzen“ unserer Therapien für die Patienten?

Traditionalisten mögen sagen, dass Patienten oder Angehörige die Therapieeffekte gar nicht „objektiv“ beurteilen können. Das mag sein, aber sie können den Nutzen für sich selbst beurteilen. Und welche Bedeutung hat die signifikante Verbesserung eines Scores, wenn der Patient keinen Nutzen empfindet? Solche Fragen werden unter dem Stichwort „Value-based Health Care“ (VBHC) diskutiert und systematisch bearbeitet. Entwickelt wurde diese Theorie von Michael E. Porter, Harvard Business School. Er schrieb 2010 im NEJM den vielzitierten Artikel „What is Value in Healthcare“, 2016 erläutert er in derselben Zeitschrift seine Perspektive zum „Standardizing Patient Outcomes Measurement“.

Eine wesentliche Annahme von VBHC ist: Der Nutzen einer Therapie wird nur dann wirklich erfasst, wenn man neben dem Arzt auch den Patienten direkt in die Bewertung der medizinischen Leistungen einbindet. Das geschieht, indem man standardisiert die Ergebnisqualität aller Patienten eines bestimmten Krankheitsbildes erfasst – und zwar in der Routineversorgung. Die Patienten sollen die für sie wichtigsten Aspekte selbst berichten, daher der Begriff „PROM“ (Patient-Reported Outcome Measures). PROM ergänzen die üblichen Parameter wie Überlebensrate und Komplikationen um Fragen zu Lebensqualität, Belastbarkeit, Schmerzen, Integration in den Alltag, Kommunikation, Körperpflege und anderen, oft als „subjektiv“ bezeichneten Aspekten. Von den National Institutes of Health gefördert, wurden Instrumente zur Erfassung der Behandlungsqualität aus Patientensicht erarbeitet (www.nihpromis.org).

„Heute gibt es für quasi alle Bereiche der krankheitsspezifischen Lebensqualität validierte und wissenschaftlich erprobte Messinstrumente“, sagt Dr. Jens Deerberg-Wittram, Gründungspräsident des International Consortium of Health Outcome Measurement (ICHOM), das 2012 von Harvard, der Boston Consulting Group und dem Karolinska-Institut als Non-Profit-Organisation ins Leben gerufen wurde. Das ICHOM erarbeitet zusammen mit medizinischen Experten und Patientenvertretern international einheitliche Standards zur Erfassung von Behandlungsergebnissen. Zahlreiche Standards wurden bereits zusammengestellt, so auch Datensätze zu Schlaganfall, Demenz und Parkinson. Die Standards sowie detaillierte Handbücher mit Informationen zur Risikoadjustierung werden auf www.ichom.org unentgeltlich zur Verfügung gestellt und in internationalen Zeitschriften publiziert.

Ich bin überzeugt, dass wir durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema VBHC viel lernen können und ein offener Umgang mit der Ergebnisqualität aus Patientensicht unserem Gesundheitssystem gut tut. Die Ausweitung von Qualitätstransparenz, die der Gesetzgeber zuletzt mit der Einrichtung des Institutes für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) bekräftigt hat, schreitet voran. Schon heute sind in den Qualitätsberichten der gesetzlich verpflichtenden, sektorenübergreifenden Qualitätssicherung im Gesundheitswesen (SQG) sowie vielen regionalen und freiwilligen Transparenzinitiativen mehr Daten zur medizinischen Ergebnisqualität zu finden als in den meisten anderen Ländern. Dennoch ist die Patientenperspektive noch sehr unvollständig erfasst. Dabei stellt vor allem noch die Risikoadjustierung eine wissenschaftliche Herausforderung dar. Leider können wir immer wieder beobachten, dass zum Beispiel nach einer öffentlichen Vorstellung von Qualitätsdaten zum Schlaganfall das Thema „Fallzahl“ überinterpretiert wird: „Klinik A behandelt die meisten Schlaganfälle“. Aussagen zur Anzahl der Ärzte, der Ausbildung und Spezialisierung, der interdisziplinären Zusammenarbeit oder gar zur Behandlungsqualität? Fehlanzeige. Gerade Patienten mit hohem Leidensdruck verdienen einen differenzierteren Umgang mit so sensiblen Informationen zur medizinischen Versorgung.

Der Nutzen unserer Therapien kann besser erfasst werden, wenn wir Patienten nachbefragen und, wo sinnvoll, nachuntersuchen. Die sektorale Trennung und die fehlende Vergütung der Erfassung von Qualitätsdaten in Deutschland erschweren diese wichtige Arbeit. Aber Transparenz über die eigenen Arbeitsergebnisse und der Vergleich mit anderen – auch ausländischen – Kliniken ist eine Grundlage für ständiges Lernen und Verbesserung. Auch wenn es zum Teil ernüchternde Ergebnisse geben wird, müssen wir bereit sein, unsere etablierten Behandlungsprozesse und klinischen Glaubenssätze immer wieder infrage zu stellen, um einen immer größeren Patientennutzen zu erzielen. VBHC geht es nicht um vordergründige Marketingversprechen oder Kosteneinsparungen. Im Zentrum dieser Theorie steht ein menschlicher Wert. Dort, wo der erzielte Patientennutzen am höchsten ist, sind Patienten und ihre Behandlungsteams am zufriedensten. Und dort, wo kompetente Teams das Richtige für ihre Patienten tun, sind auch die Kosten für Fehlbehandlungen, Komplikationen und Fehlerkorrekturen am geringsten.