Kritik am DSM-5 wird auch von US-Psychiatern laut, unter anderem vom inzwischen emeritierten Professor Allen Frances. Der Psychiater hat selbst an der dritten Ausgabe des Diagnosehandbuchs mitgewirkt und die Revision zur vierten Ausgabe geleitet. Seit einigen Jahren fällt er jedoch mit negativen Äußerungen zur anstehenden Neuausgabe auf. Zuletzt tourte Frances auch durch Deutschland und gab zahlreiche Interviews zum DSM-5 und zu seinem neuen Buch. Dabei nahm er etwa die Ausweitung der Diagnosen bei Kindern aufs Korn. So könnten heftige Wutausbrüche seiner Auffassung nach künftig unter „affektive Dysregulation“ (disruptive mood dysregulation disorder) fallen. Auch wenn es dafür keine zugelassenen Therapien gibt, sieht Frances die Gefahr, „dass auch diese Kinder mit Antipsychotika behandelt werden“. Ebenfalls kritisch sieht Frances die Praxis in den USA, nach der inzwischen Hausärzte, Kinderärzte und Internisten 80 % der Psychopharmaka verordnen. „Diese Verschreibungen erfolgen in der Regel nach einem einzigen Besuch an einem Tag, an dem es den Patienten besonders schlecht geht“, so der Psychiater im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Schließlich beklagt er die dünne wissenschaftliche Basis der bisherigen Therapien: Wir seien immer noch weit von einem Verständnis dessen entfernt, was bei psychischen Krankheiten im Gehirn passiert.

In diese Kerbe schlägt auch der Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH), Dr. Thomas Insel: „Das DSM ist weiterhin das beste Werkzeug für Kliniker, die Patienten behandeln, aber es bildet die Komplexität vieler Krankheiten nicht ab“, so Insel in der „New York Times“. Die Art und Weise, wie psychische Krankheiten im Manual kategorisiert werden, dürfe die Forschung nicht beeinflussen. „Solange die Wissenschaftsgemeinde das DSM als Bibel betrachtet, machen wir keinen Fortschritt.“ Insel sorgte für Aufregung, als er vor kurzem ankündigte, das NIMH werde sich bei seinen Projekten von den DSM-Diagnosen wegbewegen und eigene Forschungskriterien aufstellen, weil „die Patienten Besseres verdienten“.

Dr. Jeffrey Lieberman von der American Psychiatric Association verteidigte dagegen das neue Manual. Es basiere auf der Forschung der vergangenen 20 Jahre und werde letztlich die Versorgung der Patienten verbessern. „Natürlich wäre uns nichts lieber als noch bessere wissenschaftliche Erkenntnisse“, wird er in der „New York Times“ zitiert.