Liebe Leserinnen und Leser,

Computerprogramme sind schon seit Jahrzehnten gut darin, strukturierte Daten auszuwerten und hieraus Muster abzuleiten, beispielsweise aus Messwerten eines Sensors über die Zeit. Was allerdings bis vor wenigen Jahren mit Computerprogrammen nicht ohne weiteres möglich war, ist die Auswertung von unstrukturierten Daten wie Bilddaten und Text. Bilddaten sind extrem variabel - es ist ein äußerst unscharf definiertes Problem, genau zu definieren, was beispielsweise ein Foto von einem benignen Nävus von einem Melanom unterscheidet, da es in der Biologie sehr viele Variationen und schwer zu antizipierende Faktoren gibt. Gleiches gilt für die menschliche Sprache. Aufgaben wie Sprachverständnis und Übersetzung waren lange fast unlösbar für Computerprogramme und somit menschlicher Expertise vorbehalten.

Dies hat sich in den letzten zehn Jahren massiv geändert - und seit 2022 hat diese Entwicklung noch einmal deutlich an Fahrt aufgenommen. Mit modernen Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI), insbesondere neuronalen Netzwerken wie den sogenannten Transformern, sind Computerprogramme jetzt in der Lage, praktisch jegliche Bilddaten und Textdaten sowie andere unstrukturierte Daten auf dem Niveau menschlicher Expertinnen und Experten auszuwerten [Rösler W et al. J Cancer Res Clin Oncol. 2023;149(10):7997-8006]. Diese Entwicklungen kann man etwa im Bereich der Bildverarbeitung an den zahlreichen Handy-Apps ablesen, die beispielsweise unsere Fotos automatisch sortieren oder Gesichter erkennen. Im Bereich der Textverarbeitung ist dies durch Programme wie Google Translate oder seit letztem Jahr auch durch ChatGPT evident [Clusman J et al. Commun Med (Lond). 2023;3(1):141]. Diese technischen Neuerungen beeinflussen die Medizin stark, besonders die Hämatologie und Onkologie. Oftmals heben Firmen bereits bei einer der ersten Produktbeschreibungen dieser KI-basierten Systeme deren mögliche Anwendung in der Medizin hervor [Bubeck S et al. arXiv. 2023; https://doi.org/j35s; Singhal K et al. Nature. 2023;620(7972):172-80].

Feld von medizinischer Expertise ausgehend entwickeln

Tatsächlich ist die Krebsmedizin, einschließlich der Hämatologie und Onkologie, sehr komplex und kann von solchen KI-Methoden profitieren. Zu krebsmedizinisch relevanten Daten zählen Bilddaten, Textdaten und speziellere Daten wie genetische Sequenzen. KI zu nutzen, um aus diesen Daten quantifizierbare Entscheidungen und Biomarker abzuleiten, hat offensichtlichen Mehrwert. Allerdings sind Technologieunternehmen nicht unbedingt dazu qualifiziert, die besten medizinischen Anwendungen zu definieren. Hier sind wir Ärztinnen und Ärzte gefragt. Wir müssen uns dieser Technologien annehmen, uns damit vertraut machen, Expertise entwickeln und das Feld aus der Medizin heraus gestalten, um klarzumachen, in welchen medizinischen Anwendungsbereichen die neuen technischen Möglichkeiten auch tatsächlich einen Mehrwert generieren.

Dieser Mehrwert muss klar definiert und objektivierbar sein, also beispielsweise am Ende Ärztinnen und Ärzte eine Arbeitszeit zurückgeben, die sie statt mit repetitiven Aufgaben mit zwischenmenschlicher Patientenversorgung verbringen können. Idealerweise müssen sich KI-Systeme in klinischen Studien beweisen, in denen sie harte klinische Endpunkte erreichen, wie beispielsweise die Lebensqualität oder das Gesamtüberleben verbessern.

In diesem Themenheft freut es mich besonders, eine Gruppe sehr namhafter Expertinnen und Experten aus dem Bereich der KI in der Hämatologie und Onkologie im deutschsprachigen Raum zusammengebracht zu haben, die für ihr jeweiliges Spezialgebiet KI-Anwendungen sowie deren Randbedingungen, Herausforderungen und Chancen darstellen - in verschiedenen Beiträgen ab Seite 10. Dazu gehört sowohl die Datengrundlage, die Auswertung von Bilddaten, die Auswertung multimodaler Daten, aber auch deren klinische Interpretation. Hämatologie und Onkologie verstehen wir in diesem Kontext als ein Fachgebiet, das unabdingbare medizinische Expertinnen und Experten angrenzender Disziplinen wie zum Beispiel der Pathologie mit einschließt.

Die technische Entwicklung ist nicht an ihrem Ende. Wir stehen erst am Anfang einer rasanten Expansion von KI-Methoden in allen Bereichen unseres Lebens. Daher werden die nächsten Jahre sicher spannend werden. Dadurch erweiterte technische Möglichkeiten werden sich noch viel mehr medizinische Anwendungen dieser Technologie ergeben. Der richtige Zeitpunkt, sich mit diesen Technologien auseinanderzusetzen, ist jetzt. Dieses Heft soll hierfür eine Anregung geben und die ärztliche Perspektive auf neue KI-Methoden darstellen.

Ich wünsche Ihnen eine informative Lektüre!

Ihr

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© TU Dresden

Prof. Dr. med. Jakob Nikolas Kather, M. Sc.

Lehrstuhl für Clinical Artificial Intelligence

Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus

und Fakultät für Informatik

Technische Universität Dresden

jakob_nikolas.kather@tu-dresden.de