Gerade bei absehbar schweren Folgen gilt es, sichere Diagnosen als Grundlage zu haben. Erst recht gilt dies in Grenzbereichen von Fachrichtungen, etwa zwischen HNO(Hals-Nasen-Ohren)-Heilkunde und MKG(Mund-Kiefer-Gesichts)-Chirurgie.

Ein Patient stellte sich wegen einer Schwellung im Unterkieferbereich und Schluckbeschwerden zuerst ambulant allgemeinärztlich vor und dann konsiliarisch HNO-ärztlich. Nach einer Untersuchung inklusive Sonografie und Computertomografie (CT) wurde eine Mundbodenphlegmone angenommen. Weil aber die antibiotische und analgetische Medikation nicht halfen und sich sein Zustand verschlechterte, wurde er stationär in eine HNO-Abteilung aufgenommen. Dort vermutete man bei reduzierter Mundöffnung, gerötetem und vorgewölbtem Zungengrund sowie submandibulärer, großer, prall elastischer Schwellung einen Mundbodentumor oder eine mediane Halszyste. Eine sonografische Raumforderung von 30 × 40 × 30 mm ohne klar zystische Charakteristika veranlasste den Chefarzt zur Diagnose "Mundbodentumor mit Lymphknoten in beiden Gefäßscheiden". Intraoperativ zeigten sich Verwachsungen der Schwellung mit umliegenden Gewebestrukturen und zum Unterkiefer. Nach einem gescheiterten Punktionsversuch entschied man sich zur totalen Resektion des Schwellungsgewebes. Rechts gelang die Präparation von N. hypoglossus und N. lingualis unter Kontinuitätserhalt, links wurden beide Nerven "geopfert".

Schon die Schnellschnittuntersuchung ergab aber "nur" eine entzündliche Infiltration ohne sicheren Anhalt eines Tumors oder für eine spezifische Entzündung. Die abschließende Histologie belegte definitiv, dass kein Malignom vorlag, sondern ein ausgedehnter Mundbodenabszess, vermutlich dentogenen Ursprungs, sowie eine Zungenbeinosteomyelitis und eine entzündliche Infiltration umgebender Weichteile.

So sah das Gericht den Fall

Das Oberlandesgericht Sachsen-Anhalt wies die Berufung gegen das schon stattgebende Schadensersatzurteil des Landgerichts Magdeburg zurück (Urt. v. 13.3.2003, 1 U 34/02). Die Gerichte sahen es als fehlerhaft, dass sich der Operateur "verfrüht und ohne ausreichende differenzialdiagnostische Berücksichtigung eines möglichen atypisch verlaufenden Entzündungsgeschehens auf die Diagnose eines malignen Mundbodentumors in beiden Gefäßscheiden festgelegt und sich dem entsprechend intraoperativ ohne Indikation für eine Totalexstirpation des vermeintlichen Tumors unter bewusster Inkaufnahme der Opferung des linksseitigen N. hypoglossus und des linksseitigen N. lingualis entschieden" hatte, auch wenn "angesichts des Fehlens typischer Zeichen einer Entzündung, so eines deutlichen Druckschmerzes, und der Chronifizierung der Entzündung durch die antibiotische Vorbehandlung" der Schluss auf ein Tumorgeschehen nahe gelegen und dies die operative Klärung erfordert hatte.

Es fehlte eine umfassendere Befunderhebung präoperativ: unter anderem Befunde zum Blutbild, die ggfs. weitere Anzeichen des entzündlichen Prozesses ausgewiesen hätten, aber auch eine weiter reichende konsiliarische (MKG-chirurgische) Unterstützung. Die intraoperative Unsicherheit half als Argument letztlich ebenfalls nicht, da Voraussetzung für die Radikaltherapie der sichere Nachweis eines Tumors und nicht allein der noch nicht gesicherte Ausschluss eines Karzinoms gewesen wäre.

Was bedeutet das Urteil für den klinischen Alltag?

Das Urteil zeigt einerseits, dass eine diagnostische Fehleinschätzung die haftungsrechtlich sonst privilegiertere Betrachtung - wonach eine zumindest ex ante nachvollziehbar falsche Diagnose nicht automatisch fehlerhaft sein muss - nicht erfährt, wenn sie auf unsicherer Basis infolge unzureichender Befunderhebung beruht. Andererseits wird auch deutlich, dass nicht jegliche Verdachtsdiagnose, mag sie noch so gravierend sein, sogleich jede operative Reaktion rechtfertigt. Besonders ärgerlich dürfte dies für die Beklagten gewesen sein, nachdem die Gerichte sogar rein MKG-gutachterliche Einschätzungen zur Beurteilung ausreichen ließen, weil sich die Anforderungen an Sorgfaltspflichten zwar in der Regel nach dem Fachgebiet des behandelnden Arztes richten, noch spezifischer mitunter aber nach dem - ggf. eben auch interdisziplinären - Fachgebiet, in das die Behandlung fällt, hier also ein chirurgischer Eingriff im submandibulären Bereich.