figure 1

© Artenauta / Fotolia

20 Jahre gibt es die Zeitschrift „InFoOnkologie — interdisziplinäre Fortbildung in der Onkologie“. Mit der ersten Ausgabe im April 1998 führte sie damals die inzwischen zahlreichen Printmedien an. Wichtige neue Entwicklungen wurden und werden von Experten referiert und sind vor allem durch ihre fundierten Kommentare für den Praktiker von großer Bedeutung. 20 Jahre InFo Onkologie dokumentieren damit auch 20 Jahre Krebsforschung, Therapieentwicklung und Patientenbetreuung. Ein Anlass zurückzuschauen, aber vor allem nach vorne zu blicken.

Bis in die 1970er-Jahre war der Nutzen einer medikamentösen Intervention weder fachlich gesichert noch gesellschaftlich akzeptiert. Chemotherapie war ein „grober Keil“, den man zunächst schwer kontrollieren konnte. Ihre Wirkung war allerdings zum Teil beeindruckend, so gelangen etwa beim Hodgkin-Lymphom lange Remissionen. Solche guten Verläufe stimulierten uns, neue Medikamente auszuprobieren — fern ab von der heutigen evidenzbasierten Medizin. Dank der US-amerikanischen Forschungsinitiative „Kampf gegen den Krebs“ kamen in rascher Folge neue Medikamente in unsere Hände. Wie man Toxizitäten vermeiden oder zumindest lindern konnte, lernten wir an unseren Patienten. Dabei handelten wir uns zum Teil aber auch neue unerwünschte Nebenwirkungen ein. So mussten wir z. B. feststellen, dass der Einsatz von Hochdosis-Metoclopramid (MCP) gegen die Übelkeit ein hyperkinetisches Syndrom zur Folge haben konnte.

Dann kamen die Platinanaloga. Zu Beginn war uns ebenso schlecht wie den Patienten. Zehn Jahre später, in den 1980ern, gelang es zunehmend die Therapie zu entgiften, effektive Antidote zu verwenden, und die Bedeutung der Lebensführung zu erkennen und zu nutzen. Die Grundlagenforschung ebnete uns die Wege zur Überwindung der Toxizität. Von der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen, wurden Übelkeit und Erbrechen zur Ausnahme. Wachstumsfaktoren und neue Transfusionstechniken erlaubten es, an die menschlichen Grenzen zu gehen. Prävention sowie multimodale und adjuvante Therapiekonzepte trugen zu einer signifikanten Anhebung der Heilungsrate bei.

Wir haben viel gelernt und lernen weiter

Beobachtungen über eine immer wieder ungenügende Compliance sowie Rückmeldungen aus Selbsthilfegruppen führten uns zu dem, was heute als gemeinsame Entscheidungsfindung mit dem aufgeklärten Patienten und seinen Angehörigen bezeichnet wird. Inzwischen ist sie obligat für die Arzt-Patienten-Beziehung. Holperig wurde die Medizinpsychologie einbezogen: 1978 wurde gegen anfänglichen Widerstand maßgeblicher Ordinarien eine wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft Psychoonkologie in der Sektion B der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) gegründet. Nicht minder mühsam gelang danach 1980 die Anerkennung der onkologischen Krankenpflege als berufliche und wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft in der Sektion B der DKG.

figure 2

Prof. Dr. Ulrich R. Kleeberg Zentrum für Ambulante Onkologie, Im Struensee-Haus, Hämatologisch-onkologische Praxis Altona Hamburg urkleeberg@hopa-hamburg.de

© HOPA, Hamburg Altona

Im Bereich der ambulanten Krankenversorgung wurden Wege zu einer fachlichen wie strukturellen Qualitätssicherung eingeführt: Tumorkonferenzen wurden in den 1970er-Jahren etabliert und waren die Wiege der interdisziplinären Kooperation. 1980 wurde auf Initiative der niedergelassenen Onkologen in der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) der DKG die Onkologie-Vereinbarung mit Kassenärztlicher Vereinigung (KV) und Gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) getroffen. Sie durchlief zwar einige Novellierungen, gilt aber noch immer.

Die Honorierung ambulanter ärztlicher Leistungen wurde nach heftigem Widerstand durch die niedergelassene Ärzteschaft ab 1996 an Fortbildungsnachweise geknüpft, eine Continued Medical Education (CME). Zusammen mit der Einführung von Leitlinien als Grundpfeiler der Qualitätssicherung hat sie wesentlich zur Standardisierung eines Mindestniveaus beigetragen, nicht nur in der ambulanten Krankenversorgung. Neue Entwicklungen wurden unter anderem auf Kongressen zeitnah präsentiert, der aktuelle Zugriff aber auch außerordentlich durch die Fachpresse erleichtert, dort schon bald mit CME verbunden.

Bedarf und Bedürfnisse der Krebskranken führten zur Ergänzung der interdisziplinären durch eine interprofessionelle Kooperation mit Psychoonkologie, Krankenpflege, Ökotrophologie, Krankengymnastik und Pharmazie. In diesem Sinne wurde schon 1976 für eine bessere Patientenversorgung die enge Zusammenarbeit zwischen Pharmazeuten und Onkologen gefordert. Spätestens heute wird die pharmakologisch-onkologische Kooperation angesichts der demografischen Entwicklung bei multimorbiden Betagten mit entsprechend vielfältiger Medikation fraglos unerlässlich. Auch die Notwendigkeit regionaler Netzwerke zwischen Onkologie und Apotheke wurde in einem Strukturpapier des Berufsverbands der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland (BNHO) e. V. mit dem Verband der Zytostatika herstellenden Apothekerinnen (VZA) vom Juli 2017 (§ B. 2. Dienstleistungen der Apotheke im Netzwerk) erneut formuliert [Dtsch Arztebl 2017;114(49):A-2320/B-1942/C-1896]. Zwingend erforderlich ist hier eine unabhängige fachliche Überwachung der Chemotherapiezubereitung mit Autorisierung durch die regionalen Gesundheitsämter.

Mit der Erarbeitung eines Nationalen Krebsplans wurde 2004 versucht, die aufgestauten Anliegen von Betroffenen, Klinikern, Wissenschaftlern und Kostenträgern zu bündeln, nach Präferenzen zu sortieren und politisch zukunftsweisend festzuschreiben. Die Zertifizierung von Organzentren und Comprehensive Cancer Center durch die DKG, in Zukunft zu erweitern auf Medizinische Versorgungszentren (MVZ) mit onkologischem Schwerpunkt, sowie die zwischen stationärer und ambulanter Versorgung eingefügte „Ambulante Spezialärztliche Versorgung“ (ASV) wurden zur conditio sine qua non für eine Finanzierung.

Klinische Krebsregistrierung

Wie schwer es in Deutschland fiel, eine Verlaufsdokumentation als entscheidende Qualitätssicherungsmaßnahme einzuführen, zeigt die Geschichte der Klinischen Krebsregister: 1980 erstmals regional in Hamburg gefördert, verlief das Projekt im Sande. Eine Generation später, im Jahr 2016, wurde es durch Bundesgesetz mühsam von den Ländern etabliert. Als Grundlage für die epidemiologische und klinische Qualitätssicherung waren solche Register von Wissenschaftlern im In- und Ausland längst etabliert. Sie lehrten uns sehr schnell, dass der optimistische Begriff einer Heilung von Krebs relativiert werden musste. Von Ausnahmen abgesehen sprechen wir stattdessen von fünf oder zehn oder zwanzig Jahren krankheitsfreiem Überleben und beziehen dabei die unerwünschten Therapiefolgen mit ein. Dank einer immer differenzierteren Primärtherapie und durch adjuvante Maßnahmen konnten die Intervalle eindrucksvoll verlängert werden, allerdings auf Kosten der Überlebenszeit im metastasierten Stadium. Diese Langzeitfakten wurden dank der akribischen Dokumentation in den klinischen Krebsregistern offenbar. Und nun entscheidet die Politik unreflektiert, dass Daten, die älter als 30 Jahre sind, entsorgt werden sollen, weil sie angeblich unnötig seien (Krebsregister München — persönliche Mitteilung).

Berufsverband der niedergelassenen Onkologen

1978 wurde die Vereinigung der „Niedergelassenen Internistischen Onkologen“, von drei, dann fünf, bald 150 aufmüpfigen Kassenärzten gegründet, um die Anliegen unserer Patienten besser vertreten zu können. Im Jahr 2000 ging diese in den BNHO über, der 2004 das Wissenschaftliche Institut der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen GmbH (WINHO) gründete. Inzwischen zählt der BNHO 590 Mitglieder und hat als vorbildliche berufsständige Organisation Eingang in die nationale Gesundheitspolitik gefunden.

Wo wollen wir hin, was muss besser werden?

Zunächst strukturell: Vordringlich ist der Abbau des Sektorenkorsetts zwischen freien Praxen und den Kliniken. Sie müssen mit klar definierten Aufgabenschwerpunkten gleichberechtigt und bei gleicher Honorierung die Krankenversorgung übernehmen. Dies darf aber auf keinen Fall, wie von profitorientierten Großkonzernen und teilweise auch politisch und durch die GKV vorangetrieben, mit einer Entmündigung der Selbstständigen einhergehen.

Onkologische Versorgungszentren (OVZ) an Kliniken oder in freier Praxis, ausgestattet mit einer interdisziplinären und multiprofessionellen Belegschaft, Tageskliniken sowie ggf. Belegbetten und regionaler SAPV, muss gefördert werden. Außerdem muss die GKV den dringenden Bedarf auch bezahlen. Die Beteiligung von Pharmazeuten, Ökotrophologen und Vertretern der Komplementärmedizin an den multiprofessionellen Tumorkonferenzen und der Krankenversorgung muss zur Regel werden. Unabhängige allgemeinonkologische Einzelpraxen sind kaum mehr in der Lage, die differenzierte Vielfalt dieses expandierenden Fachgebietes zu bewältigen. Der freie Zugang zur fachärztlich-onkologischen Versorgung muss erhalten bleiben, Warteschleifen vor dem Zentrum, wie sie in den umliegenden Ländern Usus sind, darf es in Deutschland nicht geben.

Besonderes Gewicht muss auf die Primär- und Sekundärprävention gelegt werden, ermöglicht durch eine enge Kooperation mit den Landeskrebsgesellschaften. Wege hierzu müssen bereits ab dem Kindergarten forciert werden: Bewegung, die bundesweite Ernährungskampagne „5-am-Tag-für-Kids“, UV-Schutz etc. Eigenverantwortung für die Lebensführung ist aber auch als vordringlicher Auftrag für die Tertiärprävention zu verstehen. Hinzu kommt die frühe Einbeziehung der Palliativmedizin in die kurative Versorgung. Anders ist der demografisch begründeten Krankheits- und Kostenlawine nicht beizukommen.

Hat unser Modell überhaupt noch Zukunft?

Eine Zukunft für unser Modell sehe ich nur in abgewandelter Form: Infolge des demografischen Wandels steigt das Alter der Krebspatienten. Mit dem Alter gehen typische Komorbiditäten und Komedikationen einher. Einerseits ist im Hinblick auf diese Entwicklung unabhängig vom Facharzt für Hämatologie und Onkologie ein Facharzt für allgemeine Innere Medizin mit zusätzlicher onkologischer, geriatrischer, palliativmedizinischer und pharmakologischer Qualifikation gefragt. Andererseits fordert die wachsende Komplexität der onkologischen Diagnostik und Therapie eine Öffnung der organbezogenen Onkologie für eine Qualifikation in der fachbezogenen diagnostischen wie medikamentösen Krankenversorgung.

Dies lässt sich nur in Onkologischen Versorgungszentren (OVZ) realisieren. Den jetzt noch gelegentlich anzutreffenden Alleskönner wird es nicht mehr geben können. OVZ müssen daher den umfassenden internistischen sowie den spezialisierten organbezogenen Bereich umfassen. Unter der Obhut des Allgemeininternisten und Palliativmediziners muss in den multiprofessionellen Tumorkonferenzen Expertise in der Bildgebung, Strahlentherapie sowie allgemeiner und spezialisierter internistischer Fachgebiete vertreten sein. Im Zentrum steht dann nicht der Mensch mit seiner Krankheit, sondern der kranke Mensch.

Zukunftsorientierte Berufsverbände und wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaften haben die Aufgabe, diese Entwicklungen zu erkennen und in Zusammenarbeit mit der Gesundheitspolitik zu strukturieren.

figure 3