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Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Berlin wolf-dieter.ludwig@akdae.de

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Unter Off-Label-Use versteht man die zulassungsüberschreitende Anwendung eines Arzneimittels: Das heißt, ein Arzneimittel wird außerhalb der Anwendungsgebiete eingesetzt, für die es von den nationalen Zulassungsbehörden bzw. von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) genehmigt worden ist; ein Off-Label-Use liegt auch vor, wenn bei der Gabe eines Arzneimittels von anderen in der Zulassung definierten Parametern abgewichen wird (z. B. Altersgruppe, Dosierung, Darreichungsform).

Wie häufig ist Off-Label-Use?

Die Angaben zur Häufigkeit des Off-Label-Use in den verschiedenen Fachgebieten der Medizin variieren sehr stark. Nur für die Pädiatrie liegen in Deutschland repräsentative Untersuchungen vor, die beispielsweise in der Neonatologie und auf pädiatrischen Intensivstationen einen Off-Label-Use bei fast 90 % der Patienten ergaben. Auch in der Onkologie und Palliativmedizin ist der Off-label-Use häufig.

Der Off-Label-Use hat erhebliche sozioökonomische Auswirkungen und ist mit rechtlicher Unsicherheit verbunden — vor allem für Ärzte. Einem möglichen Nutzen für den einzelnen Patienten stehen häufig unvorhersehbare, schwer einzuschätzende Nebenwirkungen gegenüber. Insgesamt kann der Off-Label-Use deshalb zu einem vielschichtigen Problem werden.

Sozialrechtliche Rahmenbedingungen

Zahlreichen Initiativen auf europäischer Ebene ist es bis heute nicht gelungen, einheitliche Regelungen für den Umgang mit Off-Label-Use und dessen Finanzierung durch die Krankenkassen zu erreichen. In Deutschland hat der Gesetzgeber mit § 35c Abs. 1 im Sozialgesetzbuch V einen Weg eröffnet, der in engen, klar definierten Grenzen einen Off-Label-Use als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ermöglicht. Für diesen Zweck wurden vom Bundesministerium für Gesundheit Expertengruppen eingesetzt, die im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) prüfen, in welchen Fällen ein zugelassenes Arzneimittel bei der Behandlung von Krankheiten off-label eingesetzt werden kann. Die Empfehlungen dieser Expertengruppen werden in Anlage VI der Arzneimittel-Richtlinie veröffentlicht und gelten somit als verbindliche Regelung für den Off-Label-Einsatz der bewerteten Arzneimittel im Rahmen der GKV. Die aktuelle Liste in der Anlage VI (Stand Juni 2016) umfasst 23 Arzneimittel — vorwiegend Wirkstoffe zur Behandlung onkologischer, neurologischer und infektiologischer Erkrankungen -, die unter Beachtung der dazu gegebenen Hinweise in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten verordnungsfähig sind. Gelistet sind zudem 14 Arzneimittel, die nicht verordnungsfähig sind.

Medizinische Aspekte

Die medizinischen Gründe für einen Off-Label-Use von Arzneimitteln sind vielfältig. So werden beispielweise bei Kindern und Jugendlichen auch heute noch — zehn Jahre nach Inkrafttreten der EU-Verordnung über Kinderarzneimittel im Jahr 2007 — Arzneimittel angewendet, die nie in dieser Altersgruppe geprüft und zugelassen wurden. Dabei darf aber nicht verschwiegen werden, dass die Zahl der Arzneimittelzulassungen für Kinder seit 2007 deutlich gestiegen ist und Fortschritte vor allem bei neuen Arzneimitteln erzielt wurden.

Verschiedene Gründe werden für den häufigen Off-Label-Use in der Onkologie angeführt. Hierzu zählen insbesondere

  • die Dynamik des medizinischen Fortschritts,

  • die im Rahmen der Präzisionsmedizin meist eng definierten Anwendungsgebiete neu zugelassener Arzneimittel,

  • aber auch ein persönliches „Forschungsinteresse“ von Ärzten, neue, als innovativ angepriesene Arzneimittel — mitunter ohne ausreichende Kenntnisse zu geeigneten Dosierungsbereichen und Kontraindikationen — frühzeitig zu verordnen.

Dies geschieht meist, bevor der pharmazeutische Unternehmer den Nutzen und die Sicherheit derartiger Indikationsausweitungen durch geeignete klinische Studien belegt hat. Die heute zur Verfügung stehenden und in den letzten Jahren von pharmazeutischen Unternehmern intensiv genutzten Gestaltungsräume und Anreizsysteme bei der Entwicklung und Zulassung neuer Arzneimittel für onkologische Indikationen, wie beispielsweise beschleunigte Zulassungsverfahren und die Zulassung einer Vielzahl an Orphan-Drugs, werden sicher zu einer weiteren Zunahme des Off-Label-Use in Zukunft führen.

Ausblick

Der Off-Label-Use wird in verschiedenen medizinischen Fachgebieten, insbesondere bei seltenen und schweren Erkrankungen, auch künftig unvermeidbar sein, da der Zulassungsstatus eines Arzneimittels nicht immer dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens entspricht oder medikamentöse Standard- bzw. Alternativbehandlungen fehlen bzw. beim individuellen Patienten erfolglos waren. Eine generelle und sogar auf europäischer Ebene harmonisierte Lösung des Problems Off-Label-Use durch gesetzliche Vorgaben wird in absehbarer Zeit nicht erreicht werden.

Ziel weiterer Maßnahmen muss es deshalb sein, die Grauzone des Off-Label-Use zu beseitigen. Diese Grauzone liegt zwischen der Verbesserung einer qualitätsgesicherten Versorgung entsprechend dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens einerseits und der individuellen Therapieentscheidung ohne gesicherte Erkenntnisse zu Wirksamkeit und Sicherheit andererseits. Für eine an den Bedürfnissen der Patienten orientierte Lösung des Problems ist es wichtig, die bereits heute existierenden Instrumente zum systematischen Gewinn medizinischer Erkenntnisse (kontrollierte klinische Studien bzw. bei seltenen Krankheiten prospektive Kohortenstudien oder Register) besser zu nutzen und Ärzte, aber auch Patienten, über die Ergebnisse dieser Studien zeitnah zu informieren. Bei Vorliegen positiver, wissenschaftlich gesicherter Ergebnisse ist es Pflicht der pharmazeutischen Unternehmer, eine Zulassungserweiterung zu beantragen. Last but not least sollten Marketingstrategien der pharmazeutischen Unternehmer mit dem Ziel der Ausweitung des Off-Label-Use noch wirksamer unterbunden werden.

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