Hintergrund und Fragestellung: Die Strahlentherapie ist eine wesentliche Therapiemaßnahme bei Patienten mit Hirnmetastasen solider Tumoren. In den letzten Jahren ist die Ganzhirnbestrahlung jedoch gegenüber der stereotaktischen Radiochirurgie zumindest bei Subgruppen von Patienten deutlich in den Hintergrund getreten. Dies ist insbesondere der Fall bei wenigen Läsionen und bei Tumoren, die eher strahlenresistent sind und sich deshalb auch durch Ganzhirnbestrahlung nicht gut kontrollieren lassen. Nichtkleinzellige Lungenkarzinome und Mammakarzinome gehören zu den Tumoren, die am häufigsten in das Gehirn metastasieren. In der Arbeit von Lia Halasz und Kollegen wurde untersucht, ob sich die Überlebenszeit bei Patienten mit Hirnmetastasen unterscheitet, wenn statt der Ganzhirnbestrahlung eine stereotaktische Radiochirurgie eingesetzt wird.

Patienten und Methodik: Es handelt sich um eine retrospektive Analyse von Patienten mit nichtkleinzelligen Lungenkarzinomen (Diagnose zwischen 2007 und 2009) oder Mammakarzinomen (Diagnose zwischen 1997 und 2009), die an fünf Zentren mit stereotaktischer Radiochirurgie oder Ganzhirnbestrahlung behandelt wurden. In der statistischen Analyse wurde versucht, potenzielle Einflussfaktoren wie Zahl der Metastasen, Ausmaß der extrakraniellen Erkrankung und das Zentrum zu kontrollieren.

Ergebnisse: Von 400 Patienten mit einem nichtkleinzelligen Lungenkarzinom erhielten 27,8 %, von 387 Patientinnen mit Mammakarzinom 13,4 % eine alleinige stereotaktische Radiochirurgie für die Behandlung der Hirnmetastasen. Nur wenige Patienten hatten mehr als drei Hirnmetastasen oder Läsionen, die größer als 4 cm im Durchmesser waren, wenn die stereotaktische Radiochirurgie verabreicht wurde. Auch nach Adjustierung für die wichtigsten prognostischen Faktoren zeigten Patienten mit weniger als vier Hirnmetastasen und einer Größe von weniger als 4 cm Durchmesser (189 mit nichtkleinzelligem Lungenkarzinom, 117 Patientinnen mit Mammakarzinom) ein längeres Überleben als die Patienten, die mit Ganzhirnbestrahlung behandelt wurden: Die Hazard Ratio betrug 0,58 (95 %-Konfidenzintervall [95 %-KI] 0,38–0,87; p = 0,01) für Patienten mit Lungenkarzinom und 0,54 (95 %-KI 0,33–0,91; p = 0,02) für Patientinnen mit Mammakarzinom.

Schlussfolgerungen der Autoren: Die Forscher betonen, dass es sich um eine prospektive Datenbank handelt, die hier für eine retrospektive Untersuchung genutzt wurde, um die Frage zu beantworten, ob stereotaktische Radiochirurgie oder Ganzhirnbestrahlung mit längerem Überleben assoziiert sind. Sie analysierten eine große Zahl von Patienten und kamen zu dem Schluss, dass auch bei Berücksichtigung aller wesentlicher prognostischer Faktoren Patienten mit weniger als vier Hirnmetastasen mit einem Durchmesser von weniger als 4 cm länger überleben, wenn primär auf die Ganzhirnbestrahlung verzichtet und stattdessen eine stereotaktische Radiochirurgie angewandt wird.

Halasz und Kollegen räumen ein, dass aufgrund der Datenqualität keine weiteren Analysen möglich waren, um die Gründe für die Unterschiede im Überleben zu erforschen.

Kommentar von Michael Weller, Zürich, Schweiz

Zusätzliche Skepsis gegenüber der Ganzhirnbestrahlung?

Wenngleich die Beobachtung grundsätzlich interessant ist, besteht das Problem, dass es sich um eine retrospektive Analyse handelt und die Patienten der jeweiligen Therapie nicht zufällig zugeordnet wurden. Es ergeben sich Restzweifel, ob die Adjustierung für prognostische Faktoren umfassend genug war.

So bleibt die Frage offen, ob die stereotaktische Radiochirurgie tatsächlich wirksamer ist oder ob die Ganzhirnbestrahlung, etwa aufgrund neurokognitiver Folgen, dazu führt, dass die Patienten weniger Zweit- und Drittlinientherapien wie eine Chemotherapie erhalten haben.

Zwar bestätigt die Studie den aktuellen Trend, auf die Ganzhirnbestrahlung zunehmend zu verzichten; dennoch bleiben viele Fragen offen und es bestätigt sich, dass retrospektive Analysen auch bei grundsätzlich hoher Qualität prospektive randomisierte Studien nicht ersetzen können.

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Prof. Dr. Michael Weller