1 Einleitung und Problemstellung

Seit inzwischen 15 Jahren kommt dem Thema Studienabbruch im MINT-Bereich national und international verstärkt Aufmerksamkeit zu – sowohl in der Bildungsforschung als auch in der Bildungspraxis. Hohe Studienabbruchzahlen bedeuten nicht nur eine Belastung für eine große Gruppe an betroffenen Studierenden, sondern stellen auch eine substanzielle finanzielle Herausforderung für Staat und Gesellschaft dar (Rasmussen und Ellis 2013; Heublein et al. 2017). Insbesondere im MINT-Bereich ergibt sich u. a. in Deutschland eine besondere Problematik, da einem seit Jahren andauernden Fachkräftemangel mit überdurchschnittlich hohen Studienabbruchquoten nicht begegnet werden kann (Heublein und Wolter 2011; Heublein et al. 2017). Da viele Betroffene das MINT-Studium bereits im ersten Studienjahr verlassen (Heublein et al. 2017), wird davon ausgegangen, dass die Schwierigkeiten beim Übergang von der Schule in die Hochschule ein Grund für den Studienabbruch sind (Rach und Heinze 2017).

Immer wieder im Fokus steht dabei vor allem eine unzureichende Passung zwischen den mathematischen Lernvoraussetzungen, die MINT-Studierende zu Studienbeginn mitbringen, und den Anforderungen, die von der Hochschule gestellt werden. Als Ursachen werden u. a. genannt, dass sich der Charakter der gelehrten Mathematik ebenso wie die Lernkultur beim Übergang von der Schule in die Hochschule grundlegend verändert (Rach und Heinze 2017). Die fachlichen Ziele und Anforderungen verschieben sich von der Allgemeinbildung und Lösung außermathematischer Probleme hin zu einer wissenschaftlichen Mathematik mit formalem Theorieaufbau, während gleichzeitig das geforderte Maß an Eigenständigkeit mit Beginn des Studiums steigt (Rach und Heinze 2017). Beides kann für Studienanfängerinnen und Studienanfänger herausfordernd sein und betrifft viele andere Fächer am Übergang Schule-Hochschule weniger stark als die Mathematik.

Hochschullehrende beklagen oft unzureichende mathematische Leistungen ihrer Studienanfängerinnen und Studienanfänger und sehen die Ursache dafür häufig in einer unzureichenden Studienvorbereitung durch die Schule (z. B. Offener Brief 2017). Von Schulseite werden dagegen unrealistische Erwartungen der Hochschulen an die mathematischen Lernvoraussetzungen der Erstsemesterstudierenden moniert (Dürrschnabel und Wurth 2016). Auch wenn diese Aussagen zumeist Meinungsäußerungen einzelner Gruppen darstellen, entsteht der Eindruck, dass sich Schulen und Hochschulen bezüglich der Übergangsprobleme häufig gegenseitig die Verantwortung zuweisen. Demgegenüber gibt es Stimmen, die für einen gelingenden Übergang beide Institutionen in die Verantwortung nehmen (z. B. Biehler 2018; DMV, GDM und MNU 2019). So legten DMV, GDM und MNU (2019) beispielsweise einen Katalog mit „19 Maßnahmen für einen konstruktiven Übergang Schule-Hochschule“ vor, die sich auf den Mathematikunterricht, die Bildungsstandards, die Gestaltung des Übergangs, die akademische Mathematikausbildung und die Rahmenbedingungen beziehen. Studien zu anderen Übergängen im Bildungswesen haben gezeigt, dass die Institutionen sich als „Verantwortungsgemeinschaft“ (Sartory et al. 2018, S. 22) begreifen müssen, die einer Zerteilung der Zuständigkeiten am Übergang vorbeugt oder entgegenwirkt, und dass eine gemeinsame Kommunikations- und Vertrauensbasis Voraussetzung für einen gelingenden Übergang ist (Tippelt 2007). Für eine solche Kommunikationsbasis zwischen Mathematiklehrenden von Schulen und Hochschulen ergibt sich als Herausforderung, dass durch die unterschiedlichen Ziele und Lernkulturen von Mathematiklehre an Schule und Hochschule zwei sehr unterschiedliche Fachkulturen vorliegen, was Kommunikationsprozesse störungsanfällig macht. Entsprechend fordern DMV, GDM und MNU eine „Kultur des Austauschs“ (Maßnahme 17, DMV, GDM und MNU 2019, S. 3), die Lehrkräften an Schulen und Hochschulen Gelegenheit bietet, die Rahmenbedingungen der jeweils anderen Institution kennenzulernen und das gegenseitige Verständnis zu fördern. Da es jedoch von staatlicher Seite bisher kaum Strukturen für eine solche Kommunikationsbasis gibt, ist eine gemeinsame Verständigung darauf, was von Studienanfängerinnen und Studienanfängern erwartet wird bzw. auf Basis von Bildungsstandards und Lehrplänen erwartet werden kann, schwierig.

Mit Blick auf die hohen Studienabbruchzahlen bleibt daher unklar, ob fehlende mathematische Lernvoraussetzungen bei Studierenden ihre Ursache in unrealistischen Erwartungen der Hochschullehrenden haben, die möglicherweise nicht mit aktuellen Bildungsstandards und Lehrplänen vertraut sind. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Schulen potenzielle MINT-Studierende gar nicht zielgerichtet auf die Hochschule vorbereiten können, weil den Schulen nicht bekannt ist, welche konkreten mathematischen Lernvoraussetzungen Hochschulen erwarten. In einem ersten Schritt müssten sich somit Schulen und Hochschulen abstimmen, welche mathematischen Lernvoraussetzungen zu Studienbeginn vorausgesetzt werden und auf Basis von Lehrplänen vorausgesetzt werden können (s. a. Maßnahme 13, DMV, GDM und MNU 2019).

Erste Projekte, die eine solche Abstimmung zwischen Schulen und Hochschulen initiiert haben, wurden beispielsweise von der cosh-Gruppe (Cooperation Schule-Hochschule) in Baden-Württemberg (cosh 2021) und vom IGeMA (Institutionalisierter Gesprächskreis Mathematik Schule-Hochschule) in Niedersachsen (MK & MWK 2019) durchgeführt. Beide Projekte hatten eine Verbesserung des Übergangs Schule-Hochschule unter Beteiligung beider Bildungsinstitutionen zum Ziel und erarbeiteten konkrete Aufgabenkataloge, auf die sich jeweils beide Seiten verständigt hatten und die die erwarteten mathematischen Lernvoraussetzungen illustrierten (cosh 2021; MK & MWK 2019). Gleichzeitig wurden in diesen Projekten aber auch Problemfelder in der Zusammenarbeit deutlich. Zum einen traten bei der cosh-Gruppe früh Konflikte und gegenseitige Schuldzuweisung zwischen den beteiligten Institutionen auf, die eine konstruktive Zusammenarbeit zunächst lähmten (Dürrschnabel und Wurth 2016). Zum anderen blieben in beiden Projekten auch nach der Zusammenarbeit Diskrepanzen in Bezug darauf bestehen, was die Hochschulseiten erwarteten und was sie auf Basis der jeweiligen Lehrpläne eigentlich nur erwarten konnten. In beiden Gruppen wurde expliziert, dass es mathematische Lernvoraussetzungen gibt, die die Hochschulseite voraussetzt, die aber nicht in der Schule erworben werden. Diese Diskrepanz konnte jeweils nicht behoben werden und wurde daher als Ergebnis des Dialoges festgehalten. Ein echter Konsens zwischen Schulen und Hochschulen konnte in Bezug auf erwartete und zu erzielende mathematische Lernvoraussetzungen für ein MINT-Studium somit bisher nicht erzielt werden. Darüber hinaus stellen die Aufgabenkataloge von cosh und IGeMa zwar Ergebnisse umfangreicher Abstimmungsprozesse zwischen den beteiligten Personen dar, über die Initiierung und Abläufe der Prozesse liegt aber allenfalls anekdotische Evidenz vor und es ist insbesondere unklar, inwieweit Spezifika der jeweiligen Bundesländer eine Rolle spielen. Dies liegt zum einen daran, dass die Abstimmung jeweils nicht auf einer empirischen Grundlage aufbaut, die über ein einzelnes Bundesland hinausreicht. Zum anderen wurden beide Projekte nicht wissenschaftlich begleitet und untersucht. Damit bleibt offen, auf welche Gelingensbedingungen die Arbeiten in cosh und IGeMA zurückzuführen sind und welche Gestaltungselemente ggf. angepasst werden könnten, um das Problem des fehlenden Konsenses in Bezug auf einige Lernvoraussetzungen überwinden zu können. Es mangelt somit weiterhin an Wissen zur Übertragung derartiger Abstimmungsprozesse auf andere Bundesländer oder Regionen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine Abstimmung von Schule und Hochschule als wichtige Voraussetzung für einen gelingenden Übergang im MINT-Bereich angesehen wird. Dabei geht es in einem solchen Dialog zunächst um die gemeinsame Feststellung, welche mathematischen Lernvoraussetzungen (a) von der Hochschule für ein MINT-Studium erwartet werden bzw. (b) in der Schule im Rahmen der curricularen Vorgaben erreicht werden können, um am Ende idealerweise (c) eine identifizierte Diskrepanz kooperativ und im Konsens aufzuheben. Erste Projekte weisen darauf hin, dass die Initiierung eines solchen Dialoges möglich ist, wenngleich dieser mit Herausforderungen verbunden ist und Diskrepanzen nicht so einfach zu überwinden sind. Offen bleiben daher die beiden folgenden Fragen:

Wie kann zwischen Schule und Hochschule ein konstruktiver Dialog über erwartete und zu erzielende mathematische Lernvoraussetzung für ein MINT-Studium initiiert werden, an dessen Ende ein Konsens gefunden wird?

Welche Gelingensbedingungen können hierbei identifiziert werden?

Im Folgenden wird dazu das Projekt MaLeMINT-Implementation (Mathematische Lernvoraussetzungen für MINT-Studiengänge – Implementation) aus Schleswig-Holstein vorgestellt, welches diesen Fragen nachgeht und die Initiierung des Dialogs von Schulen und Hochschulen mittels der gemeinsamen Entwicklung eines Aufgabenkatalogs umgesetzt hat. Konkret berichten wir über die vier Projektphasen und zugehörige empirische Erhebungen, um die Beantwortung der Fragen auf eine möglichst breite Evidenz basieren zu können. Dabei fokussieren wir nicht nur, inwiefern das Design implementiert werden konnte, sondern vor allem, welche Schwierigkeiten auftreten können, die für einen Transfer des Designs auf ähnliche Probleme (z. B. auf die Abstimmung zwischen Schule und Hochschule in anderen Bundesländern oder Regionen) relevant sind.

Das Projekt folgt damit einem klassischen Design-Based-Research-Ansatz. Dabei wird ein Design als Lösung für ein komplexes praktisches Problem entwickelt und gleichzeitig Wissen über die Charakteristika ebensolcher Designs und deren Entwicklung erweitert, sodass der Ansatz auf andere Kontexte übertragen werden kann (Cobb et al. 2003; Gravemeijer und Cobb 2006; Plomp 2013; Bakker 2018). Das Projekt wird als Ganzes vorgestellt und bietet so eine Blaupause als Lösung für die bisher fehlende Abstimmung zwischen Schule und Hochschule in Bezug auf mathematische Mindestvoraussetzungen für ein MINT-Studium. Nach Bakker (2018) orientiert sich die argumentative Struktur des Projekts damit am „proof of principle that something is possible“ (S. 100). In der Charakterisierung nach Edelson (2002), laut welchem Design-Based-Research-Projekte theoretische Beiträge zur Domäne, zum Design-Framework oder zur Design-Methodologie leisten können, möchte dieser Artikel einen Beitrag zum Design-Framework leisten. Die Darstellung unterscheidet sich deshalb von der Mehrzahl von Artikeln in den Fachdidaktiken, die in der Berichtlegung von Design-Based-Research-Projekten oft einen Fokus auf die Domänentheorie legen (z. B. mit der Analyse von ausgewählten Mikrostrukturen des Designs in ihrer Wirkung auf domänenbezogene Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern) und weniger auf das Design-Framework (vgl. Anderson und Shattuck 2012; Lehtonen et al. 2019). Dieser Beitrag fokussiert dagegen Letzteres und orientiert sich damit an Arbeiten wie die von Hickey et al. (2012) oder Lambert und Jacobsen (2019).

2 Das Projekt MaLeMINT-Implementation

2.1 Ausgangslage

Dem Projekt lag die Motivation zugrunde, den Übergang Schule-Hochschule für MINT-Studierende zu verbessern. Dazu sollte eine Abstimmung der erwarteten mathematischen Lernvoraussetzungen für MINT-Studiengänge in Schleswig-Holstein initiiert werden, wobei diese Lernvoraussetzungen mit den bundeslandspezifischen Zielen des Mathematikunterrichts in Einklang stehen sollten. Organisiert wurde das Projekt von drei Institutionen: dem Institut für Qualitätsentwicklung Schleswig-Holstein (IQSH), dem IPN – Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik sowie dem schleswig-holsteinischen Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (MBWK).

Die Rahmenbedingungen konkretisierten sich zu Projektbeginn im Jahr 2018 wie folgt:

  1. 1.

    Mit den drei organisierenden Institutionen waren Vertretungen der Schulpraxis (IQSH), der Wissenschaft/Hochschulen (IPN) und der Bildungspolitik (MBWK) beteiligt. Die Beteiligung des MBWK unterstrich die bildungs- und hochschulpolitische Bedeutung, die dem Projekt beigemessen wurde. Die Beteiligung des IQSH ermöglicht zudem eine nachhaltige Kommunikation der Ergebnisse in die Schulen und die Beteiligung des IPN hob hervor, dass nicht nur fachwissenschaftliche, sondern auch fachdidaktische Perspektiven auf den Übergang Schule-Hochschule eingenommen werden können und müssen.

  2. 2.

    Durch die MaLeMINT-Studie (Deeken et al. 2020; Neumann et al. 2017) lag zu Beginn des Projekts ein Dokument vor, welches die erwarteten mathematischen Lernvoraussetzungen für ein MINT-Studium aus Hochschulsicht bundesweit beschreibt. Im Gegensatz zur Ausgangslage bei der cosh-Gruppe mussten seitens der Hochschule somit keine Erwartungen neu identifiziert werden, sondern es konnte auf ein empirisch fundiertes Konsensdokument zurückgegriffen werden, welches allerdings nicht auf die spezifischen Bedingungen eines einzelnen Bundeslandes bezogen war. Da die Lernvoraussetzungen im MaLeMINT-Katalog weitgehend abstrakt formuliert sind, war mit Blick auf eine erfolgreiche Abstimmung zwischen Schulen und Hochschulen davon auszugehen, dass eine Konkretisierung (z. B. anhand von Aufgaben und Aufgabenlösungen) notwendig ist, um ein gemeinsames Verständnis sicherzustellen.

  3. 3.

    Schulen und Hochschulen in Schleswig-Holstein hatten bisher keinen systematischen Austausch zum Übergang zwischen ihren Institutionen gepflegt und es gab auch keine Strukturen dafür. Es war davon auszugehen, dass entsprechend wenig Vorwissen über die jeweils andere Fachkultur und die Rahmenbedingungen der anderen Institution vorlag.

  4. 4.

    Seitens des MBWK wurden Mittel zur Finanzierung von zwei zweitägigen Arbeitstagungen bereitgestellt, sodass für die beteiligten Lehrkräfte und Hochschullehrenden keine Kosten entstanden.

2.2 Projektdesign

Zur Beschreibung und Begründung des Designs orientieren wir uns im Folgenden am Design-Forschungsansatz des Conjecture Mapping nach Sandoval (2014). Ausgehend von einer sogenannten High-Level-Annahme werden im Conjecture Mapping Gestaltungselemente (embodiment), dadurch angestoßene Prozesse (mediating processes), sowie sich daraus ergebende Ergebnisse (outcomes), formuliert. Design-Annahmen (design conjectures) beschreiben, wie die Gestaltungselemente die Prozesse beeinflussen, und theoretische Annahmen (theoretical conjectures) beschreiben wie und warum die formulierten Ergebnisse aus den angestoßenen Prozessen zu erwarten sind.

Das Projekt MaLeMINT-Implementation basierte auf folgender High-Level-Annahme:

Schulen und Hochschulen können sich durch eine gemeinsame Entwicklung von Aufgaben darüber abstimmen, welche mathematischen Lernvoraussetzungen zu Studienbeginn erwartet und auch in der Schule erworben werden können.

Darauf aufbauend wurde ein Design entwickelt (Abb. 1), das in den folgenden Abschnitten näher erläutert wird.

Abb. 1
figure 1

Darstellung des Designs entlang des Conjecture Mapping nach Sandoval (2014). Gestrichelte Pfeile und Elemente wurden im Verlauf des Projekts ergänzt

2.3 Gestaltungselemente

Um die Eintrittswahrscheinlichkeit der angestrebten Prozesse und der daraus resultierenden Ergebnisse zu erhöhen, wurden die Gestaltungselemente orientiert an Kriterien der Zielsetzungstheorie nach Locke und Latham (2002) gewählt. Gemäß der Zielsetzungstheorie fördern in Arbeitsprozessen spezifische, herausfordernde und erreichbare Ziele die Zielerreichung, wenn es ein Feedback zu Zielfortschritten gibt. Dies wird verstärkt (Moderatoreffekt), wenn sich die Personen an das Ziel gebunden fühlen und diesem Bedeutung beimessen.

2.3.1 Teilnehmende

Ein wesentliches Gestaltungselement für eine erfolgreiche Abstimmung zwischen Schulen und Hochschulen war die Auswahl geeigneter Stakeholder, die zum Projekt eingeladen wurden. Angestrebt war eine ausgewogene Zusammensetzung der Teilnehmenden in der Form, dass Schulen und Hochschulen breit repräsentiert wurden. Darüber hinaus sollten alle am Übergang beteiligten staatlichen Bildungseinrichtungen miteinbezogen werden, also auf Hochschulseite sowohl Universitäten als auch Fachhochschulen und auf Schulseite alle Schularten, an denen Hochschulzugangsberechtigungen erworben werden können. Diese Auswahlkriterien sollten gewährleisten, dass nichtbeteiligte Personen den späteren Ergebnissen eine Legitimität zusprechen, da während der Erarbeitung alle relevanten Sichtweisen angemessen repräsentiert waren (vgl. Rehfeld 2006). Berücksichtigt wurde bei der Auswahl der eingeladenen Personen zudem, dass diese im Anschluss an das Projekt als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in ihren Institutionen wirksam werden konnten. Dies sollte eine breite Kommunikation der Ergebnisse gegenüber nichtbeteiligten Personen begünstigen (vgl. Rogers 2003), was wiederum dazu beitragen sollte, dass die Teilnehmenden dem Projekt eine höhere Bedeutung beimessen.

Die Projektteilnahme war für alle Personen freiwillig und nicht mit finanziellen Kosten verbunden, fand aber teilweise außerhalb der regulären Arbeitszeit am Freitagnachmittag und Samstagvormittag statt. Insgesamt konnten für die Teilnahme 20 Personen der sieben Hochschulen (zumeist Professorinnen und Professoren, darunter Leitungspersonal verschiedener Ebenen) und 32 Personen von 20 Schulen und dem IQSH für die Schulseite (darunter Fachkonferenzleitungen, Ausbildungspersonal) gewonnen werden. Daneben gab es weitere vier Personen vom Organisationsteam sowie zwei Gäste, die für ein Grußwort und einen Vortrag eingeladen wurden. Im Sinne der zuvor erwähnten Zielsetzungstheorie wurde davon ausgegangen, dass diese Personenzusammensetzung die individuelle Bindung an das Arbeitsziel erhöht, da sowohl Schulen als auch Hochschulen breit repräsentiert waren, genügend Peers anwesend waren und eine Multiplikationswirkung zu erwarten war. Zudem wurde davon ausgegangen, dass die Personen dem Arbeitsziel aufgrund der Beteiligung des MBWK eine hohe Bedeutung beimessen. Schließlich trug die große Zahl an Teilnehmenden dazu bei, dass das aufwändige Ziel als realistisch erschien.

2.3.2 Material

Als Kommunikationsanlass für die Teilnehmenden wurde der MaLeMINT-Katalog gewählt. Dieser umfasst 179 mathematische Lernvoraussetzungen, davon 140, für die in einer empirischen Studie bundesweit ein Konsens unter Hochschullehrenden in Bezug auf die Notwendigkeit für ein MINT-Studium herausgearbeitet wurde, sowie 35, für die kein Konsens ermittelt werden konnteFootnote 1 (Deeken et al. 2020; Neumann et al. 2017). Die Lernvoraussetzungen erstrecken sich auf die vier Bereiche (1) Mathematische Inhalte, (2) Mathematische Arbeitstätigkeiten, (3) Vorstellungen zur Disziplin Mathematik und (4) weitere personenbezogene Eigenschaften. Schule und Hochschule sollten sich im Projekt MaLeMINT-Implementation darüber verständigen, welche der 144 Lernvoraussetzungen aus den Bereichen Mathematische Inhalte und Mathematische Arbeitstätigkeiten für ein MINT-Studium in Schleswig-Holstein benötigt werden und gemäß den Fachanforderungen (Lehrplan) auch in den Schulen Schleswig-Holsteins erworben werden können. Durch die Orientierung am MaLeMINT-Katalog sollte sichergestellt werden, dass nur solche Hochschulerwartungen diskutiert wurden, bezüglich derer auf Bundesebene ein Konsens oder kein eindeutiges Meinungsbild besteht. Außerdem sollte damit vorgebeugt werden, dass stark subjektiv geprägte Erwartungen von Hochschulvertretungen Übergewicht gewinnen, und zudem gewährleistet werden, dass Hochschulerwartungen von Schulseite nicht als Individualmeinungen interpretiert werden. Basis für diese Annahmen war das Vorhandensein empirischer Evidenz für den MaLeMINT-Katalog sowie Erkenntnisse, dass derartige wissenschaftliche Ergebnisse größtenteils als verlässlich eingeschätzt werden (vgl. Hendriks et al. 2016).

Auch auf Schulseite sollten stark individuell geprägte Sichtweisen verhindert und gleichzeitig eine Akzeptanz der Schulperspektive durch die Hochschule gewährleistet werden. Daher wurden als Referenzrahmen dafür, was von der Schule geleistet werden soll, die Fachanforderungen für allgemeinbildende Schulen des Landes Schleswig-Holsteins gewählt. Diese wurden den Teilnehmenden ebenso wie der MaLeMINT-Katalog zur Verfügung gestellt. Da die Fachanforderungen amtliche Dokumente darstellen, wurde davon ausgegangen, dass diesen von den Teilnehmenden eine entsprechende Legitimität zugeschrieben wird.

2.3.3 Arbeitsauftrag

Anhand der MaLeMINT-Lernvoraussetzungen und der Fachanforderungen sollten sich die Teilnehmenden austauschen und diskutieren, welche Erwartungen es seitens der Hochschule gibt und inwiefern diese mit den Fachanforderungen korrespondieren. Da die MaLeMINT-Lernvoraussetzungen teils abstrakt formuliert sind (z. B. „Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung“ oder „Skalarprodukt“), bestand die Gefahr, dass die Mathematiklehrkräfte und Hochschullehrenden diese aufgrund der verschiedenen Referenzrahmen und Fachkulturen an Schule und Hochschule unterschiedlich interpretierten und es dadurch zu Kommunikationsproblemen und Missverständnissen kommen kann. Um dem vorzubeugen, sollte zu jeder MaLeMINT-Lernvoraussetzung gemeinsam eine illustrierende Aufgabe mit Lösung entwickelt werden. Dabei war nicht explizit gefordert, dass sich die Teilnehmenden über die verschiedenen Referenzrahmen und Fachkulturen austauschen (mit Ausnahmen der Fachanforderungen).

In Abb. 2 sind die Kriterien dargestellt, die den Teilnehmenden als Orientierung an die Hand gegeben wurden. Ersichtlich ist, dass der Austausch über Erwartungen und Fachanforderungen stets an konkreten MaLeMINT-Lernvoraussetzungen bzw. dazu entwickelten Aufgaben vollzogen werden sollte und die Bildung eines Konsenses zwischen den Institutionen explizit gefordert wurde. Ein Konsens ergab sich dabei aus den folgenden Kriterien: (1) Die MaLeMINT-Lernvoraussetzung wird für ein MINT-Studium benötigt. (2) Die MaLeMINT-Lernvoraussetzung ist durch die Fachanforderungen Schleswig-Holsteins abgedeckt. (3) Studieninteressierte, die die entwickelte Aufgabe vollständig lösen, erfüllen die illustrierte MaLeMINT-Lernvoraussetzung. Auf Anregung der Teilnehmenden wurde der Arbeitsauftrag noch dahingehend konkretisiert, dass eine Lernvoraussetzung dann für das MINT-Studium benötigt wird, wenn sie für das erfolgreiche Abschließen des ersten Semesters erforderlich ist, und dass eine MaLeMINT-Lernvoraussetzung dann als erfüllt gilt, wenn eine Aufgabe ggf. nach kurzer Auffrischung vollständig gelöst werden kann (z. B. kurze Auffrischung von Formeln für Berechnungen im Bogenmaß).

Abb. 2
figure 2

Ausschnitt aus dem Arbeitsauftrag: Kriterien, welche die entwickelten Aufgaben erfüllen sollten. Mit „Lernvoraussetzung“ ist jeweils eine MaLeMINT-Lernvoraussetzung gemeint, welche für ein MINT-Studium benötigt wird

Die Kriterien des Arbeitsauftrags definierten gemeinsam mit den in Abschn. 2.3.2 erwähnten Materialien (MaLeMINT-Katalog, Fachanforderungen) eine klare Rahmung der Arbeitsumgebung und sollten im Sinne der Zielsetzungstheorie dazu beitragen, dass die Ziele als spezifisch sowie überprüfbar und terminiert (und damit erreichbar) wahrgenommen werden.

2.3.4 Gestaltung der formellen Diskussionsmöglichkeiten

Die wesentliche Arbeit des Projektes fand in Kleingruppen (6–7 Personen) statt. Diese wurden vom Organisationsteam vor jeder Projektphase eingeteilt, sodass in jeder Kleingruppe Vertretungen aus Schulen und Hochschulen anwesend waren und die beiden Institutionen in den Dialog treten konnten. Die 144 MaLeMINT-Lernvoraussetzungen wurden gleichmäßig unter den sieben Kleingruppen aufgeteilt. Die Zuteilung der Teilnehmenden zu den Kleingruppen und Lernvoraussetzungen wurde über die Projektphasen variiert, sodass die Teilnehmenden möglichst viele Lernvoraussetzungen im Detail diskutieren und untereinander möglichst zahlreiche Kontakte knüpfen konnten.

In jeder Kleingruppe war eine Person für die Moderation verantwortlich, um die respektvolle Kommunikation zwischen den Teilnehmenden sicherzustellen und bei Problemen mediierend einzugreifen. Da eine effektive Moderation die Arbeitseffektivität einer Gruppe signifikant verbessern kann (z. B. Lecher und Witte 2003) und insbesondere zum Monitoring des Prozesses der Zielerreichung beiträgt (z. B. Feedback innerhalb der Gruppe), wurden für die Moderation solche Personen ausgewählt, die nach Kenntnis des Organisationsteams entsprechende Kompetenzen aufwiesen. Die Herausforderungen der Kommunikation zwischen den Institutionen Schule und Hochschule wurden im Organisationsteam im Vorfeld sehr sorgfältig diskutiert. Hintergrund war die bereits erwähnte Erfahrung der cosh-Gruppe (s. Abschn. 1), dass gegenseitige Schuldzuweisungen den angestrebten Dialog zunächst verhinderten. Daher wurde zusätzlich Klaus Dürrschnabel von der cosh-Gruppe zur Auftaktveranstaltung eingeladen, um von den Erfahrungen der cosh-Gruppe zu berichten und die Teilnehmenden frühzeitig für mögliche aufkommende Probleme in der Kommunikation sowie für Lösungsmöglichkeiten zu sensibilisieren. Es wurde davon ausgegangen, dass die Teilnehmenden Herrn Dürrschnabel als Hochschulprofessor für Mathematik und Sprecher der cosh-Gruppe diesbezüglich eine hinreichende Kompetenz zusprechen würden und die Vorab-Thematisierung der Kommunikationsherausforderungen und Betonung des gemeinsamen übergeordneten Ziels zu einer Fokussierung der konstruktiven Arbeitsprozesse führt (vgl. Jonas et al. 2014).

Neben den Diskussionsmöglichkeiten in Kleingruppen, in welchen gezielt beide Sichtweisen – die der Schule und die der Hochschule – eingefordert wurden, wurden Plenumsphasen mit der gesamten Gruppe genutzt, um sowohl Möglichkeit zum Austausch innerhalb der Institutionen zur Reflexion als auch institutionsübergreifend zu geben.

2.3.5 Gestaltung der informellen Diskussionsmöglichkeiten

Die wichtigsten Projektphasen waren als zweitägige Veranstaltung mit Übernachtung in einem attraktiven Tagungshotel konzipiert. Damit ergaben sich neben den organisierten Phasen des Dialogs zahlreiche Gelegenheiten zum informellen Austausch beispielsweise während der Kaffeepausen, beim gemeinsamen Frühstück, Mittag- oder Abendessen sowie beim Abendprogramm. Explizit als Gestaltungselement in die Conjecture Map wurden die informellen Diskussionsmöglichkeiten anfangs jedoch nicht aufgenommen. Allerdings stellte sich der informelle Austausch zwischen Personen von Schule und Hochschule nach Projektbeginn als bedeutsames Gestaltungselement heraus, da so insbesondere positive Effekte bei der Vertrauensbildung erreicht und gruppeninternen Konflikten begegnet werden konnten (vgl. Abschn. 3.2, s. a. das klassische Phasenmodell der Gruppenentwicklung nach Tuckman 1965). Entsprechend wurden die informellen Diskussionsmöglichkeiten nachträglich in der Conjecture Map ergänzt.

2.4 Erwartete Prozesse

Ausgehend von den beschriebenen Gestaltungselementen wurde erwartet, dass folgende Prozesse eintreten (vgl. Abb. 1):

  1. 1.

    Es werden Aufgaben zu vorgegebenen MaLeMINT-Lernvoraussetzungen durch Schule und Hochschule entwickelt.

  2. 2.

    Es findet ein konstruktiver und respektvoller Dialog zwischen Schule und Hochschule zu mathematischen Lernvoraussetzungen für das MINT-Studium statt.

  3. 3.

    Es wird ein Konsens über die Aufgaben (inkl. Lösungen) und damit verbunden ein Konsens über erwartete und zu erzielende mathematische Lernvoraussetzungen bei MINT-Studieninteressierten ausgehandelt.

Die angenommenen Zusammenhänge zwischen den vorgestellten Gestaltungselementen und Prozessen sind in Abb. 1 als Design-Annahmen in Form von Pfeilen veranschaulicht. Der Dialog zwischen Schule und Hochschule (Prozess 2) wurde erst im Projektverlauf als wichtiger eigenständiger Prozess identifiziert und nachträglich ergänzt. Anzunehmen ist, dass das dritte Gestaltungselement „Arbeitsauftrag“ alle drei Prozesse anstößt, da die Prozesse 1 und 3 im Arbeitsauftrag explizit angesprochen werden und der Prozess 2 unmittelbar induziert wird. Darüber hinaus wurde angenommen, dass die Prozesse der Aufgabenentwicklung und der Konsensaushandlung durch die Verwendung der Fachanforderungen und des MaLeMINT-Katalogs als rahmengebende Materialien begünstigt werden. Es zeigte sich zudem im Projektverlauf, dass die Fachanforderungen dazu beitrugen, Teilnehmenden der Hochschule einen authentischen Einblick in die Inhalte und Ziele des schulischen Mathematikunterrichts zu ermöglichen, und so Anlass boten, in den Dialog zu treten. Bezüglich der Gestaltungsmerkmale „Teilnehmende“ (in ihrer Zusammensetzung) und „Diskussionsmöglichkeiten“ wurde davon ausgegangen, dass diese jeweils sowohl Voraussetzung dafür sind, dass ein Dialog eintritt, als auch, dass ein Konsens ausgehandelt wird.

2.5 Erwartete Outcomes

Bei erfolgreichem Anstoß der genannten Prozesse wurden als Ergebnisse des Abstimmungsprozesses zum einen ein AufgabenkatalogFootnote 2 erwartet, welcher:

  1. A.

    durch die Fachanforderungen Schleswig-Holsteins abgedeckt ist und

  2. B.

    Mindestanforderungen für MINT-Studiengänge in Schleswig-Holstein darstellt.

Zum anderen wurde angenommen, dass durch die gemeinsame Abstimmung über erwartete mathematische Lernvoraussetzungen:

  1. C.

    Schule und Hochschule die Perspektive der jeweils anderen Institution besser kennen.

Die Zusammenhänge, die zwischen erwarteten Prozessen und erwartetem Outcome angenommen werden (d. h. die theoretischen Annahmen), sind in Abb. 1 als Pfeile dargestellt. Angenommen wird, dass durch die Aushandlung eines Konsenses (Prozess 3) die entwickelten Aufgaben sowohl durch die Fachanforderungen abgedeckt sind (Outcome A), als auch Mindestanforderungen für MINT-Studiengänge darstellen (Outcome B), da dies laut Arbeitsauftrag jeweils Kriterien für die Konsensfindung waren. Dass die Aufgaben Mindestanforderungen darstellen, sollte darüber hinaus durch die Aufgabenentwicklung zu vorgegebenen Lernvoraussetzungen (Prozess 1) bewirkt werden, da ein Großteil dieser Lernvoraussetzungen in MaLeMINT im Konsens als erwartete Mindestvoraussetzung angegeben wurde. Ferner wurde angenommen, dass im Dialog zwischen Schule und Hochschule (Prozess 2) auch jeweils Einblicke in die Perspektive der anderen Institution gegeben werden, sodass nach dem Projekt eine bessere Kenntnis der jeweils anderen Institution vorliegt (Outcome C). Selbstverständlich umfasst diese Kenntnis noch kein vollumfängliches Verständnis der jeweils anderen Fachkultur, sondern nur erste Eindrücke, da die Einblicke vorrangig anhand der Diskussion über Aufgaben und nur in begrenztem Zeitraum gewonnen wurden.

2.6 Projektphasen

Das Projekt wurde in vier Phasen durchgeführt (s. Tab. 1).

Tab. 1 Phasen des Projektes MaLeMINT-Implementation. Die Personengruppen setzten sich in allen Phasen aus Vertreterinnen und Vertretern von Schule und Hochschule zusammen. Die Teilnehmenden aus Phase 1 und 3 waren weitestgehend identisch und die Gruppen aus Phase 2 und 4 jeweils Teilmengen hiervon. Die Phase 4 hat sich durch die Herausforderungen der Covid19-Pandemie stark verzögert

In Phase 1 wurden der Abstimmungsprozess angestoßen und erste Entwürfe von Aufgaben zu den MaLeMINT-Lernvoraussetzungen im Rahmen einer Arbeitstagung entwickelt. Dieser Abstimmungsprozess wurde im Anschluss von einer Fokusgruppe fortgesetzt und die Aufgabenentwürfe ergänzt und überarbeitet (Phase 2), sodass schließlich eine erste Version eines vollständigen Aufgabenkataloges vorlag. Dieser Aufgabenkatalog wurde allen Beteiligten als Ergebnis des Abstimmungsprozesses zurückgespiegelt und im Rahmen einer zweiten Arbeitstagung noch einmal diskutiert, kontrolliert und optimiert (Phase 3). Im Anschluss wurde der gesamte Aufgabenkatalog in der vierten Phase im Rahmen einer Expertenprüfung jeweils von einer Person der Schule und einer Person der Hochschule auf Konsistenz und inhaltliche Korrektheit gesichtet.

3 Methoden zur Projektevaluation

Zur Evaluation, inwiefern das Projektziel erreicht wurde, eine Abstimmung zwischen Schulen und Hochschulen über mathematische Mindestanforderungen zu initiieren, wurde überprüft, ob die zuvor skizzierten erwarteten Prozesse angestoßen wurden und die erwarteten Outcomes eingetreten sind. In Tab. 2 findet sich eine Übersicht, welche Datenquellen jeweils für welche Prozesse und Outcomes herangezogen wurden. Neben den direkt beobachtbaren Prozessen und Artefakten wurde auf drei Datenquellen zurückgegriffen: (a) eine schriftliche Befragung der Teilnehmenden, (b) ein Auswertungsgespräch und eine schriftliche Befragung der Moderatorinnen und Moderatoren der Kleingruppen sowie (c) eine Untersuchung der entwickelten Aufgaben. Wie zuvor erwähnt (Abb. 1, Abschn. 2.3 und 2.4) wurde während der ersten Projektphase ein Gestaltungselement der Conjecture Map ausdifferenziert und ein Prozess ergänzt. Diese Anpassungen als Zwischenergebnisse der formativen Evaluationsmaßnahmen werden in diesem Abschnitt kurz berichtet, während die Ergebnisse der summativen Evaluation der finalen Conjecture Map in Abschn. 4 vorgestellt werden.

Tab. 2 Übersicht über die hinzugezogenen Datenquellen zur Überprüfung der erwarteten Prozesse und des erwarteten Outcomes

3.1 Artefakte: entwickelte Aufgaben

In jeder Projektphase wurden Aufgaben und Anmerkungen dazu schriftlich festgehalten und vom Organisationsteam archiviert. In der ersten Projektphase war bei jeder entwickelten Aufgabe explizit anzukreuzen, ob ein Konsens vorlag oder nicht. Die Daten wurden daraufhin untersucht, ob beide Fälle auftraten, die Teilnehmenden also in die Diskussion getreten sind. In der dritten Projektphase genügte ein Verweis, dass kein Konsens vorlag. Die Zahl solcher Verweise wurde im Anschluss gezählt, um zu ermitteln, ob alle Aufgaben im Konsens verabschiedet wurden oder nicht. Darüber hinaus wurden die Anmerkungen aller Projektphasen danach gesichtet, ob in ihnen Vermerke zu den Fachanforderungen enthalten waren. So wurde überprüft, ob die Abdeckung der Lernvoraussetzungen durch die Fachanforderungen berücksichtigt wurde.

3.2 Befragung der Teilnehmenden

Direkt im Anschluss an Projektphase 1 wurden alle 49 Teilnehmenden, die nicht zum Organisationsteam gehörten, zu einer Online-Befragung eingeladen. 20 Personen folgten der Einladung, wovon 13 zur Gruppe der Schule gehörten und 7 zur Hochschule. Die Befragung bestand aus geschlossenen und offenen Fragen zum Empfinden der Arbeitsatmosphäre (Evaluation Prozess 2), sowie zu neuen Einblicken in die jeweils andere Institution (Evaluation Outcome C). Der Fragebogen kann im Online-Supplement dieses Beitrags eingesehen werden.

Die offenen Antworten wurden zunächst von einer Person mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) hinsichtlich der folgenden Fragen ausgewertet (induktive Kategorienbildung): (1) Welche Angaben machen die Teilnehmenden hinsichtlich eines respektvollen Dialogs zwischen den Institutionen Schule und Hochschule? (2) Welche neuen Einblicke haben die Teilnehmenden in die jeweils andere Institution erhalten? Anschließend wurde das entwickelte Kategoriensystem von einer zweiten unabhängigen Person auf den Datensatz angewendet. Unstimmigkeiten zwischen den Kodierungen wurden im Konsensverfahren gelöst.

3.3 Auswertungsgespräch und Befragung der Moderatorinnen und Moderatoren der Kleingruppen

Um Aufschluss darüber zu erhalten, wie die gemeinsame Arbeit von Mathematiklehrkräften und Hochschullehrenden in den Kleingruppen am ersten Tag der Arbeitstagung in Projektphase 1 ablief, wurde als formative Evaluationsmaßnahme am ersten Abend ein Gruppengespräch mit allen Moderatorinnen und Moderatoren geführt. Dabei sollte insbesondere analysiert werden, ob die – zu diesem Zeitpunkt des Projekts – angestrebten Prozesse 1 (Aufgabenentwicklung) und 3 (Konsensaushandlung) effektiv stattgefunden haben und ob es trotz der Präventivmaßnahmen (vgl. Abschn. 2.3.4) zu Konflikten gekommen ist. Die sehr ähnlichen Berichte aus den Kleingruppen ergaben, dass am ersten Tag nur wenige Aufgaben entwickelt wurden, für die aber zumeist eine Konsensaushandlung gelungen ist. Die Ursache der geringen Effektivität war, dass Lehrkräfte und Hochschullehrende bei der gemeinsamen Arbeit mit großem Interesse die Sichtweisen – und damit die dahinterliegenden Normen – der jeweils anderen Seite kennenlernen wollten. Die unterschiedlichen Fachkulturen führten hier somit nicht zu Kommunikationsproblemen, sondern wurden zum Kommunikationsgegenstand. Dies führte nicht nur zu einem gegenseitigen Kennenlernen auf der persönlichen Ebene, sondern auch zur Wahrnehmung der jeweiligen spezifischen Kompetenzen für die Tätigkeiten an Schule bzw. Hochschule. Die Gespräche setzten sich teilweise in den Kaffeepausen fort bzw. wurden auf den Abend verabredet. Als Konsequenz aus diesen Erkenntnissen und der Tatsache, dass die Kleingruppenarbeit am Folgetag (sowie auch in den Projektphasen 2 und 3) deutlich schneller und effektiver war, wurde der Prozess 2 (Dialog zwischen Schule und Hochschule) sowie das Gestaltungselement der informellen Diskussionsmöglichkeit als relevante Aspekte des Designs ergänzt (Abb. 1) und mittels der summativen Evaluation weiter untersucht.

Wie die Teilnehmenden (Abschn. 3.2) wurden auch die Moderatorinnen und Moderatoren per Online-Erhebung befragt, ob in den Kleingruppen ein respektvoller Dialog geführt worden ist. Sechs der zehn Personen nahmen an der Befragung teil, wovon vier sowohl in Projektphase 1 als auch in Phase 3 eine Kleingruppe moderierten. Die Teilnehmenden erhielten sieben Multiple-Choice-Items zur Beurteilung der Zusammenarbeit in den Kleingruppen. Zudem wurde in zwei offenen Items nach aufgetretenen Problemen sowie einer möglichen festgestellten Entwicklung während der Kleingruppenarbeit gefragt (siehe Online-Supplement für den kompletten Fragebogen). Die Daten wurden ebenfalls zunächst von einer Person mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) ausgewertet (induktive Kategorienbildung) und anschließend doppelkodiert, wobei Unstimmigkeiten im Konsensverfahren gelöst wurden.

3.4 Untersuchung der entwickelten Aufgaben

Um Hinweise zu erhalten, ob die Abstimmung dahingehend gelungen war, dass die entwickelten Aufgaben tatsächlich Mindestvoraussetzungen für ein MINT-Studium darstellen (Outcome B), wurde die prädiktive Validität des Aufgabenkatalogs für den Studienerfolg untersucht. Dafür wurde aus den entwickelten Aufgaben ein Test erstellt und ermittelt, inwiefern das Testergebnis zu Studienbeginn prädiktiv für das Bestehen der Mathematikklausuren war. Der Einsatz der Aufgaben in Form eines Testes barg das Problem, dass die Aufgaben ursprünglich nicht zu diesem Zweck konzipiert waren. Im Rahmen des Testes mussten die Aufgaben ohne Vorbereitung, ohne Möglichkeit zur kurzen Auffrischung von Wissen und unter Zeitdruck bearbeitet werden. Dies weicht von der ursprünglichen Konzeption der Aufgaben als Illustration von Lernvoraussetzungen, die nach kurzer Auffrischung vorhanden sein müssen, um das erste Semester erfolgreich bestehen zu können, ab. Nichtsdestotrotz versprach dieses Vorgehen einen ersten Ansatz zur Überprüfung, inwiefern die Abstimmung zwischen Schule und Hochschule auf Mindestvoraussetzungen geglückt ist, da ermittelt werden konnte, inwieweit das unter Zeitdruck und ohne Vorbereitung zur Verfügung stehende Wissen das Klausurbestehen prädiziert. Angenommen wurde, dass die Testleistung prädiktiv für das Klausurbestehen ist, wenn der Aufgabenkatalog Mindestanforderungen für ein Studium darstellt. Eine Interpretation einzelner Items hinsichtlich ihrer empirischen Prädiktivität war dabei nicht intendiert. Hervorzuheben ist, dass der Test primär zu einer Überprüfung der Aufgaben dienen sollte (und zwar im Hinblick darauf, ob sie in ihrer Gesamtheit Mindestanforderungen illustrieren) und nicht Erkenntnisse über den Wissensstand der Studierenden erzielt werden sollten. Im Folgenden wird das methodische Vorgehen zur Konzeption und Auswertung kurz skizziert. Details dazu werden im Online-Supplement erläutert.

Ausgehend von 255 entwickelten Aufgaben wurden diejenigen 124 Aufgaben ausgewählt, die als Testaufgaben geeignet erschienen und eine möglichst breite Abdeckung der von Schule und Hochschule erwarteten Lernvoraussetzungen ermöglichten. Ein Beispielitem ist in Abb. 3 dargestellt. Als Testzeit standen 45 min zur Verfügung, sodass aus Gründen der Testökonomie ein Multi-Matrix-Design verwendet wurde.

Abb. 3
figure 3

Beispielitem zur MaLeMINT-Lernvoraussetzung „Mengen, Mengendarstellungen und Mengenoperationen“

Die Aufgaben wurden zu Beginn des Wintersemesters 2019/20 an der Universität Kiel in den MINT-Studiengängen Biologie, Chemie, Informatik, Ingenieurwissenschaften, Mathematik, Pharmazie und Physik eingesetzt. Insgesamt nahmen 647 Studierende teil (54 % weiblich, Alter: M = 19,9 Jahre, SD = 2,6 Jahre). Vollständige Daten (Eingangstest, Klausurnote, Einverständniserklärung) lagen von 307 Studierenden vor (47 % weiblich, Alter: M = 19,9 Jahre, SD = 2,6 Jahre). Die Studierendenangaben wurden durch drei geschulte Hilfskräfte anhand eines Kodierleitfadens mit einem Partial-Credit Score bzw. dichotom kodiert. Zur Sicherung der Objektivität wurden 20 % der Daten doppelt kodiert. Eine zufriedenstellende Übereinstimmung wiesen 96 Items mit einem Fleiss’ κ ≥ 0,80 auf (Fleiss 1971). Die übrigen 28 Items wurden im Konsensverfahren für die gesamte Stichprobe nachkodiert.

Für die Skalierung der kodierten Testdaten wurde ein eindimensionales Partial-Credit-Modell (PCM, Masters 1982) verwendet. Das Modell wies eine akzeptable EAP/PV-Reliabilität von 0,77; ausschließlich positive Itemtrennschärfen sowie nach Bond et al. (2021) akzeptable Infit-MNSQ-Werte zwischen 0,69 und 1,22 auf, sodass eine zufriedenstellende eindimensionale Skalierung vorlag. Für die Bestimmung von Personenfähigkeitswerten wurden 25 Plausible Values pro Person gezogen, um die Populationsvarianz adäquat abzubilden.

Um ermitteln zu können, inwiefern die Testleistung zu Studienbeginn die Klausurleistung am Ende des Semesters vorhersagte, wurden in allen beteiligten Studiengängen die Klausurergebnisse in Mathematik erhoben. In allen untersuchten Studiengängen stellten mindestens 78 % der Studierenden, die an der Klausur teilgenommen hatten, ihre Klausurnoten zur Verfügung. Es wurde mittels logistischer Regressionen überprüft, ob die Testleistung prädiktiv für das Bestehen der Klausur war. Zur Beurteilung der Güte dieser Modelle wurde die Devianz analysiert und Likelihood-Ratio-Tests durchgeführt.

4 Ergebnisse

Zunächst kann festgehalten werden, dass das Projekt auf Akzeptanz bei den Teilnehmenden stieß. In Phase 1 nahmen alle eingeladenen Personen (bis auf einen Krankheitsfall) am Projekt teil, und es wiederholten fast alle ihre Teilnahme auch in späteren Phasen. Auch in den Kommentaren der Teilnehmenden in der Nachbefragung fanden sich explizite Hinweise auf die Unterstützung des Projektes, z. B. „Vielen Dank für das toll gestaltete Umfeld. An ganz vielen Kleinigkeiten […] wurde die Wertschätzung des Orgateams gegenüber den Teilnehmern deutlich, so dass ich mich gerne eingebracht habe, auch wenn es am Ende einer anstrengenden Woche war.“ (Teilnehmer/in Schule). Die Voraussetzungen dafür, dass eine Abstimmung stattfinden kann, waren damit gegeben.

Im Folgenden werden die Ergebnisse zunächst für die erwarteten Prozesse und anschließend für jedes erwartete Outcome berichtet.

4.1 Evidenz für eingetretene Prozesse

Da in jeder Projektphase schriftlich Aufgaben oder Anmerkungen zu Verbesserungen bereits bestehender Aufgaben festgehalten wurden, ist der erwartete Prozess der Aufgabenentwicklung (Prozess 1) anhand von Artefakten nachvollziehbar und kann als erfolgreich eingetreten beurteilt werden. Exemplarisch ist dies in Abb. 4 und 5 veranschaulicht, in welchen dargestellt wird, wie sich die Aufgabe zur Lernvoraussetzung „Funktionenscharen (Funktionen mit Parametern)“ über die Projektphasen verändert hat. In Abb. 4 ist ersichtlich, dass zu der Aufgabe zunächst kein Konsens vorlag. Die Aufgabe wurde daher in der zweiten und dritten Projektphase ausgetauscht und überarbeitet, wie Abb. 5 zeigt, sodass schließlich ein Konsens vorlag.

Abb. 4
figure 4

Entwickelte Aufgabe aus der ersten Projektphase zur Lernvoraussetzung „Funktionenscharen (Funktionen mit Parametern)“. Oben rechts ist angegeben, dass zu dieser Aufgabenversion noch kein Konsens vorlag

Abb. 5
figure 5

Überarbeitete Aufgabe zur Lernvoraussetzung „Funktionenscharen (Funktionen mit Parametern)“. Die gedruckte Version spiegelt den Stand nach der zweiten Projektphase wider, die handschriftlichen Anmerkungen den der dritten Projektphase. Da keine gegenteilige Anmerkung verfasst wurde, wurde die Aufgabe in der dritten Projektphase mit Konsens verabschiedet

Um zu überprüfen, ob auch Prozess 2 (Dialog zwischen Schule und Hochschule) angestoßen werden konnte, wurde auf die Daten der Befragungen der Teilnehmenden sowie der Moderatorinnen und Moderatoren der Kleingruppen zurückgegriffen. In der Teilnehmendenbefragung beurteilten alle Personen das Verhältnis zwischen Schule und Hochschule in den geschlossenen Fragen als angenehm oder sehr angenehm. Auch in den offenen Kommentarfeldern fanden sich keine Nennungen negativer Aspekte bezogen auf die Zusammenarbeit zwischen Schule und Hochschule. Positiv hervorgehoben wurden insbesondere die Aufgeschlossenheit der Teilnehmenden, die angenehme Arbeitsatmosphäre, die Bereitschaft zur Einnahme der jeweils anderen Perspektive sowie die Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit der Teilnehmenden.

Die befragten Moderatorinnen und Moderatoren der Kleingruppen beurteilten die Aussage, dass ein respektvoller Dialog zwischen den Institutionen stattgefunden hat, als zutreffend oder voll zutreffend. Außerdem erachteten sie es für sehr wichtig, dass auch außerhalb der Arbeitsphasen Gelegenheiten zum informellen Austausch zwischen den Institutionen gegeben waren. Als Probleme, die während der Kleingruppenarbeit aufgetreten waren, wurden vereinzelt Herausforderungen mit einzelnen Personen angeführt (Dominanzansprüche, eine unangebrachte genderspezifische Bemerkung sowie Missverständnisse darüber, dass der Aufgabenkatalog nicht die Fachanforderungen ändern kann), die jedoch in der Kleingruppe selbst gelöst wurden. Lediglich eine Person gab an, dass in Projektphase 1 in ihrer Kleingruppe jeweils eine Person der Schule und der Hochschule „renitent und wenig zugänglich für kompetenzorientierten Unterricht“ gewesen sei, was zu Problemen in der Zusammenarbeit geführt habe und auch nicht gelöst werden konnte. Da diese Einstellung bei den anderen Tagungsteilnehmenden nicht vorzufinden war, ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um Einzelmeinungen handelte.

Neben diesen vereinzelt aufgetretenen Problemen wurde die Kommunikation sonst sehr positiv beurteilt. Angegeben wurde, dass zwar intensiv diskutiert wurde, der Austausch jedoch wertvoll war und ein großes Interesse an der Sicht und den Bedürfnissen der jeweils anderen Institution bestand. In Bezug auf die Frage nach positiven oder negativen Entwicklungen wurden nur positive Aspekte genannt. Hier wurde eine allgemein positive Entwicklung von Tagung 1 (Projektphase 1) zu Tagung 2 (Projektphase 3) konstatiert (u. a. ist die anfänglich vorsichtige Zurückhaltung gewichen) sowie ein verbessertes Verständnis und eine erhöhte Akzeptanz der jeweils anderen Seite und ein damit verbundener gewachsener Kooperationswille: „Es entwickelte sich ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse, die Möglichkeiten und die Probleme der Schule und der Hochschule, eine höhere Akzeptanz (Sie sind die Expertinnen und Experten für die Mathematik-Vermittlung in Ihrer Institution) sowie ein Kooperationswille (Wie können wir unsere Bildungsangebote kompatibler gestalten?)“ (Kleingruppenmoderator/in Projektphase 1 und 3).

Zusammenfassend deuten die Rückmeldungen der Teilnehmenden sowie der Moderatorinnen und Moderatoren darauf hin, dass in den Kleingruppen wie intendiert tatsächlich ein konstruktiver und respektvoller Dialog geführt wurde, der zusätzlich aufgenommene Prozess 2 also eingetreten ist und die informellen Diskussionsmöglichkeiten als wichtig angesehen wurden. Hierbei ist hervorzuheben, dass die unterschiedlichen Fachkulturen, die im Mathematikunterricht an Schule und Hochschule vorherrschen, im Dialog tatsächlich zutage getreten sind und die Teilnehmenden sich über diese erst verständigen mussten, bevor eine konstruktive Zusammenarbeit vollzogen werden konnte.

Auch die Aushandlung eines Konsenses zu den gemeinsam entwickelten Aufgaben (Prozess 3) kann als erfolgreich eingetreten beurteilt werden. In Projektphase 1 wurde schriftlich neben jeder entwickelten Aufgabe festgehalten, ob ein Konsens vorlag oder nicht (vgl. Abb. 4). Beide Fälle traten auf, was Hinweise darauf gab, dass tatsächlich eine Aushandlung stattfand. Nach Projektphase 1 lagen insgesamt 90 Aufgaben mit Konsens vor, 15 Aufgaben ohne Konsens und 18 Aufgaben, bei denen nicht angegeben wurde, ob ein Konsens erzielt wurde. Aufgaben ohne Konsens wurden in Phase 2 und 3 verändert oder ausgetauscht, was ebenfalls schriftlich festgehalten wurde. Nach Phase 3 lagen insgesamt 255 Aufgaben vor, wobei bei keiner Aufgabe mehr vermerkt wurde, dass zu dieser kein Konsens bestandFootnote 3. Ein weiteres Indiz, dass eine Konsensaushandlung stattgefunden hat, wurde zudem dadurch geliefert, dass die ursprüngliche Formulierung einiger MaLeMINT-Lernvoraussetzungen abgeändert wurde. So konnte in der ersten Projektphase für die ursprüngliche Lernvoraussetzung „Begriff der Folge als Abbildung von ℕ nach ℝ“ kein Konsens erzielt werden (Abb. 6a), für die abgewandelte Version „Mit Zahlenfolge (auch unendlich) umgehen“ hingegen schon (Abb. 6b).

Abb. 6
figure 6

a Die ursprüngliche Formulierung der Lernvoraussetzung zum Folgenbegriff, die von der Hochschule gefordert wurde, jedoch ohne Konsens mit der Schule. b Die angepasste Lernvoraussetzung mit Konsens

4.2 Evidenz für erreichte Outcomes

4.2.1 Abdeckung durch die Fachanforderungen

Die Expertenprüfung in der vierten Projektphase lieferte zunächst 167 Anmerkungen von Hochschulseite und anschließend 49 Anmerkungen von Schulseite (jeweils wenige zu fachlichen Fehlern und viele zur formalen und konsistenten Darstellung). Dabei wurden keine Diskrepanzen zwischen Aufgabenkatalog und Fachanforderungen für die Sekundarstufen I und II an allgemeinbildende Schulen in Schleswig-Holstein konstatiert, was als Evidenz für eine gelungene Passung gewertet werden kann. Zudem wurde zu mehreren MaLeMINT-Lernvoraussetzungen keine Aufgabe entwickelt und dies schriftlich mit „nicht durch die Fachanforderungen Schleswig-Holsteins abgedeckt“ kommentiert (s. Abb. 7). Dies weist darauf hin, dass die Beteiligten bei den Prozessen 1 und 3 (Aufgabenentwicklung und Konsensaushandlung) explizit auf eine Passung zwischen erwarteter Lernvoraussetzung und Fachanforderungen geachtet hatten und diese nicht zufällig eintrat.

Abb. 7
figure 7

Beispiel einer Lernvoraussetzung („Beweisverfahren (direkter und indirekter Beweis, vollständige Induktion)“), welche teilweise gestrichen wurde, weil sie laut Hochschule nicht explizit notwendig ist, und teilweise, weil sie nicht durch die Fachanforderungen Schleswig-Holsteins abgedeckt ist

4.2.2 Mindestanforderungen für MINT-Studiengänge

Um zu untersuchen, ob die Abstimmung in den Prozessen 1 und 3 auch insofern gelungen war, als dass der entwickelte Aufgabenkatalog Mindestanforderungen zu mathematischen Lernvoraussetzungen für MINT-Studiengänge darstellt, wurde die prädiktive Validität des Aufgabenkatalogs für den Klausurerfolg im ersten Semester geprüft. Dafür wurden die Aufgaben in einem Test eingesetzt (vgl. Abschn. 3.4).

Tab. 3 zeigt, dass sich die mittleren Testleistungen ebenso wie die Bestehensquoten zwischen den Studiengängen teils stark unterschieden. Dieser Befund verdeutlicht, dass die Mathematikklausuren in den einzelnen Studiengängen in Inhalt und Anspruch erheblich variierten und daher nicht oder nur bedingt miteinander vergleichbar waren. Die nachfolgenden Analysen wurden daher getrennt für die einzelnen Studiengänge vorgenommen.

Tab. 3 Übersicht über Mittelwerte der Testleistung θ aus dem Test und über Bestehensquoten der Klausuren

Mittels logistischer Regressionen wurde untersucht, ob das Testergebnis prädiktiv für das Bestehen der Mathematikklausuren war. Die Ergebnisse sind in Tab. 4 dargestellt. Nach dem Likelihood-Ratio-Test zeigten die Modelle mit dem Prädiktor Testleistung für die beiden Klausuren im Studiengang Mathematik und die Mathematikklausuren in Chemie und Physik das Bestehen signifikant besser hervor als die jeweiligen Nullmodelle. Dagegen ergab sich in den Studiengängen Biologie, Informatik, Ingenieurwissenschaften und Pharmazie keine signifikant bessere Vorhersage des Klausurbestehens durch die Modelle mit dem Prädiktor Testleistung. In diesen Studiengängen haben leider nur wenige Studierende ihre Angaben zur Verfügung gestellt, die auch am Eingangstest teilgenommen hatten (s. Tab. 3).

Tab. 4 Logistische Regressionsmodelle zur Vorhersage des Klausurbestehens durch den Prädiktor Testleistung. Die unabhängige Variable wurde standardisiert

4.2.3 Bessere Kenntnis der jeweils anderen Perspektive

Um zu ermitteln, ob die Teilnehmenden aus Schule und Hochschule im Rahmen des Projektes die Perspektive der jeweils anderen Institution besser kennengelernt hatten, wurden sie befragt, welche neuen Einblicke sie in die Arbeit ihrer Kolleginnen und Kollegen erhalten haben. Außer einer Person gaben alle Befragten an, neue Einblicke in die Arbeit an der jeweils anderen Institution erlangt zu haben. Von Schulseite wurde Überraschung darüber geäußert, dass die Hochschulerwartungen an Studienanfängerinnen und Studienanfänger geringer ausfallen als erwartet und dass es Diskrepanzen zwischen den Fachanforderungen der Schule und Erwartungen der Hochschule gibt. Auch zeigten sich Lehrkräfte überrascht, dass bei Teilnehmenden der Hochschulseite teils geringe Kenntnisse über die Anforderungen des Abiturs vorlagen und dass Inhalten der Sekundarstufe I eine hohe Bedeutung zugeschrieben wurde. Von Hochschulseite wurde vor allem eine unerwartete „Bürokratisierung“ (Teilnehmer/in Hochschule) der Schule in Bezug auf Operatoren und Notationen als überraschender neuer Einblick angeführt sowie die veränderte inhaltliche Ausrichtung. Hier gab es sowohl Personen, die anmerkten, dass weniger Inhalte als erwartet unterrichtet werden als auch das genaue Gegenteil, dass mehr unterrichtet wird, als man erwartet hatte. Weitere neue Einblicke wurden von mehreren Teilnehmenden der Hochschule darüber gewonnen, welche unterschiedlichen mathematischen Lernvoraussetzungen mit verschiedenen Hochschulzugangsberechtigungen verbunden sind: „[Mich hat überrascht:] die großen Unterschiede zwischen Abiturprüfungen an ‚richtigen‘ Gymnasien einerseits und anderen Hochschulzugangsberechtigungen an Beruflichen Gym., FOS, BOS, FHR etc.“ (Teilnehmer/in Hochschule).

Auch einige Moderatorinnen und Moderatoren der Kleingruppen beobachteten, dass in ihrer Kleingruppe Einsichten in die beiden Institutionen Schule und Hochschule gewonnen werden konnten: „Einer der Hochschullehrenden hat sich immer wieder darüber gefreut, einen so tiefen Einblick in den aktuellen Mathematikunterricht zu erhalten.“ (Kleingruppenmoderator/in in Projektphase 1 und 3). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Teilnehmenden über relevante Themen des Übergangs gesprochen und so Einblicke in die jeweils andere Institution, deren Perspektive und Fachkultur erhalten haben.

5 Zusammenfassung

Ziel des Projektes war die Entwicklung eines Lösungsansatzes für das bestehende Praxisproblem mangelnder Abstimmungsprozesse zwischen Schule und Hochschule darüber, welche mathematischen Lernvoraussetzungen in MINT-Studiengängen von Hochschulen erwartet werden und von Schulen erreicht werden können. Mithilfe des Conjecture-Mapping-Ansatzes nach Sandoval (2014) wurde modelliert, welche Prozesse und welches Outcome auf Basis des Designs erwartet und welche Zusammenhänge über Gestaltungselemente, Prozesse und Outcome angenommen wurden. Auf Basis der Artefaktanalyse und der erhobenen Daten kann zusammenfassend festgehalten werden, dass die erwarteten Prozesse und das erwartete Outcome zu großen Teilen eingetreten sind bzw. erreicht wurden. Diese Einschätzung basiert wesentlich auf den empirisch erhobenen Daten (s. a. Abschn. 6 für die Interpretation und die Limitationen). In Tab. 5 sind die Ergebnisse in einer Übersicht zusammengefasst.

Tab. 5 Übersicht über die Befunde und Evidenzkriterien für das Eintreten erwarteter Prozesse und Outcomes im Projekt MaLeMINT-Implementation. Einzig das erreichte Outcome B fiel geringer aus als das erwartete (s. Hervorhebung)

6 Diskussion und Ausblick

Vertreterinnen und Vertreter von Schulen und Hochschulen in Schleswig-Holstein konnten sich im vorgestellten Design-Projekt auf eine gemeinsame Basis erwarteter und zu erzielender mathematischer Lernvoraussetzungen für ein MINT-Studium verständigen. Entsprechend kann das vorgestellte Design als Lösungsansatz für das Ausgangsproblem der mangelnden Abstimmungsprozesse zwischen den beiden Institutionen angesehen werden. Neben der Lösung dieses Praxisproblems war ein weiteres Projektziel die Generierung von Wissen über Charakteristika eines solchen Lösungsansatzes, um eine Übertragbarkeit auf andere Kontexte zu ermöglichen. Dieses wird im Folgenden diskutiert.

6.1 Diskussion der Gestaltungselemente und Design-Anpassungen

6.1.1 Teilnehmende

Wie in den Projekten der Gruppen cosh und IGeMA setzten sich die Teilnehmenden aus Vertreterinnen und Vertreter von Schule und Hochschule zusammen. Die Ergebnisse der Befragung der Teilnehmenden legten nahe, dass sich beide Gruppen gleichermaßen respektvoll behandelt und von der jeweils anderen Institution ernst genommen fühlten. Gegenseitige Dominanzansprüche traten nur bei einzelnen Personen auf und konnten aufgelöst werden. Dies wird als Indiz dafür gewertet, dass eine ausgewogene Zusammensetzung der Teilnehmenden notwendige Voraussetzung ist, um beide Institutionen gleichermaßen im Dialog sichtbar werden zu lassen (Prozess 2). Gleichzeitig zeigen die Erfahrungen der cosh-Gruppe, dass dies keine hinreichende Bedingung dafür ist, dass von Beginn an ein konstruktiver Dialog ohne gegenseitige Schuldzuweisungen stattfindet (Dürrschnabel und Wurth 2016).

Hervorzuheben ist die Beteiligung der Bildungspolitik in Form des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur an dem Projekt. Dadurch, dass das MBWK als Mitorganisator auftrat, war die politische Bedeutung und damit auch die Wertschätzung, die dem Projekt und den Teilnehmenden von politischer Seite zugesprochen wurde, stets sichtbar. Darüber hinaus war durch die Beteiligung des MBWK, welches in Schleswig-Holstein sowohl für Schulen als auch Hochschulen zuständig ist, eine übergeordnete Instanz am Projekt beteiligt, welche die Interessen beider Bildungsinstitutionen zu vereinen versucht und nach außen vertritt. Es ist davon auszugehen, dass dies den Teilnehmenden verdeutlichte, dass beide Perspektiven – die der Schule und die der Hochschule – gleichermaßen von Bedeutung und im gemeinsamen Konsens zu berücksichtigen sind (Prozess 3). Dies steht auch im Einklang mit den Befunden von Sartory et al. (2018), dass sich die beteiligten Institutionen als Verantwortungsgemeinschaft begreifen müssen, die gemeinsam beide Perspektiven einbezieht. Dass darüber hinaus die Wahl des Tagungshotels (vom MBWK finanziert), die dortige Arbeitsatmosphäre und die wahrgenommene Wertschätzung von mehreren Teilnehmenden positiv hervorgehoben wurden, gibt ebenfalls Hinweise darauf, dass die Beteiligung einer höheren politischen Entscheidungsebene eine wichtige Rahmenbedingung darstellt. Es ist anzunehmen, dass dies die Bereitschaft der Teilnehmenden steigerte, sich in das Projekt verantwortungsvoll einzubringen und den Prozess der Konsensbildung aktiv mitzugestalten, was wiederum die Zielbindung und Bedeutungsbeimessung im Sinne der Zielsetzungstheorie (s. Abschn. 2.3) fördert.

6.1.2 Materialien

Der Dialog und die Abstimmung auf einen gemeinsamen Konsens über erwartete mathematische Lernvoraussetzungen wurde anhand des MaLeMINT-Katalogs sowie der Fachanforderungen Mathematik geführt. Aufgrund des Charakters der Dokumente traten keine Konflikte darüber auf, ob Erwartungen der Hochschule und Inhalte der Schule legitimiert waren. Insbesondere der explizite Referenzrahmen der Fachanforderungen konnte dazu beitragen, dass keine Unstimmigkeiten zwischen Erwartungen der Hochschule und zugesicherten Leistungen der Schule bestehen blieben (Prozess 3, Outcome A). Dies war in den Projekten von cosh und IGeMA anders, da beide Diskrepanzen zwischen Hochschulerwartungen und Bildungsstandards auswiesen (cosh 2021; MK & MWK 2019). Entsprechend sind die Verwendung allgemein akzeptierbarer Referenzrahmen sowohl für die Erwartung der Hochschulseite als auch für die Ziele des Mathematikunterrichts als wichtiges Gestaltungselement hervorzuheben, damit eine Konsensfindung nicht durch Grundsatzdiskussionen verhindert wird. Die Rückmeldungen der Teilnehmenden zeigten zudem, dass die Fachanforderungen den Hochschullehrenden anhand konkreter Beispiele auch authentische Einblicke in die Inhalte des aktuellen Mathematikunterrichts ermöglichten. Damit unterstützten sie die Initiierung eines Dialoges (Prozess 2) und das gegenseitige Kennenlernen der jeweils anderen Perspektive und Fachkultur (Outcome C), was sich in diesem Projekt als wichtiger Prozess für eine erfolgreiche Abstimmung herausgestellt hat.

6.1.3 Arbeitsauftrag

Die Teilnehmenden haben nach eigenen Angaben während der Aufgabenentwicklung (Prozess 1) über Fachanforderungen sowie Erwartungen der Hochschulen diskutiert. Entsprechend erscheint die gemeinsame Entwicklung von Aufgaben geeignet, um Schulen und Hochschulen zu einer Abstimmung über mathematische Lernvoraussetzungen am Übergang in ein MINT-Studium anzuregen (Prozess 3). Hervorzuheben ist, dass der Bezug zu Fachanforderungen und Erwartungen der Hochschulen im Arbeitsauftrag explizit vermerkt war (vgl. Abb. 2). Anzunehmen ist, dass die eigene Entwicklung von Aufgaben nicht zwingend notwendig ist und auch die Diskussion konkreter bereits vorhandener Aufgaben einen entsprechenden Dialog anregen kann (Prozess 2). Diese Annahme stützt sich darauf, dass zum einen in den Projektphasen 1 und 2 auch Aufgaben aus Schulbüchern, dem cosh-Katalog oder privaten Sammlungen der Teilnehmenden verwendet wurden. Zum anderen wurden in Phase 3 die mathematischen Lernvoraussetzungen ausschließlich anhand von vorhandenen Aufgaben diskutiert, die zwar teilweise noch verändert, aber nur im Ausnahmefall verworfen und durch neu entwickelte Aufgaben ersetzt wurden.

Im Arbeitsauftrag war zudem explizit vermerkt, dass die entwickelten Aufgaben Mindestanforderungen für ein MINT-Studium in Schleswig-Holstein darstellen sollten, d. h. dass sie zum erfolgreichen Abschließen des ersten Semesters benötigt werden (Outcome B). Die Ergebnisse der nachträglichen empirischen Evaluation der Aufgaben an einer Studienkohorte der Universität Kiel geben Hinweise, dass dieses vermutlich in Teilen geglückt ist und der Katalog in seiner Gesamtheit für einige MINT-Studiengänge Mindestanforderungen darstellt (vgl. Abschn. 4.2.2). In diesem Zusammenhang ist zu betonten, dass aus den Daten nicht geschlossen werden kann, dass einzelne Aufgaben, die in der empirischen Erprobung nicht von allen Studierenden gelöst werden konnten, die die Klausur bestanden haben, keine Mindestanforderungen im Sinne der Abstimmung zwischen Schule und Hochschule darstellen. Die Erprobung der Aufgaben im Rahmen des Testes zu Studienbeginn konnte aus praktischen Gründen nur mit begrenztem Zeitrahmen, ohne Vorbereitungszeit und ohne Möglichkeit zur Auffrischung von Wissen erfolgen. Daher können Aufgaben, die in dieser Studie empirisch nicht notwendig für das Klausurbestehen waren, durchaus Mindestanforderungen im Sinne des Abstimmungsprozesses darstellen. Es ist dennoch nicht auszuschließen, dass die in den Aufgaben abgebildeten mathematischen Lernvoraussetzungen in einem Teil der untersuchten MINT-Studiengänge möglicherweise über Mindestvoraussetzungen hinausgehen. Aufgrund der teils geringen Stichprobenzahlen in den untersuchten Studiengängen und einer Beschränkung der Validitätsstudie auf die Universität Kiel sind diese Ergebnisse noch in weiteren Studien zu validieren (s. Abschn. 6.2 Limitationen).

6.1.4 Gestaltung der Diskussionsmöglichkeiten

Wie in Abschn. 4.1 dargestellt, zeigten sich in den Kleingruppen konstruktive und effektive Arbeitsprozesse und die vereinzelt berichteten Probleme konnten durch Moderation gelöst werden. Es ist davon auszugehen, dass hierbei zum einen die Vorab-Thematisierung von möglichen Kommunikationsproblemen (u. a. durch den Sprecher der cosh-Gruppe, vgl. Abschn. 2.3.4) die Teilnehmenden herausforderte, den Austausch konstruktiv zu gestalten. Zum anderen ist anzunehmen, dass die Auswahl kompetenter Moderatorinnen und Moderatoren eine wichtige Rolle spielte. Bezüglich der Gestaltung von Diskussionsmöglichkeiten zeigte die Befragung der Moderatorinnen und Moderatoren zudem die besondere Bedeutung von Gelegenheiten zum informellen Austausch, welche das Kennenlernen der unterschiedlichen Perspektiven und Fachkulturen von Schule und Hochschule unterstützte (Outcome C, vgl. auch Maßnahme 17 in DMV, GDM und MNU 2019).

6.2 Limitationen und weiterführende Forschung

Wie jede Design-Based-Research-Studie unterliegt das vorgestellte Projekt der Limitation, nur lokale Beiträge zur Theorie leisten zu können (Plomp 2013). Zwar wurden gemäß des Conjecture-Mapping-Ansatzes (Sandoval 2014) die Rahmenbedingungen und die angenommenen Mechanismen des Projekts explizit angegeben (Abschn. 2), dennoch sind kontextbezogene Einflüsse zu berücksichtigen, wenn die Ergebnisse auf andere Kontexte übertragen werden. Hervorzuheben sind darüber hinaus folgende Limitationen und Forschungsdesiderata:

  1. 1.

    Fokus auf mathematische Inhalte und Arbeitstätigkeiten: Bei der Frage danach, über welche mathematischen Lernvoraussetzungen sich Schulen und Hochschulen abstimmen sollen, wurden nur mathematische Inhalte und mathematische Arbeitstätigkeiten diskutiert. Zwar wird der Fokus zu mathematischen Lernvoraussetzungen am Übergang Schule-Hochschule häufig auf Inhalte und Arbeitstätigkeiten gelegt (z. B. Müller et al. 2018; Rach und Ufer 2020), in der MaLeMINT-Studie wurden jedoch auch Vorstellungen über Mathematik als wissenschaftliche Disziplin und weitere personenbezogene Merkmale als notwendige Lernvoraussetzungen angegeben (Neumann et al. 2017). Somit ist noch zu überprüfen, wie die Abstimmung zwischen Schulen und Hochschulen für diese Lernvoraussetzungen gelingen kann.

  2. 2.

    Fokus auf das erste Studienjahr: Bei der Abstimmung von Schulen und Hochschulen wurde das erste Hochschulsemester in den Vordergrund gestellt, da dieses in Bezug auf den Übergang die höchste Relevanz hat. Als offene Frage bestehen bleibt, ob in höheren Semestern mathematische Lernvoraussetzungen erwartet werden, die im ersten Studienjahr nicht relevant sind. Im Hinblick darauf, dass der Studienabbruch im MINT-Bereich normalerweise bereits innerhalb des ersten Jahres erfolgt (Heublein et al. 2017), ist aber davon auszugehen, dass Lernvoraussetzungen für höhere Semester zu vernachlässigen sind.

  3. 3.

    Fokus auf allgemeinbildende Gymnasien: Im Rahmen der Arbeitstagungen (Phasen 1 und 3) merkten Lehrende an beruflichen Gymnasien bei einigen MaLeMINT-Lernvoraussetzungen an, dass diese in der Regel an beruflichen Gymnasien nicht oder nicht so umfassend wie an allgemeinbildenden Gymnasien adressiert werden. Gleichermaßen wurde von Lehrenden an Fachhochschulen geäußert, dass sie einige Aspekte aus dem MaLeMINT-Katalog nicht oder nicht so umfassend erwarten wie Universitäten. Da Absolventinnen und Absolventen von beruflichen Gymnasien vermutlich eher an eine Fachhochschule übertreten als an eine Universität, wäre vor diesem Hintergrund eine spezifische Abstimmung zwischen diesen beiden Institutionen anzudenken.

  4. 4.

    Aufgabeneinsatz als Test: Etwa die Hälfte der entwickelten Aufgaben wurde in einer Testung eingesetzt. Dieser Einsatz war bei der Aufgabenentwicklung nicht intendiert. Konzipiert wurden die Aufgaben vielmehr so, dass eine korrekte Lösung erst nach kurzer Auffrischung erwartet wird. Entsprechend könnte eine Evaluation streng gemäß der Intention der Aufgaben erst in einigen Jahren vorgenommen werden, wenn die Aufgaben veröffentlicht sind, Schulen und Hochschulen ggf. ihre Anforderungen an diese angepasst haben und Studieninteressierte die Gelegenheit hatten, diese zu bearbeiten und ggf. Lücken in ihrem Wissen und Können durch kurze Auffrischung zu schließen. Auch wenn der hier umgesetzte Aufgabeneinsatz als Test somit nicht als ideal zu bezeichnen ist, liefert er doch erste Hinweise, ob eine Abstimmung auf Mindestanforderungen gelungen ist, was sonst erst in einigen Jahren überprüfbar gewesen wäre.

  5. 5.

    Relevanz der entwickelten Aufgaben für die Mathematikklausuren der Hochschule: Einige entwickelte Aufgaben wurden daraufhin geprüft, inwiefern sie in ihrer Gesamtheit prädiktiv für den MINT-Studienerfolg im ersten Semester sind. Dabei zeigten sich studiengangsspezifische Unterschiede. Anzumerken ist, dass nur eine Studierendenkohorte an der Universität Kiel untersucht wurde und in einigen Studiengängen nur kleine Stichproben realisiert werden konnten, da bei weniger als der Hälfte der Studierenden, die am Eingangstest teilgenommen haben, auch Klausurergebnisse vorlagen. Hier sind weitere Studien, u. a. an Fachhochschulen nötig, um ein klareres Bild zu bekommen. Auffällig war darüber hinaus die große Diskrepanz zwischen den im Durchschnitt sehr guten Testergebnissen der Mathematikstudierenden bei gleichzeitig schlechter Bestehensquote in den Klausuren (Tab. 3). Eine sich hier anschließende Frage ist, welche Lernvoraussetzungen besonders relevant für diese Studierenden sind. Diese Frage ist auch interessant für alle weiteren untersuchten MINT-Studiengänge. Um ihr genauer nachzugehen und inhaltliche Schnittmengen zwischen den Aufgaben und den Vorlesungsinhalten zu ermitteln, erscheinen weiterführende Studien angebracht, die eine empirisch inhaltliche Analyse z. B. der Modulkataloge, Vorlesungsskripte und Klausuren vornehmen. Darüber hinaus kann in diesem Kontext die empirische Prädiktivität einzelner Aufgaben sowohl für die Klausurleistung im ersten Semester verschiedener Studiengänge, als auch andere Maße für Studienerfolg, beispielsweise der erfolgreiche Studienabschluss untersucht werden.

  6. 6.

    Inhaltliche Analyse der entwickelten Aufgaben und Passung zu den MaLeMINT-Lernvoraussetzungen: Im Rahmen der vorgestellten Projektevaluation wurde bisher keine inhaltliche Analyse der entwickelten Aufgaben vorgenommen und auch nicht überprüft, inwiefern aus mathematikdidaktischer Expertensicht jeweils eine Passung zwischen entwickelter Aufgabe und zugehöriger MaLeMINT-Lernvoraussetzung vorliegt. Entsprechende Analysen können sich kanonisch an das vorgestellte Projekt anschließen und Hinweise geben, wie Mathematiklehrkräfte von Schulen und Hochschulen die MaLeMINT-Lernvoraussetzungen verstehen, woraus wiederum Rückschlüsse gezogen werden könnten, wie die beiden Institutionen miteinander kommunizieren können.

  7. 7.

    Fokus auf Aufgaben: Nicht zuletzt ergibt sich eine Einschränkung der Abstimmung zwischen Schule und Hochschule daraus, dass diese im vorgestellten Projekt anhand einer gemeinsamen Aufgabenentwicklung vollzogen wurde. Es hat sich zwar gezeigt, dass dieses Vorgehen dazu geeignet ist, die gesetzten Projektziele zu erreichen, d. h. Schulen und Hochschulen zu einem Dialog über erwartete und zu erzielende Lernvoraussetzungen anzuregen, sich auf einen Konsens zu verständigen und dabei auch die jeweils andere Perspektive und Fachkultur kennenzulernen. Nichtsdestotrotz wäre es wünschenswert, wenn die entwickelten Aufgaben in Zukunft auch von Studieninteressierten genutzt werden und zu einer nachhaltigen Verbesserung des Übergangs Schule-Hochschule beitragen (vgl. Punkt 4). Hierzu müssen sowohl Schulen als auch Hochschulen die Aufgaben als Lernangebot aktiv an potenzielle MINT-Studierende kommunizieren und ihre jeweilige Lehre auf den vereinbarten Konsens abstimmen (vgl. Abschn. 6.3).

6.3 Ausblick

Trotz der angeführten Limitationen kann das vorgestellte Projekt einen Beitrag für die Verbesserung des Übergangs Schule-Hochschule leisten. Es wurde in einem Bundesland eine Abstimmung zwischen Schulen und Hochschulen auf eine gemeinsame Basis erwarteter mathematischer Lernvoraussetzungen für ein MINT-Studium erreicht. Da sich in der dritten Projektphase zeigte, dass die eigene Entwicklung von Aufgaben nicht zwingend für eine erfolgreiche Abstimmung notwendig ist, können andere Bundesländer auf den in Schleswig-Holstein entwickelten Aufgabenkatalog als Basis zurückgreifen. Da dieser auf den MaLeMINT-Lernvoraussetzungen aufbaut, sollten weite Teile der konkretisierten mathematischen Lernvoraussetzungen für alle Bundesländer relevant und damit zentral für eine Abstimmung zwischen Schulen und Hochschulen sein. Je nach Bedarf kann der Aufgabenkatalog zudem an die eigenen Lehrpläne und ggf. hochschulspezifischen Studienanforderungen angepasst werden, indem Aufgaben ergänzt, abgeändert oder verworfen werden. Die vorgestellte Studie bietet somit Ansatzpunkte, langfristig auch bundesweit wie von den Fachverbänden DMV, GDM und MNU (2019) gefordert, eine Abstimmung darüber anzuregen, welche mathematischen Lernvoraussetzungen von Hochschulen erwartet werden und von Schulen erzielt werden können.

Darüber hinaus liefert das vorgestellte Projekt auch eine Konkretisierung für die Ergebnisse der MaLeMINT-Studie selbst. Zum einen stellen die Aufgaben eine Präzisierung der MaLeMINT-Lernvoraussetzungen dar, die in einem nächsten Schritt noch einmal bundesweit von Hochschullehrenden zu validieren wäre. Zum anderen stützen die Befunde dieses Projektes die im MaLeMINT-Katalog vorgenommene Unterscheidung nach verschiedenen Studiengangsgruppen sowie Hochschulart. Während für die meisten MaLeMINT-Lernvoraussetzungen ein Konsens zwischen allen MINT-Fächern sowie Hochschularten gefunden werden konnte, zeigten sich bei einzelnen Lernvoraussetzungen Unterschiede zwischen dem Studiengang Mathematik und den INT-Studiengängen oder zwischen Universitäten und Fachhochschulen (Neumann et al. 2017). Auch die Ergebnisse der hier berichteten quantitativen Erprobung der Aufgaben legen nahe, dass Unterschiede zwischen verschiedenen Studiengängen in Bezug darauf bestehen können, was Mindestanforderungen sind. Rückmeldungen der Teilnehmenden wiesen zudem auf teils abweichende Anforderungen an Universitäten und Fachhochschulen sowie beruflichen und allgemeinbildenden Gymnasien hin. Dies kann sowohl in weiterführender Forschung adressiert werden (vgl. Limitation/Forschungsdesiderat 5) als auch auf praktischer Ebene in einem weiteren Abstimmungsprozess, welcher nach Studienfächern oder (Hoch)-Schulart differenziert (vgl. Limitation 3).

Zuletzt sei herausgestellt, dass das vorgestellte Projekt ein Beispiel für die mathematikdidaktische Forschung liefert, wie Abstimmungsprozesse zwischen Bildungseinrichtungen wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden können. Nach den wertvollen ersten Praxisansätzen von cosh und IGeMa kann anhand der in diesem Projekt generierten Ergebnisse zu Gelingensbedingungen nun eine systematische Begleitung der Abstimmung zwischen Schule und Hochschule in anderen Bundesländern unterstützt werden. Wird darüber hinaus eine Variation einzelner Gestaltungselemente evaluiert, können weitere Erkenntnisse über Merkmale eines erfolgreichen Designs erzielt werden. Mögliche Variationen ergeben sich dabei aus den oben aufgeführten Limitationen und Forschungsdesideraten (z. B. Ausweitung der abzustimmenden Lernvoraussetzungen).

Haben sich Schulen und Hochschulen – wie jetzt in Schleswig-Holstein – auf einen gemeinsamen Konsens erwarteter mathematischer Lernvoraussetzungen verständigt, kann in einem nächsten Schritt begonnen werden, diese Erwartungen auch konsistent an Studieninteressierte zu kommunizieren. Da die Erwartungen im vorgestellten Design bereits als Aufgaben vorliegen, können diese leicht von Schulen und Hochschulen veröffentlicht werden, sodass Studieninteressierte eine konkrete Orientierung erhalten, was von ihnen auf Basis ihrer Hochschulzugangsberechtigung erwartet wird. Somit können neben den beteiligten Bildungsinstitutionen in einem nächsten Schritt auch die Studieninteressierten mit in die Kommunikation zum Übergang Schule-Hochschule eingebunden werden, sodass den hohen Studienabbruchzahlen im MINT-Bereich langfristig systematisch entgegengewirkt werden kann.