Bildungswissenschaftliche Ansprüche an die Modellierung von Kompetenzen
Die bildungswissenschaftliche Auslegung von Kompetenz ist zunächst weit gefasst und greift auf die Definition von Weinert (2001) zurück, die sich auch in der folgenden Aussage von Klieme und Hartig (2007, S. 14) erkennen lässt: „Kompetenz zeigt sich im je situativen Bewältigen von Anforderungen (in der ‚Performanz‘ des Handelns), wird aber als Disposition interpretiert. Dementsprechend ist Kompetenz kontextualisiert und spezifisch, aber auf Transfer und Verallgemeinerung angelegt. Kompetenz bezieht sich sowohl auf Handlungsvollzüge als auch auf die ihnen zugrunde liegenden mentalen Prozesse und Kapazitäten, zu denen Kognition, Motivation und Volition bzw. Wissen und Können gehören“. Vereinfacht ausgedrückt, stehen Kompetenzen demnach für „anwendungsfähiges Wissen und ganzheitliches Können“ (ebd., S. 13).
Die zentrale Aufgabe der Forschung liegt derzeit in der Bereitstellung von Modellen der Struktur, Stufung und Entwicklung von Kompetenzen, um den Ansprüchen an theoretische Anschlussfähigkeit und empirische Überprüfbarkeit gerecht zu werden (Klieme & Leutner, 2006). Diese sind unter anderem notwendig, um „zwischen abstrakten Bildungszielen und konkreten Aufgabensammlungen zu vermitteln“ (Klieme & Hartig, 2007, S. 71). Klieme und Leutner (2006) unterscheiden dabei im Wesentlichen zwischen Strukturmodellen und Niveaumodellen. Kompetenzstrukturmodelle bilden die Dimensionalität von Kompetenzen ab. Im Mittelpunkt steht dabei die Beschreibung jener Voraussetzungen, die zur Bewältigung von bestimmten Aufgaben und Problemen erforderlich sind. Kompetenzniveaumodelle hingegen konkretisieren spezifische Kompetenzen anhand unterschiedlicher Ausprägungen (z. B. „Model of Hierarchical Complexity“; Bernholt, Parchmann, & Commons, 2009). In der empirischen Bildungsforschung hat sich darüber hinaus ein hybrider Modelltyp etabliert, in welchem meist die drei Aspekte Inhalte, Anforderungsbereiche und Kompetenzen in Verbindung gesetzt werden (ebd.). Mit diesem Modelltyp wird versucht, Kompetenzen zu operationalisieren, die für bestimmte Performanzen in einer Domäne erforderlich sind.
Bereits vor Jahrzehnten initiierte Bloom (1956) – hier noch mit dem Fokus auf die kontextunabhängige Modellierung von kognitiven Dispositionen – die Idee einer Lernzieltaxonomie. In Erweiterung dieser viel zitierten Taxonomie legten Anderson und Krathwohl (2001) einen eigenen Entwurf zur Strukturierung von Lernzielen vor. Ihre sogenannte Taxonomietabelle („taxonomy table“) ist heute weit verbreitet und umfasst in Erweiterung zur Bloomschen Taxonomie neben kognitiven Prozessen (z. B. Verstehen, Anwenden) auch Wissensarten (z. B. Faktenwissen, prozedurales Wissen). Während Maier, Kleinknecht, Metz und Bohl (2010) herausstellen, dass „die Bloomsche Lernzieltaxonomie über Jahrzehnte die Beschreibung von Lernzielen bzw. Aufgabenstellungen [beeinflusste] und [..] damit ein bedeutsamer, fächerübergreifender Referenzrahmen [war]“ (S. 85), haben sich Taxonomien im Kontext von Kompetenzorientierung als zentrales Instrument zur Strukturierung von Lernprozessen erwiesen. Auch für die Modellierung von Kompetenzen werden Taxonomien als bedeutsam erachtet. Winther (2016) folgert diesbezüglich, dass für die Entwicklung von Kompetenzstrukturmodellen im schulischen Kontext „elaborierte Taxonomien (vgl. u. a. Anderson & Krathwohl, 2001) vor[liegen], die ihrerseits die Fachdidaktik der entsprechenden Disziplin maßgeblich beeinflusst haben“ (S. 8). In der Sportdidaktik sind die Bloomschen Taxonomiebestandteile bislang allenfalls vereinzelt und weitgehend unsystematisch bei der Formulierung von Lernzielen eingesetzt worden.
Anforderungssituationen in der Sport- und Bewegungskultur
Kompetenzen zeigen sich insbesondere in der Bewältigung von Anforderungen in variablen Situationen (Blömeke, Gustafsson, & Shavelson, 2015; Weinert, 2001; Klieme & Hartig, 2007) und „bilden sich auch überhaupt erst in ihnen aus. In den Anforderungen und in der Auseinandersetzung mit ihnen liegt demnach zugleich auch das Potenzial für weiteres Lernen, d. h. für den Neuaufbau oder für die Veränderung, Erweiterung, Vernetzung der bereits vorhandenen individuellen Wissensstruktur, und damit für den Erwerb und die Weiterentwicklung von Kompetenzen“ (Gogoll, 2014, S. 96).
Anforderungssituationen im Sport dienen als Ausgangspunkt, um den Gegenstand zu beschreiben und um Kompetenzen für deren Bewältigung abzuleiten. Gleichzeitig dienen Anforderungssituationen als methodisch-didaktischer Lernanlass, um Kompetenzen zu erwerben. Die zu entwickelnden Kompetenzen von Schüler*innen sind somit maßgeblich aus den gegebenen und zukünftig zu erwartenden sport- und bewegungsbezogenen Anforderungssituationen abzuleiten. Konsequenterweise wäre an dieser Stelle somit zu bestimmen, welche konkreten Anforderungen des sport- und bewegungskulturellen Alltags typisch sind. Eine beispielhafte Situation könnte darin liegen, dass beim Spiel mit den Nachbarskindern es ziemlich durcheinander geht und keiner so recht weiß, wie der Einzelne sich im Team verhalten soll und welche Aufgaben er übernehmen soll (für weitere Beispiele siehe Abb. 2). Eine systematische Analyse zur Identifikation und Beschreibung solcher Anforderungssituationen steht in der Sportwissenschaft bislang allerdings noch aus. Angesichts der Vielgestaltigkeit und der damit verbundenen Vieldeutigkeit der Sport- und Bewegungskultur könnte eine solche Analyse eine Momentaufnahme einer sich laufend wandelnden Sport- und Bewegungskultur sein; Anforderungssituationen der Zukunft blieben dabei weitgehend offen. Zudem wäre es für den Sportunterricht ein überhöhter Anspruch, all jene Kompetenzen zu entwickeln, die für das Handeln in jeglichen typischen Anforderungssituationen (von heute und morgen) notwendig sind.
Vielmehr kann es aber um die Vermittlung von Kompetenzen gehen, die Schüler*innen zur Orientierung in der Sport- und Bewegungskultur verhelfen (Gogoll, 2020). Ein innerhalb der deutschsprachigen Sportdidaktik gängiges Konzept zur Vermittlung einer solchen Orientierung kann in einem auf Handlungsfähigkeit im Sport abzielenden, Erziehenden Sportunterricht gesehen werden.
Handlungsfähigkeit im Erziehenden Sportunterricht
Jenseits dauerhafter Kontroversen (zuletzt Krüger & Hummel, 2019) gilt sowohl in der sportdidaktischen Community als auch in den bundesweiten Lehrplänen der Erziehende Sportunterricht mit seinen durchaus unterschiedlichen Tönungen (im Überblick Hapke, 2017) als das Konsenskonzept in der Sportdidaktik (Prohl, 2010). In einer verbreiteten Lesart werden Handlungsfähigkeit und Mehrperspektivität sowie die Bewegungsfelder als zentrale Elemente eines Erziehenden Sportunterrichts verstanden (u. a. Balz & Neumann, 2015; Scheid & Prohl, 2017). Es wird davon ausgegangen, dass die gezielte Auseinandersetzung mit der Sport- und Bewegungskultur aus verschiedenen pädagogischen Perspektiven (z. B. Miteinander, Eindruck) maßgeblich zur Entwicklung der Handlungsfähigkeit beiträgt (Balz & Neumann, 2015; Kurz, 2004).
Handlungsfähigkeit lässt sich in operative und reflexive Handlungsfähigkeit unterscheiden (Gogoll, 2013; Neumann, 2020; Schierz & Thiele, 2013): Operative Handlungsfähigkeit beinhaltet motorische Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie sportbezogenes Wissen, welche zum qualifizierten Ausüben und Nachvollziehen bewegungs-, spiel- und sportkultureller Praktiken befähigen. Reflexive Handlungsfähigkeit steht für das Vermögen, die gängigen kulturellen Praktiken hinterfragen und bewerten sowie das eigene Sporttreiben selbstbestimmt und verantwortungsvoll regulieren zu können. Beide miteinander verwobenen Formen der Handlungsfähigkeit müssen entwickelt werden, damit Kinder und Jugendliche eigenverantwortlich in der sportlichen Wirklichkeit von heute und morgen handeln können (Gogoll, 2013; Sygusch & Hapke, 2018).
Damit wird deutlich, dass der Bildungsauftrag und die damit verbundenen sport- und bewegungsbezogenen Anforderungssituationen, für die Schüler*innen adäquate Kompetenzen erwerben sollen, im Fach Sport neben Motorischem und Sportlichem auch Kognitives und Metasportliches in den Blick nehmen müssen und sich nicht etwa im Modus des motorischen Machens oder der ästhetisch-expressiven Weltbegegnung erschöpfen können (Serwe-Pandrick, 2016). Das Fach Sport zielt somit ebenso wie andere Unterrichtsfächer „explizit auf kognitiv-intellektuelle Erträge“ – und das nicht erst im Oberstufenunterricht (Gogoll, 2010, S. 31). Damit wird deutlich, dass auch im Fach Sport Wissen und Können im Sinne von Klieme und Hartig (2007) anwendungsfähig und reflektiert sein sollen. Gleichwohl ist bislang kaum hinreichend geklärt, wie anwendungsfähiges Wissen und reflektiertes Können nach diesem Verständnis in ein Kompetenzmodell für den Sportunterricht überführt und damit systematisch angesteuert und überprüft werden können.
Bei einem Blick über den deutschsprachigen Tellerrand finden sich die oben skizzierten Gedanken einer sport- und bewegungsbezogenen Handlungsfähigkeit in der international mittlerweile viel zitierten Idee von einer Physical Literacy (Whitehead, 2010) wieder. Physical Literacy wird dabei als ganzheitliches Konzept verstanden, welches nach Edwards, Bryant, Keegan, Morgan, und Jones (2017) unter anderem drei zentrale inhaltliche Elemente aufweist: affektive, kognitive sowie körperlich-motorische Facetten. Cale und Harris (2018) schreiben in diesem Zusammenhang dem Wissen eine Schlüsselfunktion zu, indem es sowohl im Bereich der kognitiven Facetten als auch auf Physical Literacy im Ganzen Einfluss hat. Noch pointierter hebt Ennis (2015, S. 119) Wissen sogar als das „Herz der Physical Literacy“ hervor, indem es nicht nur als Basis für Performanzen gilt, sondern auch Ausgangspunkt für Transfer und Innovation darstellt.
Wissen im (Erziehenden) Sportunterricht
Wissen wird als Kernbestandteil kompetenten sportbezogenen Handelns betrachtet (Gogoll, 2013; Edwards et al., 2017; Ennis, 2015; Messmer, 2013). Gleichwohl beschreibt Wagner (2016, S. 33) den diffusen Umgang mit dem Begriff Wissen im Sport(unterricht): „Obwohl Wissen ein in der Alltagssprache oft verwendeter Begriff ist [oder gerade deswegen], lässt sich keine eindeutige Begriffsdefinition finden.“ Im Folgenden soll im ersten Schritt geklärt werden, wie Wissen auf einer inhaltlichen Ebene (Wissensinhalte) im Sportunterricht zum Tragen kommt. Anschließend sollen auf einer strukturellen Ebene verschiedene Wissensarten zusammenfassend dargestellt werden.
Wissensinhalte
Gogoll (2013) beschreibt Handlungswissen als zentrales Element von Kompetenzen im Sport. In einer jüngeren Veröffentlichung verortet er Wissen in einer Unterscheidung von spezifischer sportlicher Bewegungshandlungskompetenz und einer allgemeinen sportbezogenen Bewegungshandlungskompetenz (Gogoll, 2020).
Spezifische sportliche Bewegungshandlungskompetenz steht nach Gogoll (2020) für Handlungswissen, welches sich „auf das Sporttreiben-Können in einem engeren, leistungsorientierten Sinne“ bezieht (ebd., S. 60). Es geht dabei um das erfolgreiche und informierte Ausführen von sportlichen Bewegungshandlungen. Diese Form des Wissens wird auch in kognitionspsychologischen Handlungsmodellen postuliert, wonach Bewegungshandlungen immer auf mentalen Repräsentationen, d. h. auf Kognitionen, beruhen (Niederkofler & Amesberger, 2016). Die Antizipation (z. B. Einschätzung einer Spielsituation), Realisation (z. B. Ausführung des Passes) und Interpretation (z. B. anschließende Bewertung der Ausführung des Passes) motorischer Handlungen werden u. a. durch kognitive Prozesse reguliert (Conzelmann, Hänsel, & Höner, 2013). Zusammenfassend wird deutlich, dass diese Form des Handlungswissens maßgeblich auf Bewegungsfeldern und Sportarten basiert.
Im Sinne eines Erziehenden Sportunterrichts fokussiert Gogoll (2020) weiterhin Handlungswissen, welches sich insbesondere aus den pädagogischen Perspektiven speist. Er bezeichnet diesen Bereich als sogenannte „allgemeine sportbezogene Bewegungshandlungskompetenz“. Sportunterricht soll demnach „Sport in der Schule nicht nur mit Bezugnahme auf seine leistungsbezogenen Erziehungs- und Bildungspotenziale [thematisieren]; er macht den Sport im Sportunterricht darüber hinaus auch in anderen Hinsichten zum Thema“ (Gogoll, 2020, S. 62). In einem Erziehenden Sportunterricht erfüllen die pädagogischen Perspektiven ihre Bildungspotenziale sowohl hinsichtlich der Sacherschließung als auch der Persönlichkeitsentwicklung (Balz & Neumann, 2015). Die damit verbundenen Ansprüche sowie die darin eingelagerten Wissensinhalte konnten beispielsweise Hapke (2017) für die Perspektiven „Soziales Miteinander“ und „Leistung“, Töpfer (2019) für die Perspektive „Gesundheit“ sowie Böttcher (2017) für die Perspektive „Wagnis“ herausarbeiten.
Beide Bereiche der Wissensinhalte (Bewegungsfelder und pädagogische Perspektiven) lassen sich jeweils in den sportwissenschaftlichen Teildisziplinen (z. B. Trainingswissenschaft, Sportpsychologie) verorten und können gleichermaßen als Querschnittsthemen (z. B. Gesundheit, Leistung, Spielen, Bewegen im Wasser) verstanden werden.
Wissensarten
Wissen kommt im sport- und bewegungsbezogenen Handeln in verschiedenen Wissensarten zum Tragen. In Anlehnung an kognitionspsychologische Unterteilungen des Gedächtnisses kann Wissen auf einer übergeordneten Ebene dabei einerseits explizit und andererseits implizit repräsentiert sein (Hoffmann & Engelkamp, 2017; Kiesel & Koch, 2012; Wentura & Frings, 2013). Die Relevanz expliziten und impliziten Wissens für das motorische Handeln und ihres Bedeutungsgehaltes im Sportunterricht wird vielfach kontrovers diskutiert (u. a. Niederkofler & Amesberger, 2016; Laging, 2021). Auf einer weiteren Ebene können verschiedene Arten des Gedächtnisses unterschieden werden.
Sportbezogene kognitive Dispositionen basieren aus kognitionspsychologischer Sicht (Hoffmann & Engelkamp, 2017; Kiesel & Koch, 2012; Wentura & Frings, 2013) insbesondere auf dem semantischen und episodischen Gedächtnis. Beide Gedächtnisarten sind (im Sinne des expliziten Wissens) deklarativ und damit sprachlich explizierbar. Das semantische Gedächtnis enthält Kenntnisse über Sachverhalte (z. B. Gesetzmäßigkeiten, Prozesse, Fakten), die ohne Selbstbezug vorliegen wie etwa die Bewegungsvorstellung zur Judorolle, gesundheitsbezogenes Wissen zur Belastungsdosierung oder Prinzipien der Chancengleichheit bei Wettkämpfen. Das episodische Gedächtnis enthält zeitlich und räumlich spezifische, persönliche Ereignisse. Sie weisen immer einen starken Selbstbezug auf, z. B. Erinnerungen an einen ersten Ausführungsversuch der Judorolle oder körperliche Erfahrungen bei Ausdauerläufen in der Vergangenheit.
Sportbezogene motorische Dispositionen basieren aus kognitionspsychologischer und sportmotorischer Sicht (Kiesel & Koch, 2012; Künzell, 2015, 2021) insbesondere auf dem prozeduralen Gedächtnis. Dieses enthält (teil)automatisierte Verhaltensroutinen und ist in der Regel nicht-deklarativ und daher implizit. In der Regel meint, dass „ein expliziter Wille keine notwendige Voraussetzung für eine effektive Koordination der Motorik sein muss“ (Künzell, 2021, S. 13). Nach dem sogenannten ideomotorischen Prinzip, werden – stark vereinfacht – das Bewegungsziel im (prozeduralen) Langzeitgedächtnis und der situative Ausgangspunkt im Kurzzeitgedächtnis repräsentiert, während die weitere Bewegungskontrolle primär selbstorganisiert und damit implizit erfolgt (Künzell, 2015).
Niederkofler und Amesberger (2016) verdeutlichen in diesem Zusammenhang, dass kognitive Prozesse, die zum Beispiel die Situationswahrnehmung und die Bewegungsausführung des Torschusses oder Passes steuern, weitgehend unbewusst und nicht verbalisierbar ablaufen, d. h. als implizite mentale Prozesse. Ob beim Fußballspielen der Ball an einen Mitspieler abgegeben oder selbst auf das Tor geschossen wird, kann aber auch auf bewussten Entscheidungen beruhen, die auf der Grundlage von Wissensbeständen (bspw. über Angriffstaktiken, Spielregeln sowie die eigenen Fähigkeiten und die des Mitspielers) getroffen werden. Ähnlich kann dies auch beim Kooperieren im Sport beobachtet werden, indem die Rollenverteilung in Mannschaftssportarten häufig implizit entsteht. Aber auch hier können Rollen explizit im Rahmen der taktischen Planung vergeben und eingenommen werden. Damit wird deutlich, dass explizites und implizites Wissen sich nicht unbedingt gegenüberstehen, sondern das sportliche Handeln lediglich aus zwei unterschiedlichen Sichtweisen heraus fundieren. Wagner (2016) verdeutlicht, dass deklarative (semantisch und episodisch) und prozedurale Wissensbestände sich gegenseitig beeinflussen und deklaratives Wissen durchaus als wichtiger Bestandteil guter motorischer Ausführung zu verstehen sei. Bei Bewegungshandlungen ist es beispielsweise möglich, dass implizites prozedurales Wissen in gewissem Maße expliziert und damit in semantisches Wissen überführt werden kann. Auch umgekehrt ist dies in etwa beim Bewegungslernen im Anfängerbereich zu beobachten, indem beispielsweise über Bildreihen im Turnen Bewegungsabläufe zunächst explizit als semantisches Wissen aufgenommen und im Laufe des Übungsprozesses in implizites prozedurales Wissen transferiert wird.
Wissen kann somit als ein zentraler Kernbestandteil kompetenten sportbezogenen Handelns verstanden werden. Dabei tragen verschiedene Wissensinhalte und Wissensarten dazu bei, dass Kinder und Jugendliche verantwortungsvoll an der Sport- und Bewegungskultur partizipieren können. Diesbezüglich erscheint insbesondere explizites Wissen bedeutsam, sodass Schüler*innen zu bewussten und begründeten Handlungsentscheidungen kommen. Gleichzeitig wird Wissen vor diesem Hintergrund lediglich als ein Kernbestandteil kompetenten sportbezogenen Handelns betrachtet. Zur Bewältigung unterschiedlicher Anforderungen im Sport werden kognitive Dispositionen damit als notwendige, aber nicht als hinreichende Basis aufgefasst, um tatsächlich handeln zu können. Je nach Anforderungssituation werden weitere Leistungsdispositionen benötigt, bspw. psychosoziale Ressourcen (u. a. Motivation, Volition, Selbstkonzept, Kooperationsfähigkeit), Werte und Haltungen sowie motorische und körperliche Dispositionen (Edwards et al., 2017; Gogoll, 2014).
Kompetenzmodelle für das Fach Sport
In der Sportdidaktik wurden in den vergangenen 15 Jahren verschiedene Modellierungsansätze vorgelegt, in denen die Bildungsansprüche des Faches Sport unterschiedlich abgebildet wurden (im Überblick Pfitzner, 2018; Töpfer, 2019). Erste Ansätze zur Operationalisierung von Wissen mit Bezug zu sportbezogenem Können wurden insbesondere durch Messmer (2013, 2018) und Gogoll (2013, 2014) erarbeitetFootnote 1.
Messmer (2013, 2018) legt mit seinem sogenannten Fachmodell Sport einen Modellierungsansatz vor, welcher die „Repräsentativität von Sport kategoriell darstellen und den Sport in Bezug auf seinen Bildungsanspruch angemessen repräsentieren“ soll (Messmer, 2013, S. 31). Messmer skizziert dabei ein Kontinuum zwischen Können, Wissen und Beurteilen, auf dem er ein Spektrum von sechs Kompetenzbereichen zwischen konditionellen Fähigkeiten und Sinnkonstruktion aufspannt. Messmer (2013) legt mit seinem Fachmodell verstärkt Wert auf Aspekte von Motorik, Kondition und Koordination, die er dem Können zuordnet. Auffallend ist zunächst, dass das Modell nicht über die in der empirischen Bildungsforschung häufig anzutreffende dreidimensionale Modellstruktur verfügt. Pfitzner (2018) hebt hervor, dass die dafür charakteristischen Kompetenzstufen (oder Anforderungsniveaus) in dem Modell nicht vorhanden sind. Damit sind insbesondere Aussagen zur konkreten Operationalisierung von Wissen im Sport kaum und Darstellungen zur Komplexität der Kompetenzen nicht erkennbar. Aus fachdidaktischer Sicht macht Messmer deutlich, dass er nicht unmittelbar an dem bekannten sportdidaktischen Konzept der Handlungsfähigkeit ansetzt, sondern vielmehr dem Capability-Ansatz nach Nussbaum (2011) folgt. Gleichwohl lassen sich in dem Modell Aspekte der reflexiven Handlungsfähigkeit (z. B. Sinnkonstruktion) und vor allem der operativen Handlungsfähigkeit (z. B. motorische und technische Kompetenz) wiederfinden. Eine Verknüpfung zur Mehrperspektivität wird hingegen nicht explizit hergestellt.
Gogoll (2013, 2014) sucht mit seinem Modell der sport- und bewegungskulturellen Kompetenz direkten Anschluss an die Leitidee der Handlungsfähigkeit im Sport. Basierend auf einem hybriden Modelltyp beschreibt Gogoll eine dreidimensionale Unterteilung in Kompetenzbereiche, Themenkomplexe und Anforderungsniveaus. Das kognitionstheoretisch ausgerichtete Modell versucht insbesondere Aspekte der Wissensaufnahme, -verarbeitung und -nutzung abzubilden. Die Kompetenzbereiche (z. B. Ordnen und Deuten) orientieren sich an der „Struktur der Aktivitäten, die Schülerinnen und Schüler ausführen können müssen, um bildungsrelevante Anforderungen des Faches Sport zu bewältigen“ (Gogoll, 2014, S. 98). Die Anforderungsniveaus leiten sich aus dem Modell der hierarchischen Komplexität („Model of Hierarchical Complexity“; Bernholt et al., 2009) ab. Mit den Themenkomplexen, welche sich insbesondere an den pädagogischen Perspektiven orientieren (z. B. Sport und Wagnis), stellt Gogoll den Anschluss an die fachdidaktische Diskussion zum Erziehenden Sportunterricht her. Gogolls Modell liegt ein Verständnis der reflexiven Handlungsfähigkeit zugrunde, welcher das Vorhandensein eines Mindestmaßes an operativer Handlungsfähigkeit vorausgeht. Insgesamt wird das Modell der sport- und bewegungskulturellen Kompetenz vor diesem Hintergrund durchaus kontrovers diskutiert, da das Modell eindeutig kognitive Schwerpunkte setzt. Gissel (2013) merkt diesbezüglich kritisch an: „Konditionelle Fähigkeiten, technische Fertigkeiten, ja nicht einmal die Begriffe Sport oder Motorik kommen in dem Modell vor“ (S. 264). Die Modellierungsvorschläge von Gogoll sind u. E. dennoch wegweisend in der stringenten Operationalisierung von kognitiven Dispositionen im Fach Sport. Gleichwohl wird das vormals skizzierte Ensemble von Wissen und Können und dessen Zusammenspiel in dem Modell nur in Teilen angedeutet.
Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass vereinzelt Ansatzpunkte zur Konkretisierung von Wissen und Können vorliegen. Die bislang vorhandenen Kompetenzmodelle im Fach Sport bestimmen Wissen zwar als einen zentralen Bestandteil, bleiben jedoch weitgehend abstrakt darin, wie Wissen im Rahmen eines kompetenzorientierten und Erziehenden Sportunterrichts operationalisiert werden kann. Zudem bleibt weitgehend unklar, wie dieses Wissen zur Bewältigung von Anforderungssituationen nutzbar gemacht werden kann und in welchem Verhältnis dieses zum Können steht. In diesem Zusammenhang scheint auch kaum geklärt, wie Wissen als Bestandteil des Bildungsauftrags in Form der operativen und reflexiven Handlungsfähigkeit interpretiert werden kann. Folglich bleibt der rote Faden von der Handlungsfähigkeit im Sport über daraus generierte Kompetenzmodelle bis hin zu konkreten Lernzielen und Lernaufgaben im Sportunterricht bislang weitgehend unscharf.
Ausgehend von den aufgezeigten Unschärfen in der Operationalisierung von Wissen und Können gehen wir der folgenden konkretisierten Fragestellung nach: Wie kann eine an die empirische Bildungsforschung angelehnte dreidimensionale Taxonomie Wissen und Können vor dem Hintergrund des Bildungsauftrags der Handlungsfähigkeit im Sport operationalisieren?