Im Durchschnitt ist jedes dreiundzwanzigste Kind bis einschließlich 16 Jahren von sexuellem Missbrauch mit Körperkontakt betroffen (Stadler, Bieneck & Pfeiffer, 2012), was rechnerisch mindestens einem bzw. einer Schüler*in pro Klasse entspricht. Daher sollte die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt als bedeutsame Aufgabe angesehen werden. Zudem können Verletzungen dieser Sphäre, da die Sexualität zu den intimsten Bereichen des Menschen gehört, zu einem hohen Maß an Erniedrigung und Scham führen (Stermac, Cripps, Amiri, & Badali, 2020), oftmals einhergehend mit erheblichen Traumatisierungen (Bundschuh, 2010).

Aus Studien deutlich geworden ist, dass die entstehende physische Nähe im außerschulischen Sport besondere Risikokonstellationen für Kinder und Jugendliche generieren kann (Rulofs & Wagner, 2016). Dies gilt für den Leistungssport (z. B. Darling, Pope, Mooney, King, & Ablett, 2020; Rulofs, Wagner & Hartmann-Tews, 2017) und den Breitensport (z. B. Parent & Demers, 2011; Rulofs et al., 2019). Aber auch für den Sportunterricht in der Schule besteht ein Risiko für das Auftreten sexualisierter Gewalt (Hofmann & Schicklinski, 2018; Hunger, Böhlke, & Witte, 2017; Wagner & Rulofs, 2017), jedoch stellt in diesem Zusammenhang der Bereich des Sportunterrichts und zugehöriger Wahrnehmungen seiner Akteur*innen bislang noch ein Forschungsdesiderat dar (Parent & Fortier, 2018; Schicklinski & Hofmann, 2018).

Forschungsstand

Unter dem Begriff der sexualisierten Gewalt werden verschiedene Formen der sexuell motivierten Machtausübung zusammengefasst (Rulofs, 2016). Das in dieser Untersuchung verwendete Begriffsverständnis beinhaltet nach Jud (2015) sowohl Handlungen mit als auch ohne Körperkontakt sowie grenzverletzendes Verhalten. Zu sexualisierter Gewalt zählen beispielsweise Übergriffe verbaler oder gestischer Art, das Zeigen pornografischer Inhalte, sexualisierte Berührungen am Körper, körperliches Entblößen, versuchte oder erfolgte Penetration sowie physische Verletzungen und Misshandlungen mit sexuellem Hintergrund (Deutsches Jugendinstitut 2011, S. 69).

Besonders schwierig zu definieren sind sexualisierte Grenzverletzungen. Denn ob eine Handlung als Grenzüberschreitung gewertet werden kann, hängt vom individuellen Erleben durch die Betroffenen ab (Enders, 2012), wodurch eine objektive Bestimmung von Grenzverletzungen erschwert wird (Enders, 2012; Schicklinski & Hofmann, 2018). Sexualisierte Grenzverletzungen liegen immer dann vor, wenn in einem sexualisierten Kontext die Beziehung zwischen physischer Nähe und Distanz subjektiv als unangenehm wahrgenommen wird (Bücken, 2019; Rulofs, 2016).

Theoretischer Hintergrund

Eine Hilfestellung mit Körperkontakt kann im Sportunterricht von der Lehrkraft als notwendig aufgefasst, von Schüler*innen jedoch als sexualisierte Grenzverletzung wahrgenommen werden (Scharenberg, 2003) – die subjektiven Wahrnehmungen derselben Situation sind unterschiedlich. Individuelle Wahrnehmungen dieser Art stellen nach der Theorie des Konstruktivismus (z. B. Pörksen, 2011) keine neutrale Beobachtung und auch „nicht die einzige wahre Beschreibung der Wirklichkeit“ (Putnam, 1993, S. 254) dar. Vielmehr konstituieren Subjekte ihre wahrgenommene Wirklichkeit aufgrund von Einstellungen, Vorerfahrungen, Erwartungen und Wertungen selbst (Baumert & Kunter, 2006, S. 499); der Wahrheitsgrad einer Wahrnehmung kann demnach nicht objektiv bestimmt werden.

Systematische Grenzüberschreitungen können von Täter*innen jedoch auch gezielt dafür eingesetzt werden, eine Veränderung in der Wahrnehmung persönlicher Grenzbereiche herbeizuführen (Diketmüller, 2020). Zentraler Bestandteil ist dabei das Ausloten von Widerständen bei Grenzverletzungen, wodurch die Betroffenen für Übergriffe desensibilisiert werden und diese eher dulden. Zum Abbau von Widerständen bei Betroffenen und von Hemmschwellen bei Täter*innen tragen nach Finkelhor (1984) Abhängigkeitsverhältnisse und asymmetrische Beziehungshierarchien bei. Zudem versuchen Täter*innen oftmals durch sogenannte Grooming-Strategien emotionale Bindungen durch Bevorzugungen oder besondere gemeinsame Aktivitäten aufzubauen (Diketmüller, 2020). Sexualisierte Übergriffe geschehen in der Regel also nicht zufällig, sondern basieren auf einem systematischen Ansatz der Täter*innen (Diketmüller, 2020; Fronius, Hofmann, & Schicklinski, 2018).

Sexualisierte Grenzverletzungen sind somit einerseits abhängig von subjektiven Einschätzungen der Grenzen und Situationen durch die betroffenen Akteur*innen (Konstruktivismus), andererseits können Grenzverletzungen aber auch bewusst eingesetzte Elemente sein (Täter*innen-Strategien). Sexualisierte Grenzverletzungen konstituieren somit insgesamt einen schwer erfassbaren, gleichwohl bedeutsamen Teilbereich sexualisierter Gewalt.

Sexualisierte Gewalt in der Schule

Es ist bereits herausgestellt, dass sexualisierte Gewalt in Schulen in Deutschland durch Lehrer*innen auftreten kann (Bezirksregierung Arnsberg, 2012). Beispiele für sexualisierte Gewalt durch Lehrer*innen sind verbale Übergriffe wie sexistische Sprüche oder das Gewinnen des Vertrauens und der Zuneigung einzelner Schüler*innen durch gewisse Vorzugsbehandlungen (ebd.). Das Überschreiten persönlicher Grenzen wird in pädagogischen Institutionen häufig durch das inhärente Machtgefälle zwischen Schüler*innen und Lehrkräften begünstigt (Enders, 2012; Schicklinski & Hofmann, 2018). Vorsätzliche sexualisierte Grenzverletzungen deuten auf unzureichenden Respekt vor Schüler*innen, grundlegende institutionelle Mängel und ein missbrauchtes Machtgefüge hin (Hofmann & Schicklinski, 2018; Rulofs, 2016; Wagner & Rulofs, 2017).

Allerdings können auch unbeabsichtigte Verstöße gegen persönliche Grenzen von Kindern und Jugendlichen im Schulalltag nicht gänzlich vermieden werden (Bezirksregierung Arnsberg, 2012). Lehrkräfte befinden sich in einer machtvollen Position gegenüber den Schüler*innen, welche aufgrund der Teilnahmepflicht am Unterricht und der Notengebung durch die Lehrkraft unangenehmen oder übergriffigen Situationen nicht leicht entgehen können (ebd.). Durch das Machtgefüge können Vorfälle sexualisierter Gewalt für Betroffene mitunter nur schwer offengelegt werden (ebd.). Weil Schüler*innen sich in einem solchen hierarchischen System selbst kaum schützen können, sind sie auf die Hilfe von Erwachsenen angewiesen (Bezirksregierung Arnsberg, 2012; Wagner & Rulofs, 2017).

In der Forschungsliteratur liegen konzeptionell-theoretische Ausführungen der Problematik vor (z. B. Thole et al., 2012), allerdings sind konkrete Fälle sexualisierter Gewalt an Schulen nur vereinzelt bekannt und medial thematisiert worden, beispielsweise am Berliner Canisius-Kolleg und an der hessischen Odenwaldschule. Systematisch-empirische Studien zu sexualisierter Gewalt an Schulen in Deutschland sind noch rar (Christmann, Schwerdt, & Wazlawik, 2019), da diese intime Thematik forschungsmethodisch mit Schüler*innen nicht leicht zu erheben ist, wie beispielsweise Probleme und Widerstände in der quantitativ angelegten MiKADO-Studie [Missbrauch von Kindern: Aetiologie, Dunkelfeld, Opfer] verdeutlichen (Jud, Rassenhofer, Witt, Münzer, & Fegert, 2016, S. 33). Als konkrete Ergebnisse einer Befragung von Lehrkräften gaben 26 % an, bereits mit Vor- oder Verdachtsfällen konfrontiert gewesen zu sein (Glammeier, 2015, S. 14). In der Institutionenbefragung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) gaben sogar über 40 % der Schulleitungen und Lehrkräfte an, dass es an ihrer Schule (Verdachts‑)Fälle von sexualisierten Übergriffen gegeben habe (Helming et al., 2011, S. 62). Die Ergebnisse der an hessischen Schulen durchgeführten sogenannten SPEAK-Studie untermauern, dass insbesondere verbale, vielfach aber auch körperliche Formen sexualisierter Gewalt für zahlreiche Mädchen und Jungen fester Bestandteil schulischer Alltagserfahrung sind (Maschke & Stecher, 2018). Einen hohen Verbreitungsgrad bestätigen auch Hofherr und Kindler (2018, S. 100f.), wonach 66 % der befragten Mädchen und 52 % der Jungen mindestens eine Situation sexualisierter Gewalt erlebt haben. Dabei dominierte in Schulen die Form verbaler Grenzverletzungen (über 44 % der Mädchen und über 34 % der Jungen hatten mindestens eine solche Erfahrung erlebt) gegenüber Übergriffen mit Körperkontakt, die 16 % der Mädchen und 5 % der Jungen mindestens einmal selbst erfahren hatten.

Sexualisierte Gewalt im Sportunterricht

Als spezifische Risikokonstellationen für das Auftreten sexualisierter Gewalt im Sportunterricht sind eine starke Körperorientierung, häufiger Körperkontakt und spezifische Unterrichtssituationen zu konstatieren (Wagner & Rulofs, 2017). Durch das Ausziehen in Umkleiden oder beim Duschen sowie durch die mitunter körperbetonende, enge Schwimm- oder Sportkleidung rückt der Körper in den Fokus (Hofmann & Schicklinski, 2018; Hunger et al., 2017; Schicklinski & Hofmann, 2018). Intime Kriterien wie Körpergewicht, Proportionen oder Fitness werden verstärkt wahrgenommen (Wagner, Bartsch, & Rulofs, 2021; Bartsch, Wagner, & Rulofs, 2022) und mit anderen Schüler*innen verglichen (Hunger et al., 2017). Zudem generiert die Vermittlung von Sportarten wie Gerätturnen im Sportunterricht häufiger Situationen mit potenziell unerwünschten Körperberührungen während der Hilfestellungen (Scharenberg, 2003; Weigelt, 2010). Gleichwohl ist ein Sportunterricht ohne körperliche Berührungen aufgrund der Merkmale des Faches kaum vorstellbar (Hofmann et al., 2018; Hunger et al., 2017).

In der empirischen Forschung zur Thematik untersuchten Klein und Palzkill bereits 1998 in einer Interviewstudie Formen sexualisierter Gewalt von Lehrkräften gegenüber Schülerinnen im Schulsport in Deutschland. Sie konnten sowohl verbale und psychische Gewalt als auch unangebrachte Berührungen bei Hilfestellungen und Aufforderungen zu kurzer Sportkleidung als sexualisierte Übergriffe identifizieren (Klein & Palzkill, 1998; ähnliche Ergebnisse bei Hofmann & Schicklinski, 2018). Nach Weigelt (2010) kann der Sportunterricht als ambivalentes Handlungsfeld bezeichnet werden, in welchem Berührungen seitens der Lehrkräfte oftmals als problematisch empfunden werden und verunsichernd wirken können. Zudem haben Harnischfeger und Wiesche (2020) in ihrer Interviewstudie mit vier Sportlehrkräften die Problemfelder 1:1-Situationen, Umkleide‑/Duschsituationen, Kleidung und Körperkontakt/Hilfestellung herausgearbeitet.

Forschungsdefizit und Forschungsfragen

Zu sexualisierter Gewalt existieren im internationalen Raum für Schulen vereinzelt empirische Studien (z. B. Rahimi & Liston, 2011), für den Sportunterricht sind bisher keine bekannt. Zu dieser Thematik wurden auch in Deutschland noch immer kaum Untersuchungen veröffentlicht (Hofmann et al., 2018). Da Sport in der Schule neben vielen positiven Erfahrungspotenzialen durch Bedingungen charakterisiert ist, die sexualisierte Grenzverletzungen als bedeutsamen Teilbereich sexualisierter Gewalt im Vergleich zu anderen Fächern besonders ermöglichen können, stellen sich folgende Forschungsfragen (FF) zum Sportunterricht an Schulen in Deutschland:

  • (FF1) Welche Formen sexualisierter Grenzverletzungen treten im Sportunterricht auf?

  • (FF2) Welche Konstellationen (Akteur*innen, Dauer, Verhältnisse) sexualisierter Grenzverletzungen werden im Sportunterricht wahrgenommen?

  • (FF3) Wie wird mit sexualisierten Grenzverletzungen umgegangen?

Um diese Fragestellungen angemessen zu bearbeiten, steht in dieser Untersuchung die Sicht der Schüler*innen, die einen Vorfall sexualisierter Gewalt im Sportunterricht erlebt oder beobachtet haben, im Mittelpunkt. Die Erfassung der Schülerperspektive trägt zu einer umfassenden Betrachtung des Problems bei und wird in dieser Studie retrospektiv untersucht.

Methodik

Um die Erfahrungen der ehemaligen Schüler*innen mit sexualisierten Grenzverletzungen im Sportunterricht umfangreich zu explorieren, wurde eine qualitative Datenerhebung gewählt. Die Anwendung einer qualitativen Methode kann durch die Ebene der individuellen, alltagsorientierten Erfahrungen begründet werden, auf welcher sich die Erlebnisse von Schüler*innen mit sexualisierter Gewalt im Sportunterricht bewegen. Das qualitative Forschungsdesign bietet die Möglichkeit, sich der Erfahrungswirklichkeit der Schüler*innen im Schulunterricht explorativ zu nähern (Hunger & Thiele, 2000).

Die Untersuchung wurde als qualitative leitfadengestützte Interviewstudie in Einzelinterviews durchgeführt und umfasst als Stichprobe 64 volljährige Erwachsene, die zum Zeitpunkt des Interviews keine Schüler*innen mehr waren und freiwillig an der Studie teilgenommen haben. Es wurden Personen zwischen 20 und 25 Jahren, vereinzelt bis maximal 30 Jahren, zu ihren Erfahrungen in den Sekundarstufen 1 und 2 an Gymnasien und Gesamtschulen befragt. Die Geschlechter bzw. Gender oder Namen wurden in der Stichprobe nicht explizit erfragt, um durch Anonymität eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Auf Basis einer binären Einschätzung nach Phänotypen ergibt sich eine etwa hälftige Geschlechterverteilung.

Die Leitfadenfragen bezogen sich sowohl auf aufgetretene Formen von sexualisierten Grenzverletzungen im Sportunterricht als auch den Umgang mit diesen Vorfällen. Der bei der Erhebung der Interviews verwendete Interviewleitfaden bildet die übergeordneten Fragestellungen dieser Untersuchung ab. In einem ersten Fragenblock wurde im Leitfaden der Frage nachgegangen, welche Vorfälle sexualisierter Gewalt im Sportunterricht aufgetreten sind. Dazu gehört auch die retrospektive Beschreibung von Vorfällen, Formen und Konstellationen (Akteur*innen, Dauer, Verhältnisse). Anschließend wurden der Umgang mit diesen Vorfällen und die diesbezüglichen Strukturen an der Schule abgefragt. Um Validitätsprobleme aufgrund der Retrospektivität zu minimieren, wurde den Befragten genügend Zeit zur Erinnerung und Beantwortung der Fragen gelassen sowie die Möglichkeit gegeben, im Verlauf der Befragung auf vorherige Fragen zurückzukommen, beispielsweise um Änderungen vorzunehmen. Als Vorteil der eingesetzten Methode der retrospektiven Befragung wurde die verhältnismäßig weiter entwickelten Fähigkeiten der Befragten zur Selbstreflexion im Erwachsenenalter im Vergleich zum Alter als Schüler*innen angenommen (Groß & Gropengießer, 2003).

Alle Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert sowie anonymisiert. Die transkribierten Interviews wurden im Anschluss mithilfe des Programms MAXQDA kodiert und im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring interpretiert (Mayring & Frenzl, 2014). Während des offenen Kodierens der Interview-Transkripte konnten Hauptkategorien und Unterkategorien generiert werden. Die Bezeichnungen der Kategorien beruhen auf der vorhergegangenen wissenschaftlichen Literaturaufarbeitung und wurden wie die Unterkategorien überwiegend deduktiv aus der Literatur gewonnen, mit induktiven Ergänzungen aus den Transkriptionen der Interviews (ebd.).

Eine hohe (Auswertungs‑)Objektivität der Inhaltsanalyse wurde durch transparente und standardisierte Codier-Regeln angestrebt und durch eine Inter-Coder-Reliabilitätsanalyse kontrolliert. Dazu wurden zufällig ausgewählte Textsegmente von 20 % des Gesamtseitenumfangs von zwei verschiedenen Analysierenden separat anhand des Kategoriensystems ausgewertet und ihre Übereinstimmung gemessen. Der Cohens-Kappa-Wert von 0,77 ist als gut zu bewerten (Döring & Bortz, 2016).

Ergebnisse

Die Analyse der 64 Interviews ergab die folgenden Ergebnisse, die im Folgenden entlang der drei Forschungsfragen (FF) zu Formen, Konstellationen und zum Umgang mit Fällen in jeweils einem Kapitel dargestellt werden.

Formen

Die in dieser Untersuchung identifizierten wahrgenommenen Formen sexualisierter Grenzverletzungen im Sportunterricht (FF1) können drei übergeordneten Kategorien zugeordnet werden, den physischen, verbalen und visuellen sexualisierten Grenzverletzungen.

Die häufigste Form sexualisierter Grenzverletzungen im Sportunterricht, die in dieser Studie genannt wurde (35 von 64 Interviews), sind als physische Grenzverletzungen unerwünschte Berührungen. Besonders häufig nannten die Befragten in diesem Bereich Vorfälle aus dem Gerätturnen bei Hilfestellungen durch die Lehrkraft. Während der Hilfestellung hat die Lehrkraft „auch mal da hin gegriffen, wo es nicht unbedingt sein sollte.“ (Interview_7, Pos. 7).

Ohne Körperkontakt, aber dennoch physischer Art, wurde als weitere Form sexualisierter Grenzverletzungen eine unerwünschte körperliche Nähe zwischen der Lehrkraft und Schüler*innen beschrieben (9 von 64 Interviews). Die Befragten formulierten, dass es ihnen häufig „einfach viel zu nah“ war (Interview_42, Pos. 4).

Als ein besonderer Teilbereich dieser Erscheinungsform sexualisierter Grenzverletzungen wurde forcierte Zweisamkeit oder Isolierung erwähnt, also Situationen, in denen die Lehrkraft eine Eins-zu-Eins-Betreuung mit dem bzw. der Schüler*in vornimmt und gleichzeitig unerwünschte körperliche Nähe herstellt. Zwei weibliche Befragte hatten darüber hinaus von ihrer männlichen Sportlehrkraft Aufforderungen zu außerunterrichtlichen Treffen zu zweit erhalten:

Ich glaube, nach zwei Wochen hat er dann angeboten, sich außerhalb des Unterrichts zum Üben zu treffen. Da habe ich aber ganz klar ‚nein, danke‘ gesagt und ihm gesagt, dass, wenn ich Lust bekommen sollte, weiterzugehen in der Sportart, ich mich nach einem Verein umsehen werde.“ (Interview_52, Pos. 4).

Verbale sexualisierte Grenzverletzungen kamen in 12 von 64 Interviews in Form von unerwünschten sexualisierten Sprüchen der Lehrkraft vor. Hierbei ist auffällig, dass häufig weibliche Schülerinnen mit auffälligen körperlichen Merkmalen von der Lehrkraft ausgewählt wurden:

Wir hatten ein Mädchen in unserer Klasse, die hatte große Brüste und immer einen riesen Ausschnitt und unser Lehrer hat dann immer dumme Sprüche natürlich über sie gemacht.“ (Interview_21, Pos. 5).

Als verbale Grenzverletzungen wurden darüber hinaus unerwünschte Schmeicheleien berichtet:

Er hat zum Beispiel immer wieder vor mir betont, wie hübsch ich denn sei und dass ich doch bei ‚Germany’s next Topmodel‘ mitmachen solle. Das ist mir bis heute unangenehm.“ (Interview_60, Pos. 5).

Ebenfalls im Bereich verbaler Grenzverletzungen wurde über Sportlehrkräfte in 7 von 64 Interviews berichtet, dass sie Aufforderungen zu knapper Sportbekleidung geäußert hätten. Auffällig war, dass in einigen Fällen nur die Mädchen der jeweiligen Schulklasse zum Tragen von kurzer Sportkleidung aufgefordert worden sind:

Der [Lehrer] hat halt von den Mädchen verlangt, hautenge, also möglichst hautenge, auch möglichst kurze Kleidung irgendwie, dann auch schon so in Richtung Hotpants oder so und halt enganliegende Shirts und sowas zu tragen. Und von den Jungs halt gar nicht. Die Jungs durften tragen, was sie wollten.“ (Interview_55, Pos. 3).

Einem visuellen Bereich konnten verschiedene Formen von Grenzverletzungen zugeordnet werden. In 8 Fällen erfuhren weibliche Schüler*innen gewisse Bevorzugungen durch das Tragen enger Sportbekleidung von einer männlichen Lehrkraft im Sportunterricht oder bei der Notengebung:

Gezwungen hat er eigentlich niemanden, aber er hat halt immer so Andeutungen gemacht. Und es war halt so impliziert irgendwie, dass wenn sie sich irgendwie knapp anziehen, dass dann die Noten verbessert werden.“ (Interview_46, Pos. 17).

In 3 Fällen kam es zu einer Entblößung von Körperteilen oder Unterwäsche durch die Lehrkraft, beispielsweise „hatten wir einen Sportlehrer, der selbst immer richtig kurze Hosen anhatte und sich breitbeinig vor uns hingesetzt hatte, dass man seinen Intimbereich genau gesehen hat, also alles.“ (Interview_57, Pos. 6). Bei Sportlehrerinnen wurden durchsichtige oder bauchfreie Kleidungsstücke von den Schüler*innen teilweise als Grenzverletzungen wahrgenommen.

Des Weiteren haben 16 der 64 befragten Personen angegeben, dass es sich bei den visuellen Grenzverletzungen um sexualisierte Blicke durch die Lehrkraft handelte, die beispielsweise „übertrieben geglotzt“ (Interview_18, Pos. 2) oder „immer in den Ausschnitt geschaut“ (Interview_56, Pos. 6) hätten.

Etwa ein Drittel der berichteten Fälle sexualisierter Gewalt im Sportunterricht (22 von 64 Fällen) enthalten als Form visueller sexualisierter Grenzverletzung das unerwünschte Einsehen bzw. Betreten von Umkleideräumen durch die Lehrkraft, das „unangekündigt“ (Interview_10, Pos. 30) erfolgt sei und dazu geführt habe, dass sich Schüler*innen „ungern umgezogen“ (ebd.) hätten. In einem anderen Fall sei der Lehrer „auffällig oft in die Umkleiden gekommen, um nochmal einzelne Schülerinnen herauszurufen. Ja, hat ihnen Dinge erzählt, die wir nicht so nötig in dem Moment fanden und dachten: Ja, das hätte auch draußen passieren können. Er tat so, als hätte er sich nicht weiter umgeguckt, aber wir hatten das Gefühl, dass da mehr dahintersteckte, dass er eigentlich, ja, gerne was sehen wollte.“ (Interview_34, Pos. 4). Auffällig ist, dass die Mädchenumkleiden besonders häufig von diesen visuellen Grenzverletzungen betroffen waren (in 20 von 22 Fällen):

Der Sportlehrer ist immer unnötigerweise in die Mädchenkabine gegangen, um den Mädchen zu sagen, dass sie sich beeilen sollen und dass wir gleich anfangen, obwohl allen immer klar war, dass wir um Punkt anfangen und nicht vorher.“ (Interview_48, Pos. 7).

Konstellationen

Hinsichtlich der wahrgenommenen Konstellationen (Akteur*innen, Dauer, Verhältnisse) sexualisierter Grenzverletzungen (FF2) ist zunächst zu den Akteur*innen festzuhalten, dass in den Interviews nur nach Vorfällen sexualisierter Grenzverletzungen gefragt worden ist, bei denen die Sportlehrkräfte (und nicht z. B. Mitschüler*innen) als Täter*innen bezeichnet wurden.

Den Aussagen der Befragten zufolge ist es in 62 von 64 geführten Interviews zu Vorfällen sexualisierter Grenzverletzungen im Sportunterricht durch männliche Sportlehrkräfte gekommen, weibliche Lehrkräfte wurden in 2 von 64 Interviews als Täterinnen genannt.

Bei den Angaben zu den Betroffenen sexualisierter Grenzverletzungen im Sportunterricht lassen sich in den Interviews verschiedene Konstellationen differenzieren.

Am häufigsten (28 von 64 Fälle) waren alle Mädchen der jeweiligen Schulklasse von sexualisierten Grenzverletzungen im Sportunterricht betroffen, während die Jungen nicht in die Vorfälle involviert waren. Den Äußerungen der Befragten konnte entnommen werden, dass der/die Täter*in in dieser Konstellation sexualisierte Gewalt an weiblichen Schülerinnen angewendet hat, ohne eine spezifische Auswahl an Mädchen getroffen zu haben, denn „er hat es bei allen versucht und nicht gezielt ausgesucht“ (Interview_29, Pos. 20).

Auffällig ist, dass alle von der Lehrkraft speziell ausgewählten Schüler*innen ausschließlich weiblich waren: „Er [der Lehrer] machte immer über etwa 2, 3 bestimmte Mädchen sexistische Bemerkungen.“ (Interview_62, Pos. 4). Während in manchen Fällen der Auswahlvorgang bestimmter Schülerinnen durch die Lehrkraft für die Befragten nicht nachvollziehbar war, wurden in anderen Fällen besondere körperliche Merkmale wie die weibliche Brust als ausschlaggebendes Merkmal für Grenzverletzungen wahrgenommen. Dies illustriert beispielsweise folgende Interviewschilderung: „(…) als ein Junge [die Betroffene] ziemlich hart abgeworfen hat, da hat er [der Lehrer] so etwas gesagt wie: ‚Das tat bestimmt weh! Auch wenn die Airbags einiges abgefangen haben‘.“ (Interview_8, Pos. 4). Darüber hinaus waren Schülerinnen, die eine besonders gute Leistung im Sportunterricht erbrachten oder ihre Sportart als Leistungssportlerinnen ausübten, häufiger von sexualisierten Grenzverletzungen betroffen:

Mein Lehrer hat mich nach jedem Unterricht angesprochen und kam mir irgendwie ganz nah und hat immer gesagt, er würde für mich extra so einen Turn-Kurs in der Schule machen (…), und er hat mich ungefähr nach jeder Stunde zum Reden zu sich geholt und hat auch immer so komische Anspielungen gemacht. (…) Es war immer sehr unangenehm!“ (Interview_57, Pos. 9).

Zur zeitlichen Häufigkeit ist hinsichtlich aller 64 Interviews festzuhalten, dass die berichteten Vorfälle laut 8 Interviewten einmalig auftraten, in 44 Interviews wurde jedoch eine wiederholte bzw. längerfristige Tat beschrieben, sogar „über einen Zeitraum von einem Schuljahr und länger“ (Interview_32, Pos. 13). Dabei wurde auch eine Verschlimmerung des Zustandes beschrieben: „Die Vorfälle haben zugenommen, der Lehrer ist mit der Zeit aufdringlicher geworden“ (Interview_33, Pos. 12).

Zu den Konstellationen ist hinsichtlich der Machtverhältnisse weiterhin hervorzuheben, dass in etwa die Hälfte (30 von 64) der Proband*innen davon berichtet haben, dass die Lehrkräfte während der Vorfälle sexualisierter Grenzverletzungen ihre Rolle als Lehrkraft und ihre Machtstellung ausgenutzt haben, „weil [es] kann ja niemand was dagegen sagen“ (Interview_3, Pos. 16). Die Befragten haben beschrieben, das Gefühl gehabt zu haben, „dass man halt da drunter (…) steht“ (Interview_31, Pos. 30).

Umgang mit sexualisierten Grenzverletzungen

Zum Umgang mit sexualisierten Grenzverletzungen (FF3) wurden die Interviewpartner zum Handeln verschiedener Gruppen von Akteur*innen und zu Hemmnissen beim Einleiten von Konsequenzen bzw. Interventionen befragt.

Gruppen von Akteur*innen

In 54 von 64 Interviews haben die Schüler*innen selbst keine Konsequenzen in Bezug auf die sexualisierten Grenzverletzungen eingeleitet. Auffällig ist, dass unter den Schüler*innen über das mutmaßliche Fehlverhalten der Lehrkraft viel diskutiert wurde, teilweise sogar klassenübergreifend, sich jedoch kaum jemand dieser Schüler*innen an eine Ansprechperson gewandt hat:

Da es nur mehrere kleinere Vorfälle waren, haben es immer verschiedene Leute mitbekommen, meistens andere Mädchen. Aber eigentlich hat da nie jemand gleich etwas gesagt. Erst nach den Stunden in der Umkleide wurde (…) mit Freunden darüber geredet.“ (Interview_60, Pos. 22).

Also am Anfang haben wir uns auch als Gruppe gefragt, ob wir vielleicht überreagieren oder wir es falsch wahrnehmen, aber am Ende haben dann auch schon ein paar gesagt, dass es nicht ganz okay ist, was da so läuft.“ (Interview_15, Pos. 6).

Neun der 64 Befragten haben angegeben, dass auch andere Lehrkräfte als Dritte nicht gehandelt haben, obwohl sie entweder aktiv von Schüler*innen auf die sexualisierten Grenzverletzungen durch die Sportlehrkraft angesprochen worden sind, beispielsweise: „So wirklich viel hat unser Klassenlehrer nicht dazu gesagt – nur, dass wir nicht die Einzigen wären.“ (Interview_7, Pos. 16).

Es wurden jedoch auch einige Fälle beschrieben (9 von 64), in denen Schüler*innen Konsequenzen gegen das Verhalten der Lehrkraft unternommen haben. Auffällig war, neben der geringen Anzahl der Fälle, dass die Schüler*innen sich eher in größeren Gruppen getraut haben, sich in der Schule dazu zu äußern oder privat ihre Eltern informiert haben. Explizit wurde in 4 von 64 Fällen erwähnt, dass die Eltern die Intervention eingeleitet haben:

Dieses Zu-Nahe-Kommen ging über mehrere Wochen, aber erst nach dem Vorfall mit meiner Klassenkameradin haben wir uns dann als Klasse entschieden, etwas dagegen zu tun. Ich war zu der Zeit Klassensprecherin und habe mit meinen Eltern darüber gesprochen. Die haben sich dann mit der Schulleitung in Verbindung gesetzt und ein Gespräch mit dem Direktor, den Eltern und dem Lehrer veranlasst.“ (Interview_64, Pos. 8).

In 20 Interviews wurde beschrieben, dass seitens der Schulleitung keine dienstrechtliche und disziplinarrechtliche Prüfung gegen das Verhalten der Lehrkraft bekannt geworden ist, obwohl die Vorfälle der Leitungsebene kommuniziert worden waren. Befragte hatten das Gefühl, „dass es unter den Tisch gekehrt wurde“ (Interview_58, Pos. 49) oder den Mädchen empfohlen worden ist, „im Sportunterricht bei diesem Lehrer hochgeschlossene T‑Shirts (…) und keine zu kurzen Hosen“ (Interview_4, Pos. 14) zu tragen. In 4 von 64 Fällen wurde durch die Schulleitung ein „Lehrerwechsel“ (Interview_21, Pos. 34) eingeleitet.

Hemmnisse

Als Hemmnisse beim Einleiten von Konsequenzen bzw. Interventionen stand in den meisten beschriebenen Fällen den Schüler*innen die eigene Scham oder Angst oder auch ein fehlendes Bewusstsein für die Thematik im Wege.

In 14 von 64 Fällen geht aus den Aussagen der Befragten hervor, dass die Thematik aus der damaligen Sicht der Schüler*innen als unangenehm empfunden wurde und aufgrund eines Schamgefühls keine Handlung oder Konsequenz durch die Schüler*innen eingeleitet worden ist: „Warum spricht man so etwas nicht an? Ja, das ist halt unangenehm. Ich würde das als Mädchen nicht machen.“ (Interview_7, Pos. 38).

Die Angst vor schlechten Noten als Grund für ausbleibende Konsequenzen wurde in 6 Fällen genannt, in 14 Fällen hatten die Befragten allgemein Angst vor der Lehrkraft und haben deshalb nichts gegen die sexualisierte Gewalt unternommen, zum Beispiel „weil der Lehrer dann (…) noch gemeiner zu uns wurde und uns angeschrien hat und sehr unfair wurde zu uns“ (Interview_10, Pos. 32). In einem anderen Fall ging es „so weit, dass sie sich nicht getraut haben, die Übung zu machen und sich deshalb nach hinten gestellt haben.“ (Interview_43, Pos. 17).

In 8 Fällen wurde davon berichtet, dass der Hinderungsgrund für Konsequenzen gegenüber der/dem Täter*in ein Unglaube durch Dritte war, der entweder von den Schüler*innen erlebt oder im Vorfeld befürchtet wurde. Aufgrund dieser Umstände beschreiben viele Befragte eine Ohnmacht oder Hilflosigkeit, da sie sich als Schüler*in nicht handlungsfähig gefühlt haben: „Wirklich ernst genommen wurde es dann nicht. Aber was soll man da als Schüler auch schon machen.“ (Interview_18, Pos. 10).

Rund ein Viertel (15 von 64 Befragten) hat angegeben, dass ihnen keine Ansprechperson bekannt war, an die sie sich wenden konnten oder wollten. In einigen Interviews hat sich darüber hinaus ein mangelhaftes Verhältnis zu Vertrauenslehrer*innen gezeigt.

Ein in der Untersuchung häufig (28 von 64 Fällen) genannter Grund für ausbleibende Konsequenzen war das fehlende Bewusstsein in Bezug auf sexualisierte Gewalt. Die Befragten wussten als Schüler*innen häufig nicht, wie sie sich verhalten können oder sollen: „Ich habe einfach wahrgenommen, dass mir das unangenehm ist, dass ich das nicht mag.“ (Interview_58, Pos. 33).

Diskussion

Um Erkenntnisse über sexualisierte Grenzverletzungen (als Teilbereich sexualisierter Gewalt) im Sportunterricht zu erweitern, wurde in 64 Einzelinterviews retrospektiv untersucht, welche Formen (FF1) und welche Konstellationen (FF2) sexualisierter Grenzverletzungen im Sportunterricht an Schulen in Deutschland wahrgenommen wurden und wie mit ihnen umgegangen wurde (FF3).

Zu Formen (FF1) sexualisierter Grenzverletzungen im Sportunterricht zeigen die Ergebnisse dieser Studie eine Vielfalt: Unerwünschte körperliche Berührungen und Nähe wurden ebenso berichtet wie das unangekündigte Betreten von Umkleidekabinen, sexualisierte Sprüche, Aufforderungen zu knapper Sportkleidung, Entblößung von Körperteilen, Bevorzugung bei enger Sportbekleidung, geschlechtsspezifische Bevorzugung und unerwünschte sexualisierte Blicke. In Bezug auf unerwünschte körperliche Berührungen wurden besonders häufig Erfahrungen aus dem (Gerät‑)Turnen genannt. In diesem Punkt stimmen die Ergebnisse dieser Studie mit denen von Weigelt (2010) überein, die Hilfestellungen im Turnen als verunsichernd und problematisch für Schüler*innen beschrieben hat. An dieser Stelle sollte jedoch auch bedacht werden, dass (Gerät‑)Turnen eine Sportart ist, die mit Berührungen durch Hilfestellungen einhergeht, welche für Schüler*innen in dieser Art und Weise ungewohnt sein können und aus diesem Grund möglicherweise fehlinterpretiert werden könnten (Scharenberg, 2003).

Auch Formen sexualisierter Gewalt ohne Körperkontakt wurden in dieser Untersuchung beschrieben. So war das unangekündigte Betreten von Umkleidekabinen eine häufig genannte sexualisierte Grenzverletzung. Dazu berichten Schicklinski und Hofmann (2018), dass Situationen intimer Nähe durch ein gemeinsames Aufhalten von Schüler*innen und Lehrkräften in Umkleidekabinen problematisch seien. Zwar haben Sportlehrkräfte eine Aufsichtspflicht, aber wie oft und ob überhaupt ein unangekündigtes Betreten notwendig ist, wäre normativ und juristisch zu klären. Es ist anzumerken, dass die Interviewten selbst differenziert haben, ob die Lehrkraft aufgrund baulicher Gegebenheiten gezwungen war, durch eine Umkleidekabine zur Sportstätte zu gelangen oder dies nicht notwendig gewesen ist.

Zur Bekleidung im Sportunterricht ist festzuhalten, dass je nach Sportart enganliegende Kleidung für die Durchführung bestimmter Bewegungen sicherlich von Vorteil sein oder Verletzungsrisiken minimieren könnte. Dies sollte entsprechend mit den Schüler*innen besprochen und transparent begründet werden. Irritierend ist jedoch, wenn diese Forderung nur an Mädchen und nicht die Jungen einer Klasse gestellt wird oder mit einem attraktiveren bzw. freizügigeren Kleidungsstil bessere Noten in Aussicht gestellt werden. Zur Bevorzugung oder Aufforderung zu knapper Sportbekleidung beschreibt Enders (2012) Grenzverletzungen durch das Tragen unpassender Kleidung und fordert zu einer angemessenen Arbeitskleidung der Lehrkräfte auf. Auch für Schüler*innen wären an dieser Stelle verbindliche Kleidungsregelungen eine mögliche Maßnahme zur Verminderung sexualisierter Grenzverletzungen im Sportunterricht. Dabei konstituiert die Pubertät ein Alter des Ausprobierens, aber auch großer Verletzlichkeit hinsichtlich der Körperlichkeit, beispielsweise durch körperliche Veränderungen wie Brustwachstum oder Menstruation (Höfinger-Hampel, 2010). Die Sichtweisen der Jugendlichen auf den eigenen Körper können sich gerade in dieser Phase der körperverändernden Pubertät fundamental von den Erfahrungen der Sportlehrkräfte unterscheiden, die zum Beispiel durch ihre Vereinssportbiografie zu einer Lockerheit im körperlichen Umgang sozialisiert worden sind (Harnischfeger & Wiesche, 2020), wodurch subjektiv sehr unterschiedliche Wahrnehmungen derselben Situation konstruiert werden können.

Zu unerwünschten sexualisierten Sprüchen durch die Sportlehrkraft ist es teilweise verwunderlich, warum sich pädagogisch ausgebildete Lehrkräfte für abwertende oder verletzende Äußerungen über Brüste oder Gesäße von Schülerinnen entscheiden. Wohlwollend lassen sich manche der berichteten sexualisierten Sprüche als subjektiv vermeintliche Komplimente zur Stärkung des Selbstbewusstseins interpretieren, jedoch haben sich viele der beschriebenen Sportlehrkräfte dann zumindest ungeschickt ausgedrückt. Dies lässt sich als Bedarf für Unterstützung im Sinne von Sensibilisierungsmaßnahmen oder Fortbildungen deuten. Es kann sich in solchen Fällen jedoch auch um gezielte Handlungen als Täterstrategien einzelner Sportlehrkräfte handeln (Diketmüller, 2020). Im Sinne einer konstruktivistischen Reflexion ist erwähnenswert, dass weibliche Personen sexualisierte Gewalt verbaler Art häufiger als unangenehm empfinden als männliche Personen (Schicklinski & Hofmann, 2018). Auch deshalb wäre eine Sensibilisierung der männlichen Lehrkräfte in Bezug auf sexualisierten Sprachgebrauch wichtig, damit diese den Schüler*innen mit ihrer Ausdrucksweise Respekt vermitteln können, anstatt sie zu verunsichern.

Hinsichtlich der Konstellationen sexualisierter Grenzverletzungen im Sportunterricht (FF2) ist auffällig, dass die Geschlechtszugehörigkeit ein wichtiges Merkmal zu sein scheint und überwiegend weibliche bzw. als Einzelbetroffene ausschließlich weibliche Personen beschrieben wurden. Gleichzeitig wurden weibliche Lehrkräfte als Täterinnen wesentlich seltener erwähnt als männliche Lehrkräfte. Auch andere Studien zu sexualisierter Gewalt identifizierten überwiegend Männer als Täter (Darling et al., 2020; IOC, 2007; Ohlert, Rau, Rulofs, & Allroggen, 2017a). Darüber hinaus stimmen die Ergebnisse dieser Untersuchung überein mit Enders (2012), die beschreibt, dass Mädchen ein höheres Risiko haben, Betroffene sexualisierter Gewalt zu sein. Auch in der Untersuchung von Ohlert, Seidler, Rau, Rulofs, und Allroggen (2017b) waren weibliche Personen häufiger betroffen als männliche. Aufgrund dessen wäre ein besonderer Schutz von Mädchen und jungen Frauen im Sportunterricht wichtig.

Bezogen auf die Dauer von grenzverletzendem Handeln konnte festgestellt werden, dass die meisten Täter*innen im Sportunterricht wiederholt sexualisierte Grenzverletzungen begangen haben. Das Ergebnis könnte gegen einmalige Missverständnisse zwischen Lehrkräften und Schüler*innen sprechen und auf ein systematisches Fehlverhalten der Lehrkräfte hindeuten. Es könnte sich um Versuche der verursachenden Person handeln, das grenzüberschreitende Verhalten zu „normalisieren“ bzw. die Schüler*innen daran zu gewöhnen, was einer bekannten Täter*innen-Strategie entspricht (Diketmüller, 2020). Dies geht als Täter*innen-Strategie häufig einher mit der Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen, was von einigen Befragten genannt worden ist, genauso wie eine bevorzugte Behandlung (Grooming) vereinzelt beschrieben worden ist.

Zum Umgang mit sexualisierten Grenzverletzungen im Sportunterricht (FF3) ist hinsichtlich der verschiedenen Gruppen von Akteur*innen festzustellen, dass es den Schüler*innen selbst schwerfällt, Konsequenzen einzuleiten. Zwar fand untereinander rückversichernde Kommunikation statt, für darüberhinausgehende Aktivitäten war aber meist die Unterstützung von Eltern oder Schulleitungen notwendig. Umso deutlicher ist herauszustellen, dass die Erwachsenen, insbesondere andere Lehrkräfte, in den Wahrnehmungen der Befragten nicht besonders häufig mit Handlungen unterstützt haben. Dies mag erschrecken, weil es schutzbedürftige Kinder in einer Ohnmacht lässt, zeigt aber zugleich die Schwierigkeiten beim Umgang mit sexualisierten Grenzverletzungen auf, die nach wie vor ein Tabuthema darstellen (Parent & Demers, 2011). Für den Umgang mit sexualisierten Grenzverletzungen sind leicht zugängliche Informationen sowie ein klares und transparentes Beschwerdemanagementsystem erforderlich (Bezirksregierung Arnsberg, 2012). Denn gezielte Strategien von Täter*innen bagatellisieren Grenzüberschreitungen, fördern die eigene Scham Betroffener und nutzen Abhängigkeitsverhältnisse aus (Diketmüller, 2020). Die Ergebnisse belegen, dass sich die Schüler*innen aufgrund der Machtposition der Lehrkraft nicht zu beschweren trauten. Hier liegt die Verantwortung auf institutioneller Seite bei den Schulen (Bathke, Bücken, & Fiegenbaum, 2019), die Schüler*innen schützen müssen. Dazu können präventive Informationen helfen (Allroggen, Rau, Spröber, & Fegert, 2012), aber auch eine Sensibilisierung der Schüler*innen (Münder & Kavemann, 2010), damit Angst- und Schamgefühle als Hemmschwellen für eine Kommunikation über Vorfälle nicht aufgebaut werden (zur Vermeidung von Beschämungen: Sobiech & Marks, 2008). Mehrere Studien (u. a. Darling et al., 2020; Enders, 2012) haben die Bedeutung von geschulten und angemessen reagierenden Ansprechpersonen für erfolgreiche Interventionen herausgestellt. Zudem können Konzepte aus der Forschung zu pädagogischen Instituten und dem außerschulischen Sport genutzt werden (Wagner & Rulofs, 2017; Rulofs & Wagner, 2018; Rulofs, Axmann, & Wagner, 2016). Auch in Schulen könnte die Etablierung fester, fortgebildeter und von Schüler*innen akzeptierter Ansprechpartner*innen einen wichtigen Lösungspfeiler darstellen.

Des Weiteren wird für den Sportunterricht eine offene Kommunikation zum Thema körperlicher Berührungen empfohlen, im Rahmen derer Schüler*innen Berührungen im Schulsport hinterfragen dürfen (Weigelt, 2010). Denn aufgrund des Machtgefälles können Lehrkräfte nicht davon ausgehen, dass Schüler*innen ihnen von sich aus mitteilen, wann für sie eine Grenze erreicht oder überschritten ist (Harnischfeger & Wiesche, 2020). Umso bedeutsamer ist daher der eigene reflektierte Umgang jeder Sportlehrkraft mit Nähe und Berührungen, um professionell zu handeln.

Für eine offene Kommunikationskultur ist es außerdem wichtig, dass keine vorschnelle Verurteilung geschieht. Bei missverstandenen Verhaltensweisen der Lehrpersonen sollten diese angesprochen und dann gemeinsam Lösungen gefunden werden. Auch wenn hinter sexualisierten Grenzverletzungen im Sportunterricht keine gezielten Strategien von Täter*innen intendiert sind, sondern Sportlehrkräfte aus ihrer Sicht keine Grenzverletzungen begehen, könnten durch die Vorfälle im Sportunterricht Schüler*innen negativ beeinflusst werden. Beispielsweise könnten sich Abneigungen gegen das Sporttreiben etablieren und im schlimmsten Fall Schüler*innen sogar für zukünftige Übergriffe in anderen Settings desensibilisiert werden. Präventiv könnten daher beispielsweise von der Fachschaft Sport Verhaltensregeln beschlossen werden, welche im Sinne der Schüler*innen getroffen und von den Sportlehrkräften dauerhaft eingehalten werden (Münder & Kavemann, 2010).

Grenzen der Studie

Die in diesem Bericht enthaltenen Forschungsergebnisse zeigen persönliche, subjektive Erfahrungen und Beobachtungen ehemaliger Schüler*innen mit sexualisierter Gewalt im Sportunterricht. Es ist zu beachten, dass diese Forschungsergebnisse nicht repräsentativ für alle Schüler*innen in Deutschland oder andere Sportbereiche sind. Die angegebenen Häufigkeiten sind nur zur Einordnung der Ergebnisse dieser Studie angegeben, weder sind repräsentative Rückschlüsse auf Häufigkeiten möglich noch anvisiert. Darüber hinaus sollte auch beachtet werden, dass Gewalterfahrungen wie andere negative Erfahrungen von Menschen oft vergessen oder nicht erinnert werden (Puchert, Walter, Jungnitz, Lenz, & Puhe, 2007) und Schüler*innen mit sexualisierten Gewalterfahrungen möglicherweise überhaupt nicht oder nicht ehrlich an dem Interview teilgenommen haben (Ohlert et al., 2017a). Zur Erinnerungsfähigkeit der Interviewpartner sei angemerkt, dass sie trotz teils mehrjährigem Abstand die beschriebenen Fälle klar als Perturbationen des Normalen besonders im Gedächtnis behalten haben und ihnen auch in jungen Jahren bereits ungewöhnliche Handlungsweisen von Lehrkräften aufgefallen sind, bei denen sie „irgendwie ein komisches Gefühl“ hatten. Jedoch können sich Erinnerungen zu emotionalen Situationen im Laufe der Zeit verschieben, überspitzt oder vergessen werden, oder durch stereotypisches Verhalten ergänzt werden. Aufgrund des zeitlichen Abstands einer retrospektiven Studie und der subjektiv-konstruktivistischen Grundannahmen ist es nicht Ziel der Studie gewesen, einen objektiven Wahrheitswert zu den Fällen zu bestimmen. Insbesondere liegt (nur) eine Sichtweise auf die Fälle vor, möglicherweise haben Befragte als Schüler*innen Situationen und körperliche Berührungen durch die Lehrkraft als Grenzverletzungen empfunden, welche seitens der Lehrkraft lediglich als legitime Hilfeleistung interpretiert wurden (Scharenberg, 2003).

Ausblick

Durch die vorgestellte Studie liegen nun Daten zu auftretenden Formen, Konstellationen und dem Umgang mit sexualisierten Grenzverletzungen im Sportunterricht durch Lehrkräfte in Deutschland vor. Darauf aufbauend sollten weitere Forschungsergebnisse generiert werden, beispielsweise können für repräsentative Erhebungen Fragestellungen und Hypothesen deduziert sowie Differenzierungen nach soziodemografischen Daten ausgewertet werden. Ergänzend wären Forschungsprojekte zu Schüler*innen als Täter*innen sexualisierter Gewalt bedeutsam, da sexualisierte Gewalt im Sportunterricht auch unter Gleichaltrigen vorkommt (Allroggen et al., 2012). Zudem handelt es sich bei der in dieser Studie nicht untersuchten Primarstufe um einen Altersabschnitt, in dem die Thematik insbesondere hinsichtlich der Bindungsarbeit im Wechselspiel von Nähe und Distanz (Hofmann & Schicklinski, 2021) noch genauer erforscht werden könnte.

Weitere Potenziale bieten sich hinsichtlich Untersuchungen zur Vielfalt der Geschlechter (Palzkill, Pohl, & Scheffel, 2020) und ihrer Rolle bei sexualisierten Grenzverletzungen an, was hier im Rahmen einer retrospektiven Interviewstudie mit binären Geschlechtsverständnissen der meisten Befragten nicht differenziert berücksichtigt werden konnte.

Neben der Gewinnung weiterer Daten bietet sich die Nutzung der vorgestellten Erkenntnisse zur Erarbeitung und Implementierung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen an. Ein besonderes Augenmerk sollte entsprechend der Befunde dabei auf den Schutz von Mädchen und Frauen im Sportunterricht gelegt werden.

Zudem ist es empfehlenswert, schützende Strukturen nicht nur an Schulen zu schaffen, sondern Wissensbestände und thematische Sensibilisierungen bereits in der Aus- und Weiterbildung von (Sport‑)Lehrkräften zu verankern. Die Interview-Zitate dieser Studie könnten dazu als Lern‑/Diskussionsmaterial verwendet werden.

Damit die Thematik nachhaltig in eine ganzheitliche Schul(sport)entwicklung implementiert werden kann (Buhren & Wagner, 2010), wären auf Basis der vorgestellten Ergebnisse damit sowohl in der Personalentwicklung (Aus- und Weiterbildungen zur Sensibilisierung), als auch in der Organisationsentwicklung (qualifizierte Ansprechpersonen, klares und transparentes Beschwerdemanagementsystem, Informieren und Sensibilisieren von Schüler*innen, offene Kommunikationskultur) sowie in der Unterrichtsentwicklung (klare, abgestimmte Verhaltens- und Kommunikationsregeln) Anknüpfungspunkte gegeben, um Schulen und Schulsport noch sicherer gegen sexualisierte Grenzverletzungen zu machen (vertiefend: 16 Bausteine zur Prävention sexualisierter Gewalt in der Schulsportentwicklung in Wagner & Rulofs, 2017).