Am Donnerstag, den 26. Februar 2015 verstarb Prof. em. Dr. Dr. h.c. Ommo Grupe. Als erster Herausgeber der Sportwissenschaft verhalf er unserer Zeitschrift 1971 zum Leben, und er begleitete sie in dieser Rolle bis 2005. Nicht nur deswegen, aber ganz sicher auch aus diesem Wirken heraus, galt und gilt er als „Nestor“ von Sportwissenschaft in Deutschland (West).

Zahlreiche Gedanken, die uns Ommo Grupe etwa in seinem Gründungseditorial „Einleitung in die Sportwissenschaft“ (Grupe, 1971) hinterlässt, können und sollten – wie wir meinen – nach wie vor Wirkung erzeugen. Wie Michael Krüger, der Ommo Grupe über sehr viele Jahre beruflich wie auch menschlich nahe stand und der ihm (gemeinsam mit Eike Emrich) als Herausgeber der Zeitschrift nachfolgte, in seinem Beitrag „Ommo Grupe und seine Vision des Sports“ (Krüger, 2015; in diesem Heft) schreibt, schien dieser zuletzt an der Nachhaltigkeit seines Wirkens für den Sport zu zweifeln.

Aus tief empfundenem Respekt vor seiner Lebensleistung drucken wir Ommo Grupes Gründungseditorial auf den folgenden Seiten erneut als Faksimile. Viele der in seinem Editorial angebotenen Gedankenfiguren ermunterten uns, sie mit Blick auf das Heute zu überdenken und zu kommentieren. Faksimile Abb. 1.

Abb. 1
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Faksimile

Zeit der Entscheidungen

Unsere Zeitschrift steht am Scheideweg. Nach wie vor ist die Beteiligung (vor allem auch erfahrenerer) Sportwissenschaftlerinnen und Sportwissenschaftler, die durch Einreichung von Manuskripten zur Substanz der Zeitschrift beitragen könnten, in der Zahl mangelhaft. Gleichzeitig ermöglichen uns die herausgebenden Institutionen Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp), Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB) und Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs), nicht zuletzt durch ihr finanzielles Engagement gemeinsam mit dem Springer Verlag, mittelfristig einen Lebensast. Es gibt Stimmen, die die Sportwissenschaft vor allem Ausdruck der an bundesdeutschen Hochschulen und in deutscher Sprache kommunizierten Sportwissenschaft sein lassen wollen. Andere zweifeln grundsätzlich an der Idee eines einheitlichen Faches Sportwissenschaft und würden auch auf die dazugehörige Zeitschrift verzichten. Und schließlich gibt es Jene, die eine viel konsequentere Öffnung zur internationalen Scientific Community für vernünftig halten, sich für eine Sportwissenschaft einsetzen, die vor allem auch englischsprachig publizierende Kolleginnen und Kollegen anspricht, und diese als neue Beitragende für unsere Zeitschrift gewinnen wollen.

Schon die hier genannten, aber auch eine ganze Reihe weitere, uns vorgetragene Positionen, sind in ihren Konsequenzen kaum miteinander zu verbinden. Interessant finden wir zu bemerken, dass die aktuelle Situation der Sportwissenschaft – der Zeitschrift genauso wie die der Fachdisziplin – zumindest in Ausschnitten der 1971 von Ommo Grupe beschriebenen gleicht. Ein solcher Ausschnitt sei im Folgenden kurz beleuchtet.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Eine bemerkenswerte These, im Gründungseditorial ist unseres Erachtens die, dass das Auffächern eines disziplinären Fächerspektrums und die Zusammenführung entsprechender Fachbeiträge im Rahmen der damals neu gegründeten Zeitschrift, die Entwicklung von Methoden und Fragestellungen für wissenschaftlich fundierte interdisziplinär sportwissenschaftliche Betrachtungen fördern möge, und dass sich daraus schließlich eine Theorie des Sports formieren könne, die Voraussetzung für ein (dann) ernstzunehmendes akademisches Fach Sportwissenschaft sei. Ommo Grupe unterstreicht dabei, dass sich Sportwissenschaft davor hüten sollte zufrieden zu sein mit spezialdisziplinären Betrachtungen, die durch das gemeinsame Beiwort Sport Gemeinsamkeit nur vorspiegeln und die ergo darüber hinwegtäuschen, dass eigentlich „nur“ Psychologie, Pädagogik, Medizin oder Biomechanik (u. w.) gemacht wird. Er intendierte „seine“ Zeitschrift 1971 als Instrument, welches dem Zweck dienen sollte, Sportwissenschaft als integrative, vor allem aber eigenständige Fachdisziplin zu etablieren. Den Titel der neuen Zeitschrift, Sportwissenschaft, nicht Sportwissenschaften, bezeichnete er als „Programm und einzulösender Anspruch zugleich“.

Wo steht die Sportwissenschaft heute?

Das Fach Sportwissenschaft hat sich an deutschen Universitäten und Hochschulen etabliert. In den Denominationen der dortigen Professuren oder am Sektionen-Spektrum der dvs spiegelt sich die Vielfältigkeit der unter dem Dach Sportwissenschaft mittlerweile zusammengeführten Fachdisziplinen wider. Dieselbe Vielfalt bildet sich auch durch die in der Sportwissenschaft publizierten Beiträge ab.

Allerdings, so meinen Kritiker nicht unberechtigt, finden sich unter diesen Beiträgen kaum solche, die den Anspruch sportwissenschaftlicher Arbeiten (noch) erreichen, so dass sie Ommo Grupes Verständnis darüber gerecht würden. Zu erörtern wäre, ob diese Beiträge den Anspruch sportwissenschaftlicher Interdisziplinarität schlecht einlösen, ob sie sich ihn erst gar nicht zum Ziel genommen haben, oder ob Sportwissenschaft – die Disziplin genauso wie die zugehörige Zeitschrift – heute vielleicht ganz anders gedacht werden muss?

Dazu ist es beispielsweise wertvoll zu betrachten, welche Personengruppe eigentlich (überwiegend) in der Sportwissenschaft publiziert. Es sind dies mit großer Mehrheit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in Qualifikationsphasen ihrer akademischen Karriere befinden (Doktoranden, Post-Doktoranden), zuweilen unterstützt von (ihren) Professorinnen und Professoren. Viele dieser sich akademisch Qualifizierenden sind in Drittmittelprojekten mit definierten (kürzeren) Vertragslaufzeiten (oft nur für zwei Jahre) ausgestattet . Der Anteil derer, die auf Strukturstellen zumindest mittelfristig (z. B. drei-plus-drei Jahre) angestellt sind und die für die Sportwissenschaft schreiben wollen oder könnten, dürfte verhältnismäßig geringer geworden sein. Die Notwendigkeiten des Drittmittelgeschäfts beeinfluss(t)en nicht nur die Personalstrukturen, sondern wirken sich natürlich auch darauf aus wie publiziert wird. Ein großer Teil derer, die sich heutzutage sportwissenschaftlich qualifizieren wollen, sieht sich angesichts der Vertragslaufzeiten und beruflich prekären Umständen möglicherweise gar dazu „gezwungen“ schnell zu publikationsfähigen Ergebnissen bzw. Publikationen zu gelangen. Verschärfend kommt hinzu, dass Arbeit in zeitlich eng beschränkten Drittmittelprojekten thematisch und disziplinär oft auch eng begrenzt ist, vielleicht sogar enger begrenzt sein muss. Aus solcherart disziplinär zugespitzter Arbeit entsteht respektable, auf den Sport (im allerweitesten Sinne) bezogene Wissenschaft. Davon zeugen zahlreiche in der Sportwissenschaft aber auch anderswo publizierte Beiträge.

Das von Ommo Grupe für die Sportwissenschaft ins Auge gefasste Ziel, dass in der Zeitschrift ein breites Spektrum an sportwissenschaftlich relevanten Disziplinen aufgefächert mögen werde, könnte also als erreicht markiert werden. Die wünschenswerte Folge daraus, dass so eine Basis von Sportwissenschaft entstehen möge, in der die einzelnen Beiträge mehr als nur das gemeinsame Wort Sport verbinde (welche dann ihrerseits originär sportwissenschaftliche Forschung erst ermögliche) ist demgegenüber ausgeblieben.

Im Rückblick der letzten 44 Jahre betrachtet spricht einiges dafür, dass dem Auffächern der Grundlagen- und Fachdisziplinen eher eine andauernde Phase der zunehmenden Spezialisierung sogar innerhalb der jeweiligen Fachdisziplinen folgte, die eben nicht zu zunehmender Verzahnung und Ineinanderführung anregte. Die Kräfte, die sich in der Sportwissenschaft, sowohl in der wissenschaftlichen Disziplin als auch der Zeitschrift entfalteten und sich auf das Zusammenbinden der fachdisziplinären Betrachtungen richteten, waren offensichtlich weniger stark als die Kräfte, die in Richtung einer Ausdifferenzierung und zunehmenden Verkapselung von Spezialdisziplinen drängten. Sicherlich liegen dieser Entwicklung noch weitere Bedingungsfaktoren, als nur der oben genannte (zunehmende Bedeutung des Drittmittelgeschäfts an Universitäten und daraus resultierende Personalstrukturen) zugrunde. Jedoch mag schon dieser Grund genügend Erklärungskraft bieten, um die Entwicklung der Zeitschrift und ausbleibende Rückwirkungen auf das Fach Sportwissenschaft nachzuvollziehen. Was folgt daraus?

Die gesehene Entwicklung kann man entweder akzeptieren und sich mit ihr arrangieren oder man kann versuchen ihr etwas entgegen zu setzen. Dazu wird die Kraft Einzelner nicht ausreichen, und möglicherweise ist die Vorstellungskraft Einzelner auch nicht genug, vernünftige von den weniger vernünftigen Handlungsalternativen zu unterscheiden.

Ein neuer wissenschaftlicher Beirat der Sportwissenschaft

Am Ende seines Gründungseditorials formuliert Ommo Grupe: „Freilich – ohne kritische Resonanz bei den Lesern wie auch den gegenwärtigen und zukünftigen Mitarbeitern wird das alles nichts werden; sie stellt einen der entscheidenden Faktoren für die weitere Entwicklung der Sportwissenschaft dar. Guter Wille und Entschlossenheit der Redaktion und des Herausgeberkollegiums allein reichen nicht aus, ihr auf längere Sicht mit den Seiten auch Substanz zu geben“.

Vor allem rufen wir deshalb diejenigen, die sich Willens und besonders gut dazu in der Lage sehen die Sportwissenschaft in ihrem ursprünglich gemeinten Sinne zu bereichern, insbesondere unsere Kollegen Professorinnen und Professoren, dazu auf, sich viel stärker als in den zurückliegenden Jahren für Manuskripte in dieser Zeitschrift zu engagieren; und insbesondere auch eigene einzureichen.

Gemeinsam mit den herausgebenden Institutionen haben wir im Herausgeberkollegium Maßnahmen ergriffen, die der Zeitschrift hoffentlich gleichermaßen zu Gute kommen werden. Nachdem gleich Anfang dieses Jahres der wissenschaftliche Beirat, der die Sportwissenschaft über sehr viele Jahre begleitete, in Ehren verabschiedet wurde, wurde im Februar ein neuer wissenschaftlicher Beirat berufen. Ihm gehören im Forschen und Schreiben erfahrene Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland an. Von diesen erhoffen wir uns unter anderem, dass sie der Sportwissenschaft wirksame Impulse geben können. Nach Berufung zugesagt haben die Professores Herzog, Schwameder, Wank (Biomechanik), Hofmann, Pfister (Sportgeschichte), Baca, Wiemeyer (Sportinformatik), Banzer, Urhausen (Sportmedizin), Beek, Hossner (Sportmotorik), Beech, Franck, Horch (Sportökonomie/-management), Brettschneider, Kurz, O’Sullivan, Prohl (Sportpädagogik/Erziehungswissenschaften), Loland, McNamee, Schürmann (Sportphilosophie), Digel, Fasting, Hartmann-Tews, Maguire (Sportsoziologie), Raab, Williams (Sportpsychologie) sowie Behm, Ferrauti, Hohmann und Müller (Trainingswissenschaft).

Wir bitten darum, uns und diesem Ergebnis Vertrauen zu schenken. Der Auswahlprozess ist mit viel Bedacht und nach intensiven Diskussionen geschehen, und mit Blick auf mögliche Unausgewogenheiten können wir nur entgegnen, dass nicht alle, die wir gerne gewonnen hätten, auch bereit waren mitzuwirken.

Gemeinsam mit den genannten Personen wollen wir nun aber versuchen, die Zukunft der Zeitschrift weiter zu gestalten. Ganz sicher wird dies nicht immer in gerader Fortsetzung der von Ommo Grupe vorgedachten Linie geschehen (können). Die Gegenwart stellt gegenwärtige Anforderungen. Jedoch, und so wollen wir den Bogen vom eingangs festgestellten, traurigen Anlass zu den aktuellen Perspektiven schließen, ist es erstaunlich, wie ähnlich sich doch frühere und heutige Herausforderungen an die Sportwissenschaft in vielen Punkten darstellen. Dieses Wort, Herausforderungen, haben wir dabei sehr bewusst gewählt. Denn es verweist auf den Prozess, der um sie zu bewältigen, stattfinden wird. Diesen Prozess werden wir – ergebnisoffen – begleiten. Dazu erbitten wir Ihre konstruktive Unterstützung.

Mit freundlichen Grüßen

Ralf Brand und Claudia Voelcker-Rehage