Erwiderung zu

Diskussionsbeiträgen zu Künzell, S. & Hossner, E.-J. (2012). Differenzielles Lehren und Lernen: eine Kritik. Sportwissenschaft, 42(2), 83–95.

Zu unserer Kritik am differenziellen Lernen (DL) in Heft 2/2012 liegen inzwischen drei Kommentare vor: einer in Heft 4/2012 von Marcus Schmidt und Markus Hennig (MS & MH) und zwei weitere im vorliegenden Heft von Klaus Willimczik (KW) sowie von Wolfgang Schöllhorn, Hendrik Beckmann, Alexander Eekhoff und Patrick Hegen (WS et al.). Nachdem die im Editorial von Heft 4/2012 angekündigte umfassende Replik von Vertreter/innen des DL nun vorerst nicht in der Sportwissenschaft erscheinen wird, antworten wir hier auf die in diesen drei Kommentaren geäußerten Kritikpunkte 1) zur Wissenschaftskonzeption und 2) zu ethischen Grundsätzen. Auf Entgegnungen zur Sache möchten wir hingegen verzichten; stattdessen verweisen wir darauf, dass unsere Argumentation von drei – wie wir annehmen dürfen, fachlich ausgewiesenen – Gutachter/innen einhellig bestätigt worden ist und überlassen eine weitergehende Beurteilung dem fachkundigen Leserkreis der Sportwissenschaft.

Zur Wissenschaftskonzeption

Zu unserer großen Verwunderung führen sowohl KW als auch WS et al. den Wahrheitsbegriff im Titel ihrer Kommentare – zu unserer großen Verwunderung, weil wir uns ja an keiner Stelle unseres Beitrags über etwaige „Wahrheiten“ auslassen. Wir kritisieren, dass zentrale Vorhersagen des DL nicht aus dem systemdynamischen Ansatz ableitbar sind, dass in den entsprechenden Publikationen kognitiv inspirierte Arbeiten lücken- und fehlerhaft dargestellt werden und dass die zentralen Merkmale des DL nicht empirisch geprüft wurden. In der Tat hätten wir an dieser Stelle – mit Blick auf KW – auch sagen können, dass die Methodik des DL gar keine „intendierte Anwendung“ der dynamischen Systemtheorie darstellt und mangels empirischer Prüfung schon gar keine „erfolgreiche Anwendung“. Die geübte Kritik wäre davon unberührt geblieben. Den Umstand, eine strukturalistische Ausdrucksweise vermieden zu haben, mag man uns aber bitte nicht so auslegen, dass wir einem „monistischen Wissenschaftsbild“ (WS et al.) oder einem krud-naiven Falsifikationismus verfallen seien – wir sind es nicht – und dies nicht einmal „implizit“ (vgl. KW). Von daher sollte man unsere Ausführungen auch nicht so lesen, dass wir den Beitrag des systemdynamischen Ansatzes zum Verständnis der Bewegungskontrolle gering schätzten (vgl. KW) oder dass wir in einer abwägenden Theoriediskussion auf der Seite des Kognitivismus stünden und deshalb den Kontextinterferenzansatz gegenüber dem DL favorisierten (vgl. WS et al.). In unserem Beitrag stellen wir ja in der Tat auch nicht fest, dass der Kontextinterferenzansatz und die Guidance-Hypothese die „einfacheren“ (WS et al.), „richtigeren“ (KW) oder gar „wahreren“ theoretischen Erklärungen für den Vorteil randomisierten Übens oder reduzierter Rückmeldefrequenzen lieferten. Wir kritisieren vielmehr, dass in Publikationen zum DL nur behauptet wird, diese Phänomene erklären zu können, diese Behauptung aber ohne Herleitung oder Beleg bleibt. Wie diese Kritik durch wissenschaftskonzeptionsbezogene Einwände relativiert werden könnte, vermögen wir nicht nachzuvollziehen.

Zu ethischen Grundsätzen

Sowohl KW als auch MS & MH führen berufsethische Bedenken im Hinblick auf die von uns gewählten Formulierungen an. Was wir an dieser Stelle zunächst einräumen wollen, ist, dass auf Seiten der Kritisierten es in der Tat nachvollziehbar nahe liegt, sachbezogene Kritik als persönliche Kritik misszuverstehen: Wie könnte man also bspw. den sachrelevanten Nachweis, dass vorgelegte Studien unzureichend geplant und referiert wurden, nicht – zumindest auch – als persönliche Herabwürdigung im Hinblick auf die eigene forschungsmethodische Kompetenz auslegen? Dass uns von den Gutachter/innen durchgängig und einheitlich eine Sachbezogenheit und sachliche Relevanz der von uns vorgebrachten Kritikpunkte attestiert wurde, bedeutet für uns jedoch zum ersten, dass wir im Hinblick auf die von KW in die Diskussion eingebrachten berufsethischen Grundsätze der dvs (2004) durchaus in Anspruch nehmen, im Kern des Beitrags sachlich argumentiert zu haben. Zum zweiten ist uns aber zugleich bewusst, dass dieses Attest die persönliche Betroffenheit der Kritisierten nur unbedeutend mindern dürfte, denn tatsächlich verstehen wir – anders, als von KW vermutet – Wissenschaft weniger als Wettstreit von Ideen als vielmehr als Wettstreit von Wissenschaffenden, so dass jede, auch noch so sachbezogene Kritik unweigerlich auch eine persönliche Dimension erhält. An genau dieser Stelle tut sich dann allerdings ein berufsethisches Dilemma auf. Dieses erwächst daraus, dass einerseits in den berufsethischen Grundsätzen der dvs auf das Kriterium der Kollegialität abgehoben wird, andererseits aber auch gefordert wird, „sich grundsätzlich skeptisch gegenüber Absolutheitsansprüchen wissenschaftlicher Lehrmeinungen [zu verhalten]“ (§ 2,4) sowie einer „besondere[n] Fürsorgepflicht“ gegenüber den von sportwissenschaftlicher Forschung betroffenen Personen nachzukommen (§ 4). „Insbesondere bei Interventionen verbietet sich die unlautere Werbung mit Erfolgsgarantien, überzogenen Versprechungen oder nicht belegbaren Kompetenzen“ (§ 2,5). „Gegebenenfalls treffen sie [die Sportwissenschaftler/innen] Vorkehrungen gegen einen Missbrauch bzw. eine falsche Auslegung oder Anwendung ihrer Methoden und Erkenntnisse“ (§ 2,1). Wir beziehen die eingeforderte Fürsorgepflicht also auf Athlet/innen und Trainer/innen, Schüler/innen und Lehrer/innen, die allesamt Anspruch auf eine sachliche Einschätzung des DL haben, und betrachten unseren Beitrag als genau eine solche „Vorkehrung“. Dass wir in der Umsetzung dieses Vorhabens an einigen wenigen Stellen am Ziel vorbeigeschossen sein mögen und Formulierungen verwendet haben, die unter dem Kriterium der Kollegialität bedenklich erscheinen, bedauern wir und möchten uns hierfür bei den Vertreter/innen des DL und den Leser/innen der Zeitschrift Sportwissenschaft entschuldigen.