Zusammenfassung
Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens SchuLae bildet die angestrebte flächendeckende Einführung institutioneller Schutzkonzepte in pädagogischen Kontexten. Im Zuge eines durch Schutzkonzepte in Gang gesetzten Organisationsentwicklungsprozesses sollen Orte des Aufwachsens für Kinder und Jugendliche zu Schutz- und Kompetenzorten werden. Ob Schutzkonzepte tatsächlich zu einem Rückgang von Viktimisierungserfahrungen und einer erhöhten Bereitschaft zur Hilfe(suche) führen, wurde bislang nicht empirisch erfasst. Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Verbund „SchuLae – Entwicklung und Wirkung von Schutzkonzepten in Schulen im Längsschnitt“ des Deutschen Jugendinstituts und der Hochschule Hannover untersucht daher die Wirksamkeit schulischer Schutzkonzepte sowohl quantitativ als auch qualitativ im Längsschnitt und fokussiert dabei die Perspektiven von Schüler*innen.
Abstract
The starting point of the research project SchuLae is the intended introduction of institutional protection concepts in pedagogical contexts. In the course of an organizational development process set in motion by protection concepts, places where children and young people grow up are to become places of protection and competence. Whether protection concepts actually lead to a decrease in experiences of victimization and an increased willingness to (seek) help has not yet been empirically recorded. The research network SchuLae—Development and Impact of Protection Concepts in Schools in Longitudinal Section of the Deutsche Jugendinstitut and the Hochschule Hannover, financed by the German Federal Ministry of Education and Research (BMBF), is therefore investigating the effectiveness of school protection concepts both quantitatively and qualitatively in a longitudinal manner, focusing on the perspectives of students.
1 Institutionelle Schutzkonzepte in pädagogischen Kontexten
Schutzkonzepte stellen einen zentralen Präventions- und Interventionsansatz bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Institutionen dar: Einrichtungen des Aufwachsens und Lernens sollen Schutz- und Kompetenzorte werden, in denen Adressat*innen vor (sexuellen) Übergriffen geschützt werden und Unterstützung erhalten (vgl. Kappler et al. 2019). Bei der Entwicklung und Implementierung von Schutzkonzepten geht es um Fragen der Umsetzung des Schutzauftrages und die Gewährleistung des Rechts auf Unversehrtheit, Beschwerde und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen in Institutionen (vgl. Fegert et al. 2017), aber auch um die grundlegende Etablierung einer Einrichtungskultur, die einen offenen Umgang mit Sexualität ermöglicht (vgl. Eßer und Rusack 2020) und dabei Machtasymmetrien in der Organisation selbst als auch im professionellen Erziehungsverhältnis reflektiert (vgl. Kampert et al. 2021). Entgegen eines eher technokratischen Verständnisses von Schutzkonzepten als präventive Einzelmaßnahmen, wird aus organisationstheoretischer Perspektive eine einrichtungsspezifische Entwicklung verbundener Maßnahmen anvisiert, die auf „die Gewährleistung eines Schutzklimas abzielen, dessen Etablierung an einen langjährigen Organisationsentwicklungsprozesses gekoppelt ist“ (Schwerdt und Wazlawik 2016, S. 194). Die Beteiligung aller Organisationsmitglieder an der Schutzkonzeptentwicklung wird dafür als zentraler Gelingensfaktor herausgestellt (vgl. Kampert et al. 2021).
2 Problemstellung und Forschungsstand
Im schulischen Kontext wurden über die Verbreitung von Schutzkonzepten (Kappler und Pooch 2018) sowie Hürden und förderliche Faktoren ihrer Implementierung (Pooch und Tremel 2016) hinaus Entwicklungsprozesse institutioneller Schutzkonzepte hinsichtlich des Nähe-Distanz-Verhältnisses zwischen Pädagog*in und Schüler*in empirisch betrachtet. Bezüglich Prävention und Intervention konstatiert Glammeier (2019) große Wissenslücken zum Thema sexualisierte Gewalt sowie Handlungsunsicherheiten bei Lehrkräften und Lehramtsstudierenden. Schule ist als „zentraler Ort des Aufwachsens“ (Andresen und Bauch 2022, S. 37) für nahezu alle Kinder und Jugendlichen ein Ort, an dem sie mit Sexualität und sexuellen Grenzverletzungen in Kontakt kommen (vgl. Urban 2020). Des Weiteren weisen aktuelle Forschungsbefunde darauf hin, dass die Schule auch bedeutsam für das Bekanntwerden von Fällen sexualisierter Gewalt ist – etwa, weil „betroffene Schüler*innen oftmals den Wunsch nach einer Offenlegung haben und dabei durchaus schulische Fachkräfte als Ansprechpersonen in Erwägung ziehen“ (Christmann 2021, S. 441). Ergebnisse der Präventionsforschung geben in dem Zusammenhang erste Hinweise darauf, welche Veränderungen einzelne Präventionsbemühungen im institutionellen wie subjektiven Erleben mit sich bringen. Die grundlegende Frage, inwieweit Schutzkonzepte tatsächlich zu Verbesserungen für Kinder und Jugendliche führen, sie also geschützt und in ihren Rechten gestärkt werden (vgl. Caspari 2021), ist bislang jedoch nicht erforscht.
3 Das Verbundvorhaben SchuLae
Der Verbund SchuLae fragt vor diesem Hintergrund nach der Wirksamkeit institutioneller Schutzkonzepte an Schulen. Von Interesse ist, inwieweit Schutzkonzepte die Häufigkeit sexueller Übergriffe verringern, zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl in der Schule beitragen und die Disclosure-Bereitschaft von Schüler*innen steigern. Zu zwei Zeitpunkten werden die Sichtweisen der Schüler*innen auf sexualisierte Gewalt sowie an ihrer Schule implementierte Schutzkonzepte in einem längsschnittlichen Design erhoben.
Im Teilprojekt des Deutschen Jugendinstituts werden Schüler*innen, Lehrkräfte, Schulsozialarbeitende und Schulleitungen in einer standardisierten Online-Befragung zu ihren Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen, Prävention und Intervention an Schulen befragt. Dabei werden Schulen mit keinen oder eher unkonkreten Plänen zur Einführung eines Schutzkonzepts (Kontrollgruppe) mit Schulen verglichen, die bereits einen konkreten Plan zur Einführung bzw. zur bedeutsamen Weiterentwicklung eines Schutzkonzeptes vorweisen (Interventionsgruppe). Letztere erhalten die Möglichkeit einer Risiko- und Potenzialanalyse sowie das Angebot einer Beratung zu Schutzkonzeptentwicklung. Durch einen Prä-Post-Vergleich können aussagekräftige Ergebnisse bezüglich der Wirksamkeit von Schutzkonzepten an Schulen sowohl im Quer- als auch im Längsschnitt generiert werden. Das Teilprojekt der Hochschule Hannover widmet sich dezidiert den Perspektiven der Adressat*innen schulischer Schutzkonzepte. In Gruppendiskussionen (vgl. Bohnsack 2010) sowie in leitfadengestützten, erzählgenerierenden Interviews (vgl. Helfferich 2014) werden Schüler*innen zu ihrer Wahrnehmung des Schulklimas und ihren Vorstellungen von Schutz und Sicherheit befragt. Zudem interessiert ihr Blick auf Schule als Organisation und ihre Erfahrungen mit Präventions- und Interventionsprozessen. Mithilfe der dokumentarischen Methode nach Bohnsack (2010) werden kollektive Orientierungen und Überzeugungen der Schüler*innen rekonstruiert.
Somit will der Verbund SchuLae nicht nur die Frage beantworten, ob Schutzkonzepte positive Veränderungen für Schüler*innen mit sich bringen, sondern differenzierter betrachten, wie sie dies tun. Wahrnehmungen und Normativitätsstrukturen der Adressat*innen von Schutzkonzepten werden jenseits einer „paternalistischen Schutzlogik“ (Kampert et al. 2021, S. 51) in den Vordergrund gestellt, um daraus Implikationen für zukünftige Präventionsmaßnahmen abzuleiten.
Literatur
Andresen, S., & Bauch, R. (2022). Tatort Schule. In S. Andresen, D. Deckers, & K. Kriegel (Hrsg.), Das Schweigen beenden. Beiträge zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. https://www.aufarbeitungskommission.de/wp-content/uploads/Das-Schweigen-beenden_Beitraege-zur-Aufarbeitung-sexuellen-Kindesmissbrauchs_BF.pdf. Zugegriffen: 8. Nov. 2022.
Bohnsack, R. (2010). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. Opladen, Farmington Hills: Barbara Budrich.
Caspari, P. (2021). Gewaltpräventive Einrichtungskulturen. Theorie, Empirie, Praxis. Wiesbaden: Springer VS.
Christmann, B. (2021). Disclosure von sexualisierter Gewalt in schulischen Kontexten. Fachkräfte als Ansprechpersonen betroffener Schüler*innen. Wiesbaden: Springer VS.
Eßer, F., Rusack, T. (2020). Schutzkonzepte und Sexualkulturen in Institutionen. In M. Wazlawik et al. (Hrsg.), Perspektiven auf sexualisierte Gewalt. Einsichten aus Forschung und Praxis (S. 13-27). Wiesbaden: Springer VS.
Fegert, J. M., Schröer, W., & Wolff, M. (2017). Persönliche Recht von Kindern und Jugendlichen. Schutzkonzepte als organisationale Herausforderungen. In J. M. Fegert, W. Schröer & M. Wolff (Hrsg.), Schutzkonzepte in Theorie und Praxis. Ein beteiligungsorientiertes Werkbuch (S. 14–24). Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
Helfferich, C. (2014). Leitfaden- und Experteninterviews. In N. Baur & J. Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung (S. 559–574). Wiesbaden: Springer VS.
Glammeier, S. (2019). Sexuelle Gewalt und Schule. In M. Wazlawik et al. (Hrsg.), Sexuelle Gewalt gegen Kinder in pädagogischen Kontexten (S. 197-209). Wiesbaden: Springer VS.
Kampert, M., et al. (2021). Schutzkonzepte als partizipative Prozesse der Organisationsentwicklung. OJS Österreichisches Jahrbuch für Soziale Arbeit, 3, 47–68.
Kappler, S., & Pooch, M.-T. (2018). Datenreport des Monitoring zum Stand der Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Deutschland (2015–2018) zu den Handlungsfeldern Schulen und Internate. Teilbericht, Bd. 5. Berlin: UBSKM.
Kappler, S., et al. (2019). Kinder und Jugendliche besser schützen – der Anfang ist gemacht. Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt in den Bereichen: Bildung und Erziehung, Gesundheit, Freizeit. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2019/28116_UBSKM_DJI_Abschlussbericht.pdf. Zugegriffen: 30. Sept. 2022. ABSCHLUSSBERICHT des Monitorings zum Stand der Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Deutschland (2015–2018).
Pooch, M.-T., & Tremel, I. (2016). So können Schutzkonzepte in Bildungs- und Erziehungseinrichtungen gelingen! Teilbericht, Bd. 1. Berlin: UBSKM. Erkenntnisse der qualitativen Studien des Monitoring (2015–2018) zum Stand der Prävention vor sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Deutschland in den Handlungsfeldern Kindertageseinrichtungen, Schulen, Heimen und Internate
Schwerdt, D., Wazlawik, M. (2016). Institutionelle Schutzkonzepte in der Schule. Evaluation der Entwicklung von institutionellen Schutzkonzepten und Konzepten zur Gestaltung von ‚Nähe und Distanz‘. Soziale Passagen 8, 191-196.
Urban, M. (2020). Schule als Schutzraum vor sexualisierter Gewalt und Ort Sexueller Bildung aus Lehrer*innenperspektive. In M. Urban, K. Krolzik-Matthei & T. Linke (Hrsg.), Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Traumatisierung. Herausforderungen für die Soziale Arbeit (S. 133–142). Gießen: Psychosozial.
Funding
Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding authors
Rights and permissions
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de.
About this article
Cite this article
Grieser, F., Wazlawik, M., Derr, R. et al. Wirksamkeit institutioneller Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt. Soz Passagen 15, 275–279 (2023). https://doi.org/10.1007/s12592-023-00449-5
Received:
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s12592-023-00449-5
Schlüsselwörter
- Schutzprozesse
- Schule
- Sexuelle Gewalt
- Wirksamkeitsforschung
- Organisationsentwicklung
Keywords
- Protection processes
- School
- Sexual violence
- Effectiveness research
- Organizational development