Als Alltagspraxis hat Essen auch für Sozialpädagogik und Soziale Arbeit vielfältig Bedeutung. Das illustriert bereits die unterschiedliche Art und Weise, in der Essen in sozialpädagogischen Zusammenhängen relevant wird: als karitative Gabe und Almosen in Suppenküchen oder Essenausgabestellen, als kulturelles Gut und Ritual im Rahmen religiöser Feste und Feiern, als milieuspezifischer Lebensentwurf, als familiale Praxis ebenso wie als Praxis von Peers – innerhalb und außerhalb von Institutionen, oder schlicht als überlebensnotwendige Handlung. Essen erweist sich damit aber nicht nur als essenzieller Modus menschlicher Existenz, sondern auch als Einflussgröße auf Prozesse der Identitätsbildung oder auf Prozesse der Manifestation und Zuschreibung kultureller Diversität.

Essen findet sich daher auch in den unterschiedlichen Settings und Arbeitsfeldern von Sozialpädagogik und Sozialer Arbeit wieder: in der stationären Unterbringung (z. B. im Feld der Hilfen zur Erziehung, der Eingliederungshilfen oder der Altenhilfe), in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, innerhalb Aufsuchender Angebote (z. B. in zielgruppenspezifischen Anlaufstellen) oder in der Nothilfe für wohnungslose Menschen und für Menschen auf der Flucht.

Mittlerweile ist Essen auch Gegenstand der sozialpädagogischen Forschung: So liegen Studien zum Thema vor, die zwischen den Lebensaltern und deren Essenspraktiken differenzieren oder danach fragen, wie innerhalb von Altersgruppen (z. B. Peer-Groups) und entlang gesellschaftlicher Differenzlinien Praktiken des Essens über die Lebenszeit hergestellt werden. Andere Forschungsarbeiten weisen auf den Zusammenhang von Essen und Gewalt, Essen und Zwang bzw. den Bezug zwischen Essen und anderen Formen der Reglementierung (z. B. körperbezogene Sanktionen) hin. So erweist sich der Essensentzug historisch wie gegenwärtig auch als Sanktionsinstrument, das unter anderem in Settings geschlossener Unterbringung nach wie vor eingesetzt wird. Aber auch in manchen Alten‑, Senior:innen- und Pflegeheimen wird Essen zur Zwangsveranstaltung und die Selbst- wie Fremdregulierung von Essverhalten nicht nur für viele Kinder und Jugendliche im familialen wie im institutionalisierten Alltag zu einer Reglementierungserfahrung.

Wie sich Essen und Essverhalten, aber auch die Versorgungssituationen zukünftig entwickeln, ist Gegenstand einer wachsenden Zahl von wissenschaftlichen Überlegungen und Prognosen – und im Angesicht der Klimakrise eine Frage von tatsächlich planetarischer Bedeutung. Über die individuellen, gemeinschaftlichen und globalen Anforderungen der Nahrungs- bzw. Lebensmittelherstellung, -verarbeitung und -vermarktung wird daher auch in unterschiedlichen Disziplinen gegenwärtig intensiv diskutiert.

Essen ist für alle sozialpädagogischen Handlungsfelder also thematisch und gerade auch in Anbetracht gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse von grundlegender Bedeutung. Vor diesem Hintergrund werfen die Beiträge im vorliegenden „Blickpunkt“ forschungsbasierte Schlaglichter aus verschiedenen Perspektiven auf das Thema Essen in Sozialpädagogik und Sozialer Arbeit. Ziel ist es dabei, Essen als soziale Praxis in unterschiedlichen sozialen Kontexten zu fokussieren und somit seine Bedeutung für sozialpädagogische Fragestellungen genauer auszuloten.

Der Herausgeberkreis der Sozialen Passagen freut sich daher sehr, seinen Leser:innen den vorliegenden „Blickpunkt“ zum Thema Essen vorstellen zu können. Die Beiträge des „Blickpunktes“ greifen inhaltlich folgende Themen auf:

Christine Meyer (Vechta) entfaltet in ihrem Artikel „Essen und Soziale Arbeit – zur Überwindung der systematischen Vernachlässigung des Essens in der Sozialen Arbeit“ die unterschiedlichen Bedeutungszusammenhänge und die Komplexität von Essensfragen in der Sozialen Arbeit. Mit der historisch-systematischen Herausarbeitung der grundlegenden Verbindungen von Essen entlang der Lebensalter, Lebenslagen und der Aufgaben Sozialer Arbeit werden Forschungsdesiderate sichtbar. Im Beitrag „Pädagogisierung der Kinderernährung zwischen Nahrungs- und Verhaltensnormierung. Forschungsstand und kritische Anfrage“ analysiert Lotte Rose (Frankfurt a. M.) soziale Praktiken der Ernährung. Dabei werden insbesondere die „Arenen“ des „Doing Generation“ im Hinblick auf wirkmächtige Machtasymmetrien zwischen Kindern und Erwachsenen sowie institutionelle und familiale Erziehungstechniken in den Blick genommen. Oxana Eremin (Paderborn) diskutiert in ihrer Untersuchung zu „Foodwork: Schlaglichter auf das Themenfeld von Kochen, Essen und Geschlecht“ die sozialen Praktiken von Kochen und Essen im Kontext von Geschlechterpolitiken. Am Beispiel des „Foodwork“ als Sorgearbeit kann sie zeigen, inwiefern geschlechtsspezifische Differenzierungsprozesse, Geschlechterarrangements und -konstruktionen sowohl im Privaten wie im Öffentlichen wirksam sind. Holger Schoneville (Hamburg) nimmt in seinem Beitrag zum Thema „Armut, Hunger, Hilfe“ eine kritische Bestandsaufnahme zu den Hilfsangeboten im Bereich der Armutslinderung und Armutsbekämpfung vor, u. a. am Beispiel von Essensangeboten in pädagogischen Einrichtungen, Tafeln und „sozialpädagogischen Kochkursen“. Hierbei werden professionelle Handlungsmöglichkeiten diskutiert, wie Stigmatisierungen und Statuszuschreibungen der Adressat:innen als Hilfeempfänger:innen verhindert oder zumindest vermindert werden können. Unter dem Titel „Essen in Kindertageseinrichtungen. Orientierungsmuster von Fachkräften zwischen Anpassung und Ermöglichung“ verhandeln Alexandra Klein (Mainz) und Sandra Landhäuser (Paderborn) auf der Grundlage von empirischen Ergebnissen der Frankfurter Kinderbefragung (2018) die Spannungsfelder von professionell begleiteter Ernährungserziehung und -bildung in der frühen Kindheit. Franziska Schlattmeier (Zürich) arbeitet in ihrem Artikel „Handlungsräume in Essenssituationen – zur Agency von Kindern in Kindertagesstätten“ differente Handlungsmodalitäten von Kindern in den Essensituationen einer Kita heraus. Vor dem Hintergrund einer agencytheoretischen Perspektive gelingt es, kindliche Handlungsmacht und Handlungsräume zu bestimmen. Mit seinem Beitrag zur „Kulturgeschichte und Esskultur. Menükarten-Sammlung der Kaiser und Könige in Sachsen“ kann Thomas Stern (Dresden) unter der Rubrik „Nachgefragt/Wiederentdeckt“ eindrücklich aufzeigen, wie sich alltagsgeschichtliche Ereignisse nicht nur illustrieren lassen, sondern dass die Geschichte des Essens noch lange nicht entschlüsselt ist. Nicht nur Limitierungen, z. B. durch Lebensmittelpreise, sondern auch Perspektivierungen hinsichtlich des Einsatzes von Zutaten und veränderten Menüfolgen sowie kulturgeschichtliche Deutungen der Menüs werden so möglich.

Anschließend an den aktuellen „Blickpunkt“ präsentiert die vorliegende Ausgabe der Sozialen Passagen ein ausführliches „Forum“ mit themenoffenen Beiträgen.

Eröffnet wird das Forum mit einem Beitrag von Judith von der Heyde (Osnabrück) zu „Scham als Material sexualpädagogischer Praxis“, in dem sie die Sexualpädagogik als ein Feld sozialpädagogischer Praxis umreißt, in dem Scham und Beschämung durch die Exponiertheit des menschlichen Körpers zum wesentlichen Momentum der pädagogischen Situation wird. Dem folgt ein Beitrag von Albrecht Rohrmann und Manuel Theile (Siegen) über junge Menschen mit Behinderungen im Übergang von Heimerziehung in unterstützte Wohnformen der Eingliederungshilfe im Erwachsenenalter. Der Fokus liegt dabei auf der Perspektive der jungen Menschen selbst und wird anhand einer Einzelfallanalyse auf der Basis eines ausführlichen narrativen Leitfadeninterviews untersucht. Das Forschungsprojekt „Sozialarbeiterische Wirkmechanismen in der medizinischen Rehabilitation“ geht der Frage nach, wie Variationen hinsichtlich der Ausgestaltung und Inanspruchnahme sozialarbeiterischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation sowie Hinweise auf negative Effekte derselben zu erklären sind. Tobias Knoop, Nadja Scheiblich, Stephan Dettmers und Thorsten Meyer (Bielefeld) stellen dafür das Setting der medizinischen Rehabilitation, die Rolle der Sozialen Arbeit in diesem und das methodische Vorgehen des Projekts vor. Anne-Sophie Rosati und Karin Schleider (Freiburg) untersuchen die „Selbstwirksamkeitserwartungen und deren Bedeutung für das Burnout-Syndrom bei Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie“. Im Rahmen einer quantitativen Studie wird der Zusammenhang von Selbstwirksamkeitserwartung und Burnout-Symptomen bei den beiden Fachkräfte-Gruppen erklärt. Im Beitrag von Eva Büschi, Nadja Moramana, Stefania Calabrese und Natalie Zambrino (Olten) werden die Sichtweisen von erwachsenen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen mithilfe von Interviews, Videoanalysen und teilnehmenden Beobachtungen untersucht. Dabei liegt der Fokus auf der Interaktions‑, Kommunikations- und Beziehungsgestaltung auch in Bezug auf Möglichkeiten der Prävention. Das „Literaturreview zu partizipativer Technologieentwicklung in der Behinderten- und Erziehungshilfe im Kontext Sozialer Arbeit“ von Tabea Mildenberger, Alena Schmier und Isabel Zorn (Köln) zeigt die wissenschaftlichen Projekte in diesem Kontext auf, um anhand der bereits beforschten Felder und Themen das Desiderat zu partizipativer Technikentwicklung in der Sozialen Arbeit zu benennen. Mirjana Zipperle, Sebastian Rahn und Katharina Maier (Tübingen) fragen in ihrem Beitrag, „wer eigentlich die Schulsozialarbeit ‚trägt‘“, und stellen ihre empirischen Befunde zu Strukturen und Steuerungspotenzialen von Trägern der Schulsozialarbeit in Baden-Württemberg vor. Dabei werden drei Trägertypen innerhalb der Jugendhilfe untersucht: „Reine“ Kostenträger, kleine lokale Anstellungsträger sowie große Schulsozialarbeitsträger.

Der „Zwischenruf“ in der aktuellen Ausgabe der Sozialen Passagen widmet sich einer „Social Work Research Map“, einer niederschwelligen Plattform zu internationalen Publikationen der Sozialen Arbeit, entwickelt und vorgestellt von Christian Ghanem (Nürnberg), Konstantin Kirchheim (Magdeburg) und Markus Eckl (Fulda). Dazu wurde eine Datenbank von knapp 25.000 Zeitschriftenbeiträgen aus 23 einschlägigen Fachzeitschriften erstellt, die mit unterschiedlichen Visualisierungstechniken und Filterfunktionen den Nutzer*innen ein eigenständiges Durchsuchen der Datenbank anhand des individuellen Erkenntnisinteresses ermöglichen soll.

Den Abschluss des vorliegenden Heftes bilden wie immer unterschiedliche „Forschungsnotizen“: kürzere Beiträge, mit denen Einblicke in projektierte wie laufende Forschungsprojekte gegeben werden.

Zunächst berichten Catrin Heite, Anne Carolina Ramos und Andrea Riepl (Zürich) von ihrem Forschungsprojekt „Wohlbefinden von Kindern in der deutschsprachigen Schweiz“, bei dem die Frage, was Kinder unter Wohlbefinden verstehen und was sie aus ihrer Sicht brauchen, damit es ihnen gut geht, im Mittelpunkt steht. Das Verbundprojekt von WWU Münster, DJI, SOS Kinderdorf e. V. und SOCLES „Inklusive Schutzkonzepte in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe entwickeln und erproben“ versucht in einer Kooperation von Wissenschaft und Praxis, inklusive Schutzkonzepte im Kontext einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe zu entwickeln und nachhaltig zu erproben. Das Teilprojekt A Nähe und Distanz bildet den empirischen Ausgangspunkt des Projektes mit Blick auf die besonderen (Schutz‑)Bedarfe von Kinder und Jugendlichen in inklusiv-stationären Einrichtungen der Jugendhilfe und wird von Karin Böllert, Maik Sawatzki und Jana Demski (Münster) vorgestellt. Das zweite Verbundprojekt „Fokus Jugendamt – Partizipativer Wissenstransfer zu Kooperation, Hilfeplanung und Schutzkonzepten im Kontext sexualisierte Gewalt (FokusJA)“ wird von Bernd Christmann (Münster), Martin Wazlawik (Hannover), Tanja Rusack (Hildesheim), Karin Böllert (Münster) und Wolfgang Schröer (Hildesheim) vorgestellt und befasst sich ebenfalls mit der Entwicklung und Implementierung von Schutzkonzepten in der Kinder- und Jugendhilfe. Sexualisierte Gewalt ist dabei eine spezifische Herausforderung, bei der dem Jugendamt eine Schlüsselfunktion zukommt. Christiane Bomert (Tübingen) stellt in ihrer „Forschungsnotiz“ erste Ergebnisse eines Praxisforschungsprojekts mit Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen vor. Untersucht wurde die Frage, welche soziale Unterstützung im Umfeld ungewollt schwangerer Frauen* besteht und welche Möglichkeiten einer medizinisch korrekten und moralisch neutralen Informationsaneignung über den Abbruch es gibt.

Den Leser:innen der Sozialen Passagen wünschen der Herausgeberkreis und die Redaktion eine erkenntnisreiche Lektüre der aktuellen Ausgabe unserer Zeitschrift und einen guten Jahreswechsel.