Deutschland hat ein umfangreich ausgebautes Bildungs- und Sozialsystem. Und dennoch besteht – eine in Teilen durchaus berechtigte – Unzufriedenheit. Das Bildungssystem sichert nicht allen Kindern und Jugendlichen das „Bildungsminimum“, das erforderlich ist, um „am wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Leben in Selbstachtung teilzunehmen“ (Baumert 2016, S. 229, 232). Zu einem Fünftel können Schüler, wie zuletzt wieder die PISA-Erhebung von 2018 gezeigt hat, nur die wörtliche Bedeutung einfacher Sätze und kurzer Abschnitte verstehen, sie können eigentlich nicht richtig lesen. Zudem zeigt PISA, dass in Deutschland der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg enger ist als in einer Reihe anderer Länder (Reiss et al. 2019, Kap. 3 u. 6). In dem umfangreichen Netz sozialer Dienstleistungen behindern verfestigte Kooperationsblockaden die Hilfe (wie) aus einer Hand. Der institutionell vielfältig gegliederte Sozialstaat teilt seine Zuständigkeiten nach den Instrumenten auf, die er bereithält. Real existierende Menschen haben aber Problemlagen, die quer zu diesen Zuständigkeiten liegen. Ein Teil der Kooperationsblockaden ergibt sich aus rechtlich bindenden Vorschriften und Finanzierungslogiken; sie können durch guten Willen vor Ort teilweise gemildert, aber nicht ausgeräumt werden.

Eine übliche Reaktion auf Unzulänglichkeiten im Bildungs- und Sozialsystem ist die Forderung nach einem Ausbau der Infrastruktur – mehr Einrichtungen, mehr Personal, mehr Geld. In Teilen wird dies erforderlich sein. Aber diese an die Politik gerichteten Forderungen bergen die Gefahr, dass die Frage ausgeblendet wird, wie die soziale Infrastruktur als Teil des Sozialstaats wirksamer werden kann und was seine auf den unterschiedlichen Ebenen tätigen Akteure dazu beitragen können. Der folgende Beitrag schlägt vor, diese Herausforderung nicht in einer eng geführten Effizienzdebatte, sondern vor dem Hintergrund des Befähigungsansatzes zu erörtern. Eine „Politik der Befähigung“Footnote 1, die den Befähigungsansatz als produktive Ressource nutzt, kann eine Leitorientierung sein, die für Verantwortliche in Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege gleichermaßen attraktiv ist – und sie zugleich enorm herausfordert.

1 Soziale Infrastruktur: (Potenzielle) Orte der Befähigung

Befähigung ist kein geschützter Begriff, er wird alltagssprachlich im Sinne der Verfügung oder Vermittlung persönlicher Kompetenzen und Fähigkeiten verwendet. Das kann in der Debatte zu einer befähigenden Politik zu Missverständnissen führen. Im Folgenden ist Befähigung im Sinne des Befähigungsansatzes gemeint.

Amartya Sen (1979), der einflussreichste Wegbereiter dieses Ansatzes, stellt die Frage „Equality of what?“ an den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Wenn zu beurteilen ist, wie gleich oder ungleich Güter, Vorteile oder Vergünstigungen zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft verteilt sind und ob diese Verteilung gerecht ist, muss zuerst eine Verständigung darauf erfolgen, was verglichen werden soll. Nicht die Verfügungsgewalt über Ressourcen wie Einkommen und Vermögen macht menschliche Wohlfahrt aus, sondern die Fähigkeiten oder Handlungsoptionen, die Menschen offenstehen. Die Bedeutung ökonomischer Ressourcen leugnet Sen in keiner Weise, aber sie sind, wie er betont, ein Mittel, sie sind nicht das Ziel menschlicher Existenz. Wie in seinem Werk „Development as Freedom“ dargelegt (Sen 2001), versteht Sen „Entwicklung als Prozess der Erweiterung realer Freiheiten“ (Sen 2000, S. 13), als „Erweiterung der ‚Fähigkeiten‘ der Menschen, das Leben führen zu können, das sie wertschätzen – und das wertzuschätzen sie Gründe haben“ (Sen 2001, S. 18, Übersetzung GC). Der im englischen Original genutzte Begriff „capability“ oder „capabilities“, von dem sich der Name des Ansatzes als „capability approach“ oder Befähigungsansatz ableitet, wird im Deutschen auch mit Verwirklichungschancen übersetzt.

Der Ansatz nimmt keine Engführung auf persönliche Fähigkeiten vor, sondern es geht um den gesamten Raum von Möglichkeiten, die Menschen offenstehen und bestimmen, welche Lebensentwürfe sie realisieren können und wie umfangreich ihre diesbezüglichen Wahlmöglichkeiten sind. Das, was Menschen aus ihren Fähigkeiten oder Verwirklichungschancen machen, was sie sind und tun, wird im Befähigungsansatz „functionings“ genannt, üblicherweise übersetzt mit Funktionen oder Funktionsweisen.

Einkommen ist eine wichtige Dimension, um Ungleichheit zu messen. Aber der Blick auf Verwirklichungschancen eröffnet eine Differenzierung, die Sen betont. Es sei bedeutend, zwischen dem Einkommen als Einheit zur Messung von Ungleichheit und als Mittel zur Verringerung von Ungleichheit zu unterscheiden (Sen 2000, S. 106). Umverteilung ist ein unverzichtbares Mittel von Sozialstaaten, aber sie muss nicht immer der beste Weg sein, einer unakzeptabel hohen Ungleichheit der Einkommen und der Lebensperspektiven entgegenzuwirken. Investitionen in die soziale Infrastruktur, beispielsweise in bessere frühkindliche Bildung und bessere Schulen, in befähigende soziale Dienstleistungen können mittel- und langfristig stärkere Wirkungen erzeugen.

Aus Sicht des Befähigungsansatzes ist es entscheidend, dass das Ausmaß der realen Freiheit – das Leben, das Menschen zu führen in der Lage sind – nicht nur von den Ressourcen abhängt, zu denen sie Zugang haben, sondern auch von Umwandlungsfaktoren, die aufgrund persönlicher Konstitution, der Umwelt und gesellschaftlicher Bedingungen höchst unterschiedlich sein können. Amartya Sen betont, „dass unterschiedliche Menschen aufgrund persönlicher Eigenschaften oder unter dem Einfluss ihrer geographischen oder sozialen Umwelt oder durch ihre relative Benachteiligung … sehr unterschiedliche Chancen haben, allgemeine Ressourcen (etwa Einkommen und Vermögen) in Befähigungen, also das, was sie tatsächlich tun oder nicht tun können, umzuwandeln“ (Sen 2010, S. 289; siehe hierzu Robeyns 2017, S. 45–47). Zu den persönlichen Umwandlungsfaktoren gehören die körperliche Konstitution, das Geschlecht, Intelligenz, kognitive Fähigkeiten und Motivation sowie andere Merkmale, die in der jeweiligen Person liegen. Menschen sind unterschiedlich; bezüglich körperlicher Konstitution und Intelligenz verteilt die Natur ihre Gaben höchst ungleich. Der Befähigungsansatz legt keinen durchschnittlichen Normmenschen zugrunde, sondern erfasst die Vielfalt menschlichen Lebens.

Welche Einschränkungen sich aus persönlichen Umwandlungsfaktoren ergeben, ist nicht zu trennen von den sozialen Umwandlungsfaktoren der Gesellschaft, in der Menschen leben; dazu zählen die sozialen Normen, Geschlechterbeziehungen, die politischen Verhältnisse und Machtbeziehungen. Auch die soziale Infrastruktur kann Umwandlungsfaktoren verändern. Dazu wenige Beispiele: Wenn Menschen aufgrund sehr langer Arbeitslosigkeit das Vertrauen in ihre Fähigkeiten verloren haben, scheitern sie auch beim Zugang zu Stellen, die sie mit ihren Qualifikationen ausfüllen könnten. Wenn jedoch eine aktive Arbeitsmarktpolitik darauf Rücksicht nimmt, etwa indem für einen Übergangszeitraum Beschäftigungsmöglichkeiten mit intensiver sozialer Begleitung angeboten werden, kann der hemmende persönliche Umwandlungsfaktor kompensiert werden. Wer sich schwertut, komplexere Informationen zu lesen und zu verstehen, kann sich im deutschen Sozialstaat schlecht zurechtfinden; aber eine gute, bürgerfreundliche Beratung, die möglichst zu einer Hilfe wie aus einer Hand führt, würde dem entgegenwirken. Wer dauerhaft und legal in Deutschland lebt, hat den rechtlich garantierten Zugang zu einem leistungsfähigen Gesundheitssystem. Aber viele nutzen Angebote zur Prävention und Vorsorge nicht, trotz rechtlichem Anspruch. Das kann an persönlichen Umwandlungsfaktoren liegen, etwa der mangelnden Bereitschaft oder Fähigkeit, sich zu informieren, oder der fehlenden Kraft, gesundheitsschädliches Verhalten zu ändern. Aber wie weit sich solche persönlichen Faktoren negativ auswirken, hängt auch davon ab, ob die Verantwortlichen im Gesundheitssystem die soziale Dimension ihrer Arbeit ernst nehmen und in Strukturen arbeiten, die dies ermöglichen.

Die nachteilige Wirkung ungünstiger persönlicher Umwandlungsfaktoren kann, wie die drei Beispiele zeigen, also gemildert oder aufgehoben werden, wenn soziale Umwandlungsfaktoren anders gestaltet werden. Das ist, wie Ingrid Robeyns (2017, S. 47) betont, ein sehr entscheidender Aspekt des Befähigungsansatzes. Jede Politik, die es sich zum Ziel macht, Verwirklichungschancen zu erweitern, muss die Beeinflussung der Umwandlungsfaktoren ebenso in den Blick nehmen wie die zur Zielerreichung erforderlichen Ressourcen. Die persönlichen wie die sozialen Umwandlungsfaktoren zu verändern, um so die Handlungsmöglichkeiten und die realen Freiheiten zu erweitern, mit denen Menschen ihr Leben gestalten können, ist eine Aufgabe für die Akteure der sozialen Infrastruktur, wenn sie im Sinne einer Politik der Befähigung wirken wollen. Selbstredend muss dies Hand in Hand gehen mit dem Abbau hemmender sozialer Umwandlungsfaktoren, etwa von offener oder subtiler Diskriminierung, die Menschen in ihren Verwirklichungschancen einschränkt.

2 Bildungssystem: Kompensatorischer Mitteleinsatz?

Aus dem Blickwinkel einer Politik der Befähigung wäre – bei Anerkennung der politischen Blockaden, die bei einer Reform der Schulstruktur faktisch bestehen (Tillmann 2016) – zumindest zu fordern, dass Schulen in sozialen Brennpunkten bzw. mit einem hohen Anteil von Kindern aus belasteten Familien zielgenau unterstützt werden, um kompensatorisch wirken zu können. Zu dem Anliegen einer kompensierenden Ressourcenausstattung gibt es im Koalitionsvertrag (2021) der Ampelregierung erfreuliche Ansätze. Der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg wird deutlich benannt. Mit den Ländern will die Ampelkoalition etwa 4000 Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern aus sozial benachteiligten Familien mit einem Chancenbudget zur freien Verfügung und Stellen für Schulsozialarbeit unterstützen.

Dieses klare Bekenntnis zu einer differenzierenden Ressourcenzuweisung – über deren beabsichtigtes Ausmaß zum Zeitpunkt des Abschlusses des Manuskripts (Mai 2022) noch nichts bekannt ist – wird in Konflikt treten zu weit verbreiteten Gerechtigkeitsvorstellungen, nach denen nur eine gleichmäßige Ressourcenverteilung gerecht sei. Das zeigt das ifo Bildungsbarometer 2019, eine repräsentative Befragung von Erwachsenen in Deutschland. Der Informationsstand über die bestehende Bildungsungleichheit ist erstaunlich gut; sie wird als problematisch und ungerecht angesehen. 95 % halten es für sehr wichtig oder wichtig, allen Kindern ein möglichst hohes Bildungsniveau zu ermöglichen, ein ähnlich hoher Anteil will die Förderung von Kindern aus armen Familien. 70 % setzen sich auch dafür ein, mehr staatliche Mittel für Kinder aus schlechter gestellten Familien bereitzustellen. Um die impliziten Kosten einer gezielten Förderung abzubilden, sind die Befragten auch vor die Wahl gestellt worden, ob sie dafür sind, den höheren Mitteleinsatz spezifisch benachteiligten Kinder zugutekommen zu lassen oder gleichmäßig allen Kindern. Wird die Frage so gestellt, dreht sich das Bild. Etwa 70 % sprechen sich dann für einen Mitteleinsatz „mit der Gießkanne“ aus, und zwar nahezu unterschiedslos, ob es sich um Kindertagesstätten, Grundschulen oder weiterführende Schulen handelt (Wößmann et al. 2019).

Die von Sen vertretene Position, dass, wenn Verteilungsfragen zu bewerten sind, Verwirklichungschancen ein besserer Maßstab sind als materielle Mittel, ist somit nicht von rein akademischem Interesse, sondern hat praktische Folgen. Die gleiche Ressourcenausstattung aller Schulen erscheint allenfalls auf den ersten Blick gerecht. Damit auch Kinder aus prekären Milieus ihre Potenziale entfalten können, ist es erforderlich, Schulen, die viele dieser Kinder aufnehmen, mit mehr Ressourcen auszustatten als andere Schulen. Damit aber werden staatliche Mittel ungleich verteilt, nicht willkürlich, sondern aus wohlüberlegten Gründen, um die krasse Ungleichheit der Verwirklichungschancen zu mildern, die sich sonst verfestigen würden. Herausfordernd wird sein, dafür die Zustimmung der bildungsaffinen bürgerlichen Mitte zu gewinnen.

Eine Politik, den ungleichen Startchancen von Kindern entgegenzuwirken, setzt zu spät ein, wenn sie erst mit ihrer Einschulung beginnt. Die Bedeutung einer möglichst früh einsetzenden Unterstützung von Familien und der frühkindlichen Bildung und Erziehung ist allgemein anerkannt. Mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz ab dem Ende des ersten Lebensjahrs sind die Angebote quantitativ stark ausgebaut worden, mit starker finanzieller Unterstützung des Bundes. Auch hier zeigt sich ein Interessenkonflikt zwischen der breiten Mitte und Familien am unteren Rand, der pointierter wahrgenommen werden würde, wenn Verwirklichungschancen zum Maßstab gewählt werden, mit dem wir Sozialpolitik beurteilen. Mit dem Kita-Qualitäts- und -Teilhabeverbesserungsgesetz (KiQuTG) hat der Bund für die Jahre 2019 bis 2022 5,5 Mrd. Euro bereitgestellt. Obwohl im Gesetz Maßnahmen der Qualitätsverbesserung, darunter die Sicherstellung eines guten Fachkraft-Kind-Schlüssels, als vorrangig bezeichnet werden und die Entlastung der Eltern bei den Gebühren nur als zusätzlich förderfähige Maßnahme aufgeführt ist, hat eine Reihe von Bundesländern die zusätzlichen Bundesmittel zu erheblichen Anteilen oder überwiegend zur Gebührenentlastung genutzt. Mecklenburg-Vorpommern hat sie (zusammen mit einem Vielfachen aus Landesmitteln) ausschließlich hierfür verwandt, obwohl das Land im Bundesvergleich beim Betreuungsschlüssel im KiTa-Bereich das Schlusslicht bildet.Footnote 2 Dies entlastet Eltern der Mitte und der gehobenen Mitte, nicht arme Familien, die in aller Regel keine Kita-Gebühren zahlen. Ihre Kinder würden aufgrund des kompensatorischen Unterstützungsbedarfs von einer Stärkung der Qualität der Betreuung und einem verbesserten Personalschlüssel in den von ihnen besuchten Einrichtungen besonders profitieren.

Dass es hierzu keine breite öffentliche Prioritätendiskussion gegeben hat, liegt auch an einem Spezifikum der Sozial(staats)debatte in Deutschland. Alles scheint gleichermaßen dringend, jeder Ausbau gleichermaßen gerecht, eine Priorisierung wird als Zumutung empfunden und mit dem Argument zurückgewiesen, dass die Belange von sozialen Gruppen oder Hilfefeldern nicht gegeneinander ausgespielt werden dürften. Fragen der Finanzierung des sozialen Sicherungs- und Dienstleistungssystems werden häufig banalisiert (Cremer 2018, S. 174–180). Wenn aber keine gesellschaftliche Debatte zu Prioritäten geführt wird, besteht die Gefahr, dass Ressourcenkonflikte zugunsten der Mitte und zu Lasten von Menschen am unteren Rand der Gesellschaft entschieden werden.

3 Viel Sozialstaat – zu wenig Befähigung

Auch eine umfangreich ausgebaute soziale Infrastruktur kann ihren Auftrag verpassen oder nur eingeschränkt erfüllen, wenn auf ihre Dienste angewiesene Menschen nicht den Zugang zu den Diensten finden oder wenn Kooperationsblockaden zu hohen Wirkungsverlusten führen. Das Präventionsdilemma ist bei den Angeboten für werdende Eltern und junge Familien gut belegt; sie werden von Frauen mit niedrigem Bildungsgrad weit seltener genutzt als von jenen, mit hohem Bildungsgrad (Eickhorst et al. 2016). Wie Tiefeninterviews zeigen, hängt dies sehr wesentlich damit zusammen, dass sich Eltern unterschiedlicher Milieus in ihrer Selbstwahrnehmung, ihren Selbstwirksamkeitserwartungen und Kompetenzüberzeugungen stark unterscheiden. Auch Eltern mit geringer Selbstwirksamkeitserwartung sehen ihre Verantwortlichkeit für ihre Kinder, sind jedoch nicht davon überzeugt, in ihrem Alltag einen gesundheitsförderlichen Lebensstil tatsächlich umsetzen zu können, was möglicherweise auch mit entmutigenden Erfahrungen zu tun hat (Neumann und Renner 2016).

Aus Sicht einer Politik der Befähigung ist der Abbau der Präventionsdilemmata sehr entscheidend. Es kommt nicht allein darauf an, dass der Sozialstaat eine Infrastruktur bereitstellt, die Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, offensteht. Aus einer Perspektive der Befähigung ist es genauso entscheidend, Zugänge niederschwellig zu gestalten und die Selbstwirksamkeitserwartungen von Menschen zu stärken. Wer sich selbst nur eine geringe Selbstwirksamkeit zutraut, neigt dazu, seine Erfahrungen in selbstwertschädigender Weise zu interpretieren. Wenn ihm etwas misslingt, scheint dies als ein erneuter Beleg seines Versagens. Dies kann einen Teufelskreis auslösen und Selbstwirksamkeit, Leistung und Motivation weiter schwächen (Schwarzer und Jerusalem 2002, S. 35-39, Schunk und DiBenedetto 2016). Durch ihre Beziehungsarbeit können Mitarbeitende sozialer Dienstleistungen Menschen dabei unterstützen, ihre Selbstwirksamkeitserwartung zu stärken, durch Angebote, die bewältigbare Nahziele aufzeigen und so „wohldosierte Erfolgserfahrungen“ ermöglichen (Schwarzer und Jerusalem 2002, S. 42; Beispiele hierzu Cremer 2021, S. 79–96).

Der dafür erforderlichen langfristig orientierten Sozialen Arbeit einschließlich des Aufbaus stabiler Beziehungen stehen institutionelle Hemmnisse und Kooperationsblockaden im Weg, die nicht einfach durch Engagement und guten Willen ausgeglichen werden können, auch wenn, wie die Erfahrungen in der Ausnahmesituation der Pandemie zeigen, es unter gleichen oder ähnlichen rechtlichen Rahmenbedingungen regional sehr unterschiedlich gelungen ist, zu kooperieren.

Der deutsche Sozialstaat ist institutionell stark gegliedert, damit verbundenen sind Zuständigkeitsregeln und Finanzierungslogiken, die Kooperation stark behindern können (ausführlich hierzu: Lohse et al. 2017, S. 34–110). Sie erschweren, oft verhindern sie es auch, dass die finanziell durchaus potenten Akteure des Sozialstaats einen bescheidenen Teil ihrer Mittel nutzen, um die für ihre Zusammenarbeit erforderliche Koordination zu finanzieren und im gemeinsamen Interesse Präventionsprojekte zu finanzieren. Damit werden Zuständigkeitsgrenzen zu Kooperationshürden.

Die gesetzlichen Krankenkassen finanzieren sich aus den Beiträgen der Versicherten, Präventionsarbeit muss sich aber an alle richten. Sie gilt als allgemeinpolitische Aufgabe, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände wehren – durchaus verständlich – alle begehrlichen Ansprüche auf die Sozialbeiträge ab, die sie als versicherungsfremd bewerten. Es ist, wie ein Modellprojekt der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (2020) in Nordrhein-Westfalen zeigt, vielversprechend, sozialpädagogische Fachkräfte zumindest stundenweise in Kinderarztpraxen einzusetzen, damit sie dort als Lotsen zu anderen sozialen Diensten wirken können. Es ist ein niederschwelliger Ansatz gegen das Präventionsdilemma; eine Kinderarztpraxis suchen auch Mütter bzw. Eltern auf, die über das breite Angebot der sozialstaatlichen Infrastruktur nicht informiert sind oder Berührungsängste haben. Zugleich würden Ärztinnen und Ärzte entlastet, denen die soziale Situation ihrer Patienten nicht verborgen bleibt – und entgegen mancher Vorbehalte zu einer solchen Zusammenarbeit auch bereit sind.Footnote 3 Sozialarbeiterinnen in Kinderarztpraxen in sozialen Brennpunkten zu finanzieren, gehört jedoch nicht zu den Aufgaben der Krankenkassen. Die Kommunen haben im Rahmen ihrer Zuständigkeit für die Kinder- und Jugendhilfe aus rechtlicher Sicht vielfältige Möglichkeiten, präventive Arbeit anzustoßen. Aber sie haben ohnehin das Gefühl, dass der Bund ihnen mehr und mehr soziale Aufgaben zugewiesen hat, ohne sie mit entsprechenden Mitteln auszustatten. Sie sehen es nicht als ihre Aufgabe an, Personal zu finanzieren, dass in Arztpraxen eingesetzt wird.

Vergleichbare Kooperationshürden gibt es auch in den anderen Sicherungssystemen. Die Jobcenter können nur für Personen tätig werden, die Leistungsansprüche im SGB II haben; sie bewilligen ihre Leistungen auf Antrag und durch Verwaltungsakt in jedem Einzelfall. Präventive Angebote sollen jedoch bereits greifen, bevor Hilfebedürftigkeit eingetreten ist. Die Leistungen des SGB II werden aus Bundesmitteln finanziert; würden die Jobcenter stärker präventiv tätig, wären damit konfliktträchtige Fragen der Kompetenz- und Lastenteilung zwischen Bund und Ländern verbunden. Die Agenturen für Arbeit wiederum finanzieren sich aus Beitragsmitteln der Arbeitslosenversicherung. Sie leisten in einem gewissen Maße präventive Arbeit, etwa durch Angebote zur Berufsorientierung junger Menschen (§ 33 SGB III). Rechtliche Hürden bestehen, wenn Prävention erfordern würde, bestimmte Angebote gemeinsam mit den Kommunen zu organisieren und zu finanzieren. Die Bundesagentur ist eine Bundesbehörde. Die Mischverwaltung zwischen Bund und Kommunen ist verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn sie als Ausnahme ausdrücklich im Grundgesetz geregelt ist. Sinn dieser Begrenzung ist die klare Zuordnung politischer Verantwortung. Sie behindert es aber, Präventionsketten zu bilden, die institutionelle Grenzen überschreiten, und die Mittel in einer Poolfinanzierung bereitzustellen. Sie „ist grundsätzlich ausgeschlossen, wenn die Sozialleistungsträger entweder bei jeder Leistungsgewährung zuvor die Anspruchsvoraussetzungen prüfen und im Einzelfall über die Gewährung entscheiden müssen oder wenn die Hoheit über die genauen Inhalte der Leistungserbringung durch Dritte beim Sozialleistungsträger verbleiben muss“ (Lohse et al. 2017, S. 147). Zu den Akteuren, die diesen strengen Restriktionen unterliegen, gehören die Jobcenter, die Bundesagentur für Arbeit die Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, es ist somit ein überwältigender Teil der sozialen Infrastruktur betroffen.

Die Lösung liegt nicht in einem allzuständigen Bundessozialamt oder einer Verantwortungsdiffusion durch die Auflösung von Zuständigkeitsregeln, sondern in einer deutlich besseren Kooperation der Akteure. Dazu reicht es allerdings nicht, weitere Kooperationsappelle im Sozialrecht zu verankern, an ihnen mangelt es nicht. Die Appelle waren nicht wirkungslos, man sollte anerkennen, dass das Bewusstsein für die institutionenübergreifende Zusammenarbeit zwischen Leistungsträgern zugenommen hat. Es hat wichtige Initiativen gegeben, Kooperation zu fördern, beispielsweise die Bemühungen um einen besseren Kinderschutz und zum Aufbau eines Netzwerkes Früher Hilfen.Footnote 4 Bezeichnenderweise wird dieses Netzwerk aber finanziell durch eine Bundesstiftung Frühe Hilfen und damit in einem von der Regelfinanzierung der sozialen Infrastruktur abgespaltenen Sondersystem abgesichert. So begrüßenswert eine solche pragmatische Lösung ist, sie ist in ihrer Wirkung beschränkt. Neben die vielfältigen Aufforderungen zur Kooperation, die das Sozialrecht kennt, müssen Instrumente treten, die Kooperation zwischen allen Akteuren der sozialen Infrastruktur im Verwaltungsalltag erleichtern. Zumindest muss es rechtssichere Wege geben, den zum Teil erheblichen Mehraufwand vernetzter Arbeit und neuer präventiver Angebote verlässlich zu finanzieren, und zwar als Regelleistung der Institutionen, nicht als mit immer neuen Begründungen verlängerte Projekte. Sonst kann eine Verstetigung von Ansätzen, die sich bewährt haben, nicht gelingen.

Das Sozialrecht in diesem Sinne weiterzuentwickeln, ist eine sehr anspruchsvolle Herausforderung der politischen Reform für die 20. Legislaturperiode. Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung ist sie nicht systematisch verankert, es gibt aber einige Hinweise und zudem einen Programmsatz, den man als Andeutung einer Politik der Erweiterung von Verwirklichungschancen im Sinne des Befähigungsansatzes interpretieren könnte: „Wir setzen uns für einen Sozialstaat ein, der die Bürgerinnen und Bürger absichert, aber auch dabei unterstützt, neue Chancen im Leben zu ergreifen“ (Koalitionsvertrag 2021, S. 68). Schnittstellen zwischen den Sicherungssystemen werden im Zusammenhang mit dem Bürgergeld benannt, die Kooperation zwischen Jobcentern und Kommunen soll intensiviert und den Jobcentern mehr Gestaltungsspielraum und regionale Verantwortung übertragen werden. Das sind Ansätze, wenn aber die Fähigkeit der sozialen Infrastruktur wachsen soll, Menschen mit ihren höchst unterschiedlichen Problemlagen, die sich nicht an administrative Zuständigkeiten halten, gerecht zu werden und Hilfe (wie) aus einer Hand zu sichern, muss die Überwindung von Kooperationsblockaden zu einem ausdrücklichen Ziel der sozialpolitischen Reformarbeit werden. Auch die im Koalitionsvertrag formulierte Absicht, Schulen in sozialen Brennpunkten zielgerichtet zu fördern, wäre wirkmächtiger umzusetzen, wenn diese Reformaufgabe gelingt. Denn es ist eine Sache, Schulen stärker auf die Belange benachteiligter Kinder und Jugendlichen auszurichten; aber wie verfestigt die Problemlagen ihrer Familien sind, entscheidet sich, soweit Einflussmöglichkeiten bestehen, auch an der Zugänglichkeit und den Wirkungen einer sozialen Infrastruktur, die vor der Einschulung greifen muss.

4 Sozialraumorientierung – Floskel oder Leitbild der Praxis?

Es sind nicht allein die rechtlichen Hürden, die Kooperation erschweren. Ihr Abbau würde Kooperation vor Ort erleichtern, aber ob diese Spielräume genutzt würden, hängt ab vom Agieren der sozialen Akteure vor Ort und ihren fachlichen Konzepten. Ein wichtiger Strang der Debatte hierzu ist das Konzept der Sozialraumorientierung.Footnote 5 Es ist anschlussfähig an den Befähigungsansatz, da mit ihm der Anspruch erhoben wird, die Interessen und Ressourcen der Menschen im Sozialraum zum Ausgangspunkt der sozialen Arbeit zu machen und so ihre Handlungskompetenz und damit zugleich ihre Verwirklichungschancen zu stärken. Menschen sollen in ihren sozialen Bezügen als aktive Subjekte wahr- und ernst genommen werden. Verbunden damit ist die kritische Anfrage an die professionellen Helferinnen und Helfer des Sozialsystems, ob sie die Interessen der Menschen kennen, mit denen sie arbeiten, und sie dabei unterstützen, sich der Ziele ihrer Lebensgestaltung bewusst zu werden. Die aktivierende Arbeit und damit die Förderung von Selbsthilfepotentialen hat grundsätzlich Vorrang vor betreuender Tätigkeit, wobei dies nicht als Rückzug von sozialstaatlicher Fürsorge missverstanden werden darf, wo Selbsthilfekräfte (noch) nicht ausreichen. Damit ist zwingend eine Orientierung an den Ressourcen verbunden, über die die hilfesuchenden Personen, ihr Umfeld und der Sozialraum als Ganzes verfügen. Dies können persönliche Kompetenzen und sozialen Beziehungen sein, aber auch die im Umfeld tätigen Vereine, Initiativen und Ehrenamtsgruppen, Kirchengemeinden oder sozialen Dienste und Bildungseinrichtungen. Sozialräumliche Arbeit fokussiert sich nicht allein auf den Einzelfall, sondern ist zielgruppenübergreifend. Das Konzept fordert, die fachliche Isolierung eines versäulten Sozialsystems zu überwinden und stärker fachübergreifend zu handeln.

Mittlerweile bekennen sich alle Wohlfahrtsverbände (BAGFW 2015) und viele soziale Träger zu dem Anspruch, sozialräumlich zu arbeiten. Die Debatte zu sozialräumlichen Ansätzen wird aber bisher zu abstrakt geführt, das Ausmaß konzeptioneller Rhetorik steht in einem Missverhältnis zur Anwendung des Konzepts (Becher 2020, S. V). „Vernetzung“ ist zu einem beliebten Wort des Sozialchinesisch geworden; es ist genügend abstrakt, um alles meinen zu können, von einer gelegentlichen Information bis hin zu einer intensiven Zusammenarbeit an gemeinsamen Zielen. Wenn Leitungen reklamieren, die Arbeit ihrer Einrichtungen sozialräumlich auszurichten, heißt dies noch lange nicht, dass sie einen Prozess der Personal- und Organisationsentwicklung auf den Weg bringen, ohne den das Konzept nicht umgesetzt werden kann (Bestmann 2020). In vielen konzeptionellen Verlautbarungen bleibt völlig offen, was es denn konkret heißt, wenn Einrichtungen und ihre Mitarbeitenden sich „hin zum Sozialraum öffnen“, den Stadtteil „als Ganzes in den Blick nehmen“, dort „Synergien sozialräumlich erkennen“ und „aktiv an der Gestaltung von Empowermentprozessen arbeiten“, um so zum „lokalen Innovationsmotor“ zu werden.

Diese Flucht in die Abstraktion dürfte auch darin begründet sein, dass das Konzept der Sozialraumorientierung extrem anspruchsvoll ist und die Schritte der Veränderung, die auch die engagiertesten Akteure unter widrigen Bedingungen gehen können, dagegen so klein erscheinen, dass man sie lieber nicht konkret benennt. In einem prekären Stadtteil mit vielen Menschen, die mit Langzeitarbeitslosigkeit, Armut und der Bewältigung ihres Alltags kämpfen, ist es eben sehr schwer, sie dafür zu gewinnen, in einem Stadtteilprojekt Verantwortung zu übernehmen und ihre Interessen politisch zu vertreten. Aber viele sehr konkrete kleine Schritte sind möglich; auf sie, und nur auf sie, kommt es an (zahlreiche Beispiele: Früchtel et al. 2013b). Sehr entscheidend wäre, die Debatte zur Sozialraumorientierung und den Änderungen, die dieses Konzept in der Arbeit der Träger der sozialen Infrastruktur erfordert, aus der Zone der konzeptionellen Abstraktion zu holen und zugleich sich gegenseitig zuzugestehen, dass alle, die sich auf diesem Felde engagieren, nur kleine Brötchen backen können. Es gehört zu sozialräumlichen Ansätzen, an den Interessen und Lebenszielen anzusetzen; will man diese erforschen, sind qualitative Forschungsansätze zur Problemwahrnehmung von Betroffenen und ihren Bewältigungsstrategien erforderlich. Dies vermehrt zu tun, verspräche Erkenntnisse zu gewinnen zu Erfolgen und Scheitern sozialräumlicher Ansätze, zum Abbau des beklagten Präventionsdilemmas und zu den Herausforderungen, soziale Dienste weiterzuentwickeln.

Der Anspruch, sozialräumlich zu arbeiten, wie auch das Leitbild eines stärker befähigend wirkenden Sozialstaats sind nicht folgenlos auch für ordnungspolitische Überlegungen zur Gestaltung der Marktbeziehungen bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen (zum Folgenden: Cremer 8,9,a, b). In wichtigen Hilfefeldern einschließlich der Kinder- und Jugendhilfe ist das Modell des Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses vorherrschend; in ihm werden Einzelfallleistungen angeboten, auf die Berechtigte gegenüber dem staatlichen Leistungs- und Kostenträger einen Rechtsanspruch haben und den sie in Ausübung ihres Wunsch- und Wahlrechts bei einem der zur Leistungserbringung zugelassenen nichtstaatlichen Anbieter einlösen. Die Stärke dieses Marktordnungsmodells ist, dass es die Steuerungsverantwortung des Staates verbindet mit den Wahlrechten hilfeberechtigter Menschen und einem selbstverantworteten Handlungsbereich privater Leistungserbringer (Cremer et al. 2013). Jedoch ist dieses System in seiner Reinform einzelfallorientiert. Sozialrechtliche Leistungen setzen in der Regel die Feststellung eines individuellen Unterstützungsbedarfs voraus, der den Rechtsanspruch begründet.

Diese dem System eigene Einzelfallorientierung wird dann problematisch, wenn Hilfe greifen muss, bevor ein einen Rechtsanspruch auslösendes Defizit eingetreten ist, und wenn Hilfe über den Einzelfall hinaus auszurichten ist. Die Begrenzungen des Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses sind im Kontext der Sozialraumorientierung insbesondere in der Jugendhilfe mit Verweis auf die problematische Anreizwirkung der Finanzierung sozialer Dienstleistungen über Fachleistungsstunden problematisiert worden (Früchtel et al. 2013a, S. 68 f., 253 f.; Hinte und Treeß 2014, S. 111 ff.). Eine rasche Problembewältigung kann zu finanziellen Nachteilen der Leistungserbringer führen. Dadurch fördere das System eine dauerhafte Abhängigkeit von Klienten anstelle wirksamer Hilfen.

Damit soziale Dienstleistungen stärker präventiv und befähigend über den Einzelfall hinaus wirken können, ist zumindest zweierlei erforderlich: Die öffentlichen Leistungsträger, insbesondere die Kommunen, müssen, zum ersten, so steuern, dass die potenziell problematische Anreizwirkung einer einzelfallbezogenen Finanzierung eingehegt wird. Die Erbringung sozialer Dienstleistungen durch nichtstaatliche Träger, wie dies in dem stark subsidiär ausgerichteten System in Deutschland gegeben ist, bedeutet keine Abkehr von der staatlichen Gesamtverantwortung der Gewährleistung und Steuerung des Hilfesystems. Das gilt auch für die Beauftragung fallbezogener Hilfen. Wenn die Vernetzung vor Ort und die Mitwirkung in sozialräumlichen Strukturen Bedingung für eine erfolgreiche Leistungserbringung ist, dann ist es nur recht und billig zu verlangen, dass Leistungserbringer diese Anforderungen erfüllen – und zugleich die damit bedingten Mehrkosten im Leistungsentgelt abgebildet bzw. ergänzend etwa über das Zuwendungsrecht finanziert werden. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass die konzeptionelle Freiheit der Leistungserbringer nicht unnötig eingeschränkt wird, denn die Vorteile der Pluralität von Leistungserbringern können sich nur entfalten, wenn unterschiedliche Konzepte und Lösungsansätze erprobt werden können. Ohne Versuch und Irrtum geht es auch hier nicht.

Eine präventive und befähigende Ausrichtung der sozialen Infrastruktur kann, zum zweiten, nur gelingen, wenn es geregelte Strukturen der Kooperation gibt, in der kommunale Behörden, Leistungsträger und Erbringer sozialer Dienste und zivilgesellschaftliche Organisationen zusammenwirken. Leistungserbringer müssen in ausreichendem Maße untereinander kooperieren, damit eine fallübergreifende Hilfe möglich wird. Rahmenbedingungen für eine ausreichende Kooperation zu schaffen, gehört zu den Steuerungsaufgaben der kommunalen Leistungsträger.Footnote 6 Dieses Kooperationserfordernis richtet sich an Leistungserbringer, die sich als Unternehmen in den Märkten sozialer Dienstleistungen behaupten müssen, untereinander im Wettbewerb stehen und auf eine ausreichende Belegung ihrer Dienste angewiesen sind. Kooperation wird nur gelingen, wenn die Akteure dabei ihre wirtschaftlichen und institutionellen Interessen wahren können. Sonst werden alle Beteuerungen, im und für den Sozialraum kooperieren zu wollen, folgenlos bleiben. Für frei-gemeinnützige Anbieter entspricht Kooperation im Interesse hilfesuchender Menschen ihrem proklamierten Selbstverständnis. Befähigende soziale Arbeit ist mehr als ein Leistungserbringer-Kunden-Verhältnis, sie reicht über eine klar abgrenzbare Dienstleistungserbringung für eine klar umrissene Zielgruppe hinaus. Was dies für die Ordnung der Märkte sozialer Dienstleistungen bedeutet, ist eine zu wenig diskutierte Frage.

5 Wirkungsdialog in lokalen Befähigungspartnerschaften?

Was könnte mehr Kooperation befördern? Dieser Beitrag schließt mit einem Plädoyer für lokale Befähigungspartnerschaften. Die Akteure einer solchen Partnerschaft können die örtlichen Verhältnisse in den Blick nehmen und die Entwicklung anhand vereinbarter Indikatoren beobachten und bewerten. Dies kann unterschiedliche Felder der sozialen Infrastruktur betreffen, es sei hier am Beispiel einer Politik der Befähigung erläutert, die Bedingungen schafft, damit möglichst alle Kinder und Jugendliche ihre Potenziale entfalten können und ihre Familien so gestärkt werden, dass dies gelingen kann. Der erste Schritt hierzu ist die Bereitschaft, über verfestigte Problemlagen, aber auch über die vermuteten Ursachen und die Begrenzungen der bildungspolitischen und sozialpolitischen Institutionen vor Ort offen zu sprechen.

Das sollte datengestützt erfolgen. Ein leicht ermittelbarer Indikator der Bildungsgerechtigkeit ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Schule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen und nicht auf eine andere allgemeinbildende Schule gewechselt sind. Es gibt Daten zum Entwicklungsstand der Kinder aus den Sprachtests in den Kitas und den Schuleingangsuntersuchungen. Dabei werden alle Kinder erfasst; eine regional differenzierte Auswertung ist somit methodisch kein Problem. Das Land Brandenburg erfasst bei den jährlichen Schuleingangsuntersuchungen mit einem einfachen aus dem Bildungs- und Erwerbsstatus gebildeten Indikator auch den sozialen Hintergrund der Eltern. So verfügt das Land über Informationen, wie sich Sprach- und Sprechstörungen, Bewegungsstörungen, emotionale Beeinträchtigungen und Adipositas bei Kindern zur Einschulung im Zeitverlauf entwickeln und sich nach sozialer Schichtung verteilen. Auch wird erhoben, ob Kinder von Frühförderungs- und Beratungsangeboten erreicht wurden, dies ebenfalls nach sozialer Schichtung differenziert. Die Daten zu den Indikatoren sind auf Kreisebene verfügbar. Es gibt überall vor Ort Daten der örtlichen Gesundheitsämter, etwa zur Zahngesundheit, die man zumindest nach den Stadtteilen auswerten kann, und die als Indikatoren für die gesundheitliche Lage von Kindern dienen können. Auch den Zugang zu frühkindlicher Bildung oder zu außerschulischen Bildungsmaßnahmen und zu befähigenden Angeboten der Vereine kann man mit nicht allzu großem Aufwand erfassen.Footnote 7 Wenn man diesen Ansatz verfolgt, sind methodische Probleme bei der Erhebung, Auswertung und Interpretation der Daten nicht zu vermeiden. Das sollte aber nicht als Argument dafür dienen, die Chance ungenutzt zu lassen, datenbasiert in lokalen Befähigungspartnerschaften nach Möglichkeiten zu suchen, die Wirkung der sozialen Infrastruktur zu verbessern. Allerdings sollte man der kommunalen Ebene ein methodisches Rüstzeug an die Hand geben oder, was vorzuziehen wäre, die Auswertung mit wissenschaftlicher Begleitung auf Landesebene vornehmen.

Die entscheidende Frage ist, wieviel Widerstand ein solcher aus meiner Sicht eigentlich harmloser Ansatz auslösen würde. Erkenntnisreich, aber zugleich auch heikel ist der Vergleich mit anderen Regionen, insbesondere mit Regionen, die von ihren sozioökonomischen Bedingungen – seien es das Wohlstandniveau, die Quote der Grundsicherungsbezieher oder der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund – recht ähnliche Bedingungen aufweisen. Der Deutsche Caritasverband hat 2012 eine ökonometrische Untersuchung des Anteils der Schülerinnen und Schüler in den etwa 400 Kreisen und kreisfreien Städten in Auftrag gegeben, die das Schulsystem ohne einen Abschluss verlassen haben (Tamm 2011). Es zeigten sich massive Unterschiede. Es gibt Kreise, da scheitert jedes 10. Kind in der Schule, in anderen Kreisen aber nur jedes 30. Kind. Entscheidender ist: Diese Unterschiede können nur zu einem geringen Anteil mit den gängigen Hypothesen erklärt werden, die sich als Erstes anbieten: Unterschiede zwischen den Kreisen im Ausbildungsniveau der Eltern, der Höhe der Arbeitslosigkeit oder dem Ausländeranteil. Auch Kreise mit ähnlicher sozioökonomischer Struktur weisen große Unterschiede auf. Eigentlich ist dies eine optimistische Botschaft, da es Potenzial für Verbesserung signalisiert. Dennoch löste der Vergleich bei einigen Kreisen und Kommunen massive Abwehrreflexe aus, anderenorts aber auch produktive Debatten.

Soweit Vergleiche sich auf den Zugang und die Wirkungen der sozialen Infrastruktur beziehen, könnten Abwehrreflexe auch bei den Erbringern sozialer Dienstleistungen und ihren Verbänden ausgelöst werden. Bei ihnen mag ein datenbasierter Dialog die Sorge auslösen, dass er, wenn die Daten sich nicht zum Positiven entwickeln, genutzt wird, ihre soziale Arbeit abzuwerten. Selbstredend kann ein Monitoring des Stands der Politik der Befähigung in einer Region mittels Sozial- und Bildungsindikatoren nicht die Qualität der sozialen Einzelfallarbeit messen oder das Qualitätsmanagement bei den Trägern ersetzen. Wenn sich Werte verschlechtern oder weniger positiv entwickeln als erhofft, kann dies viele Gründe haben. Es geht nicht um die Klärung der Schuldfrage, sondern um die Suche nach erfolgreichen Interventionsmöglichkeiten und um eine kritische Reflexion der Arbeit vor Ort.

Es wird umfangreiche Arbeit sein, dass Vertrauen unter den örtlich verantwortlichen öffentlichen Leistungsträgern und den Leistungsanbietern so aufzubauen, dass ein offener Dialog über Erfolge und Misserfolge möglich ist. Es gibt auch Stimmen, die dies für illusorisch halten, da die Leistungserbringer auch Konkurrenten sind, Konkurrenten „um Finanzierungen, um Anerkennung, eventuell um Adressaten, um fachliche und politische Legitimation“ und daher der „Wunsch nach einer möglichst positiven Selbstdarstellung“ einen offenen Dialog verhindert. So steht es wörtlich in einer Leitlinie zur Qualitätsentwicklung in der örtlichen Kinder- und Jugendhilfe in Nordrhein-Westfalen (LWL und LVR 2013, S. 28). Dies kann aber nicht das letzte Wort sein, denn dies hieße, große Potenziale für eine Politik der Befähigung zu verschenken. Es wäre zugleich ein vernichtendes Urteil über die subsidiäre Erbringung sozialer Dienstleistungen.

Ein solcher Fatalismus gegenüber einem datenbasierten Dialog über Qualität und Wirkung ist unangebracht. Wenn rechtliche Hürden der Kooperation abgebaut werden, ermutigt dies jene, die kooperieren wollen und diejenigen, die bisherige Routinen weiterführen wollen, können Veränderung nicht mehr mit Verweis auf unüberwindbare Grenzen der Zuständigkeit abwehren. Wenn kommunale Leistungsträger wie etwa die Jugendämter in Wahrnehmung ihrer Steuerungsverantwortung deutlich machen, dass sie einen datenbasierten Dialog über Qualität und Wirkung wollen und auch bereit sind, die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, werden sie unter den Leistungserbringern Partner finden, die mitmachen. Wenn sich ein solcher Dialog etabliert, werden diejenigen, die mauern, keinerlei kritische Erfahrungen preisgeben und nur auf eine möglichst positive Selbstdarstellung setzen, mehr und mehr antiquiert erscheinen. Ohnehin, wenn es auf der örtlichen Ebene verfügbare Daten gibt, werden sich Selbstdarstellungen an der Realität messen lassen müssen. Zugleich eröffnet ein datenbasierter Dialog über Qualität und Wirkung auch die Chance, das fokussiert wahrzunehmen, was die soziale Infrastruktur leistet, um Menschen zu stärken, und wo sie die soziale Realität verändert. Dies wirkt ermutigend und kann jene politischen Kräfte unterstützen, die sich für eine wirkmächtige soziale Infrastruktur in einem starken Sozialstaat einsetzen.