1 Einleitende Überlegungen

Das Zusammenleben und der Alltag in Kindertageseinrichtungen sind ein Spiegel der Gesellschaft und damit in gleicher Weise von Diversität und Heterogenität geprägt. Es ist in der frühpädagogischen Forschung empirisch gut belegt, dass zentrale Differenzlinien wie „race, class, gender“ oder „(dis)ability“ auch in Kindertageseinrichtungen die Entwicklung von Identitäten prägen und durch Zuweisungspraktiken reproduziert werden (u. a. Amirpur und Platte 2017; Beyer 2013; Brockmann 2014; Diehm et al. 2017; Gramelt 2020; Kubandt 2016; Machold 2015; Meyer 2017; Prengel 2016; Ruppin 2017; Simon et al. 2019; Stenger et al. 2017; Wagner 2017). Die Herausforderung besteht darin, Vielfalt als positive und gewinnbringende Varianz zu verstehen und dabei gleichzeitig zu reflektieren, dass über die Betonung von Unterschieden Ungleichheiten, Macht- und Herrschaftsverhältnisse (vgl. Riegel 2016) und Benachteiligungen (re)produziert werden, die den „Zugang zu bedeutenden gesellschaftlichen Gütern“ (Kuhn 2021) steuern.

Das Vorhaben zielt auf die Offenlegung unintendierter, unbewusster Praktiken der Herstellung von Differenz und Nicht-Zugehörigkeit ab, um deren problematischen Charakter für eine inklusionsorientierte Praxis zu diskutieren zu können. Es wird davon ausgegangen, dass die Qualität der pädagogischen Interaktionen in Kindertageseinrichtungen wesentlich von den Kompetenzen der Fachkräfte abhängig ist, das eigene Handeln und die Einflüsse ausgrenzender Strukturen reflektieren zu können. Zugrunde gelegt wird hierbei ein Verständnis von Inklusion, welches die Aufnahme aller Kinder in eine Einrichtung sowie die uneingeschränkte Teilhabe und Gemeinsamkeit innerhalb der Einrichtung vorsieht (vgl. Prengel 2014, S. 18). Eine inklusionsorientierte Perspektive setzt Einrichtungen voraus, die sich mit ihren pädagogischen Angeboten und Praktiken an den Bedürfnissen der Kinder und deren Familien orientieren und Benachteiligungen bearbeiten wollen, da diese nicht ihrem Selbstverständnis entsprechen (Kuhn 2021, S. 57).

Durch die intensive Zusammenarbeit mit Modell-Kitas soll erreicht werden, dass sich der angestrebte Qualitätsentwicklungsprozess nicht allein auf die pädagogischen Kompetenzen der Fachkräfte konzentriert, sondern zudem im Sinne einer inklusiven Organisationsentwicklung wirksam wird (vgl. Sulzer und Wagner 2011, S. 60).

2 Ziele der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts „Vielfalt vor Ort begegnen“

Durch das Thüringer Modellprojekt „Vielfalt vor Ort begegnen“ sollen die geförderten Kindertageseinrichtungen in die Lage versetzt werden, inklusive Handlungsanforderungen zu identifizieren und einen individuell abgestimmten Handlungsplan für ihre Kindertageseinrichtung entwickeln zu können. Dafür werden den teilnehmenden Kitas Mittel für projektthemenbezogene zusätzliche personelle Ressourcen bereitgestellt sowie prozessbegleitend zur Unterstützung und Beratung der Kitas Fachberatungen eingerichtet. Die wissenschaftliche Begleitung leistet einen Beitrag dazu, Pädagog*innen für die Herausforderungen einer diversitätsbewussten Praxis zu sensibilisieren und in ihrer fachlichen Handlungskompetenz zu stärken. Über die Multiplikator*innenausbildung, Beratungs- und Informationsangebote sowie den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in Fachtagungen und Handlungsempfehlungen werden Einrichtungen und Fachkräfte darin unterstützt, Hindernisse, die die gesellschaftliche Beteiligung und Teilhabe der Kinder und ihrer Familien erschweren, zu erkennen und zu beseitigen.

Auf der Ebene der Interaktions- und Orientierungsqualität geht es darum, Pädagog*innen darin zu unterstützen, differenzbewusste und diskriminierungskritische Analyse‑, Handlungs- und Reflexionskompetenzen zu entwickeln (vgl. Sulzer und Wagner 2011, S. 58). Voraussetzung dafür sind Wissen über Heterogenität und Diskriminierung sowie methodisches Können. Das Fortbildungsangebot fokussiert entsprechend konkrete alltägliche Handlungsanforderungen, um die Fachkräfte in ihrer Handlungsfähigkeit praxisnah zu unterstützen (vgl. Rehklau et al. 2021). Besondere Relevanz kommt der Gestaltung des pädagogischen Alltags durch die Akteur*innen im institutionellen Bildungs- und Betreuungsarrangement zu. Sollen die Gelingensbedingungen für eine qualitativ gute frühkindliche Bildung sowie eine umfassende Bildungsteilhabe aller Kinder identifiziert werden, ist es unabdingbar, auch die Organisations- und Teamkulturen systematisch in den Blick zu nehmen. Neben der Praxisrelevanz werden damit Grundlagen für die Professionalisierung der Pädagogik der Kindheit geschaffen.

Die wissenschaftliche Begleitung zielt deshalb über die drei Auftragsschwerpunkte Fortbildung, Vernetzung und Forschung darauf ab: a) empirische Ergebnisse zur qualitativen Entwicklung der beteiligten Kindertageseinrichtungen im Themenfeld Heterogenität und Inklusion zu generieren, b) Pädagog*innen und Fachberatungen fachlich zu beraten und prozessorientiert in der Etablierung und Entwicklung inklusiver Einrichtungskulturen und -strukturen zu unterstützen; c) theoretisch und empirisch fundierte Fortbildungen zur Entwicklung von Diversity-Reflexivität zu entwickeln, durchzuführen und auszuwerten; d) einen Infopool mit Arbeitsgrundlagen, Informationsmaterialien und Handlungsempfehlungen zu entwickeln, der Thüringer Kindertageseinrichtungen auch im Nachgang des Projekts zur Verfügung steht.

3 Aufbau und Umsetzung der wissenschaftlichen Begleitung

Um dies zu erreichen, werden jeweils drei qualitative und quantitative Teilerhebungen durchgeführt, deren Befunde in überregionalen Fachtagungen, Netzwerktreffen mit Vertreter*innen der Modelleinrichtungen, individuellen Beratungsgesprächen für die Kindertageseinrichtungen und prozessbegleitenden Fachberatungen, Publikationen und insbesondere im Fortbildungsangebot im Sinne einer „dialogischen Wissenstransformation“ (vgl. Sehmer et al. 2019) genutzt werden.

In einem ersten Arbeitsschritt wird angestrebt, theoretische Erkenntnisse zu sammeln und in Verbindung mit dem ethnografischen Datenmaterial aus der Feldexploration sowie den Erkenntnissen einer Online-Fragebogen-Erhebung didaktisch aufzubereiten, um sie in Fortbildungen für die Steuerungsteams der Kindertageseinrichtungen und die Prozessbegleitung einzusetzen. Kernziel der Fortbildungen ist es, ein gemeinsames Projektverständnis aufzubauen und die Steuerungsteams und Prozessbegleiter*innen in ihrer Handlungsfähigkeit hinsichtlich der Projektphilosophie zu bestärken, da diese beiden Gruppen eine Multiplikatorfunktion in den Einrichtungsteams einnehmen. Die Basismodule setzen sich aus den Themen Vielfalt und Inklusion, Kommunikation und Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams, Methoden der Organisations‑, Team- und Konzeptentwicklung sowie Strategien und Konzepte zur Sicherung einer inklusionsorientierten pädagogischen Arbeit zusammen. Ergänzend werden Wahlmodule angeboten, die sich verschiedenen Heterogenitätsdimensionen zuwenden. Die Fortbildungen werden onlinebasiert begleitend evaluiert. Nach einer finalen Überarbeitung werden die Inhalte des Fortbildungscurriculums inkl. der Arbeitsgrundlagen, Informationsmaterialien und Handlungsempfehlungen, in einer Abschlusspublikation veröffentlicht.

Die quantitative Begleitforschung konzentriert sich auf eine formative Evaluation und dient damit vor allem der Qualitätssicherung des Projektprozesses und -ergebnisses (vgl. Micheel 2010, S. 101). Sie zielt darauf ab, die Projektentwicklung in der Breite zu begleiten und zu erfassen und wird als codierte, online-gestützte Fragebogenerhebungen realisiert. Die Einstiegsbefragung richtet sich an alle Mitarbeiter*innen der beteiligten Einrichtungen. Mit ihr sollen Teilnahmemotivation, Akzeptanz des Projekts und die Ausgangslage hinsichtlich inklusiver Praxen sowie Vorerfahrungen erhoben werden, um Potenzial und mögliche Hürden in den Einrichtungen auszuloten. Die fortlaufenden Befragungen zur Prozessevaluation beziehen sich auf die Teilnehmenden des Fortbildungsangebots, um deren Erkenntnisgewinn und Sicht auf die absolvierten Fortbildungen zu erfassen und die Wirksamkeit der Maßnahmen bewerten zu können. Gleichzeitig bilden die Erkenntnisse, die aus den Befragungen gewonnen werden, die Grundlage für eine dezidierte Zwischenevaluation. Darüber hinaus fließen diese Befunde unmittelbar in die Weiterentwicklung des Fortbildungscurriculums ein. Am Ende des Projektzeitraums werden über eine Ergebnisevaluation, welche an die Eingangsbefragung anschließt und sich wieder an alle pädagogischen Mitarbeiter*innen der geförderten Einrichtungen richtet, die Projekterfahrungen und damit einhergehende individuelle und organisationale Veränderungsprozesse ausgewertet.

Der qualitative Teil der wissenschaftlichen Begleitforschung dient der vertieften, praxisnahen und prozessorientierten Analyse von strukturellen und personellen Orientierungen. Im Einstieg sind ethnografische Feldexplorationen in den Modelleinrichtungen geplant, um die beteiligten Einrichtungen in ihrer Spezifik kennenzulernen, Fallvignetten für die Curriculumentwicklung zu generieren und Herausforderungen für den Entwicklungsprozess des Modellprojekts zu rekonstruieren. Das ethnografische Verfahren richtet das Forschungsinteresse auf die kindheitspädagogische Praxis, ihre Artefakte, Formen der Raumgestaltung und Interaktionspraxen. Gefragt wird, wie über diese Elemente ein inklusives, heterogenitätsbewusstes Umfeld geschaffen oder auch blockiert wird. Angenommen wird, dass sich im Handeln und in der zeiträumlichen Gestaltung zeigt, was als „richtiges“, d. h. angemessenes Handeln im konkreten Kontext und in der konkreten Situation angenommen wird (Lochner 2018, S. 131). Insbesondere sollen Feldvignetten generiert werden, die Anhaltspunkte für die inklusionsorientierte und heterogenitätsbewusste Weiterentwicklung der pädagogischen Praxis liefern. Auf diese Weise wird ermöglicht, dass die wissenschaftliche Begleitung des Projekts ihren Ausgangspunkt in der Praxis nimmt, deren Spezifika berücksichtigt und die Fortbildungscurricula in der Praxis fundiert werden (Rawls 2008, S. 714).

Darüber hinaus werden Gruppendiskussionen (Bohnsack 2000) sowohl in der ersten Hälfte des Projektzeitraums als auch gegen dessen Ende durchgeführt. Mit ihnen kann der Fokus nicht nur auf die Analyse manifester Einzelmeinungen und situativ hergestellter Gruppendeutungen gerichtet werden, sondern auf latente Gruppenorientierungen und die Rekonstruktion vorgängiger Erfahrungsbildungsprozesse (vgl. Bohnsack et al. 2010, S. 7), wodurch im Projekt das Spektrum vorhandener Orientierungen im pädagogischen Feld mit Blick auf Diversität abgebildet werden kann. Je stärker individuelle Erfahrungen in gemeinsame Erfahrungsräume eingelagert sind, desto selbstläufiger erfolgt die Diskursorganisation in Settings von Gruppendiskussionen. Aus forschungsökonomischen Gesichtspunkten bieten Gruppendiskussionen deshalb die Möglichkeit, auf gemeinsam geteilte Erfahrungshorizonte zu verweisen. Individuelle Bildungsprozesse werden dabei in Kontexte berufsspezifischer Bildungsprozesse gestellt mit dem Ziel, ihre Soziogenese auf dem Hintergrund gruppenspezifischer Erfahrungen zu rekonstruieren und typologisch zu erfassen. Mittels der Auswertung der Gruppendiskussionen in einem mehrstufigen Prozess und orientiert am Auswertungsverfahren der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2010) werden handlungsleitende Orientierungsmuster typologisch nachgezeichnet.

In der Projektabschlussphase werden die erzielten Ergebnisse systematisch verdichtet und in einer Abschlusspublikation zusammengefasst. Dazu gehört auch die empiriebasierte Überarbeitung des Fortbildungscurriculums, welches anschließend weiter genutzt werden kann.