1 LGBTI*Q-Lebensformen im Fokus kultureller Deutungskämpfe

Angesichts der Einführung der sogenannten „Ehe für alle“ 2017, der Einführung der Kategorie „divers“ im Personenstandsgesetz 2018 und der Verabschiedung des Gesetzes zum (eingeschränkten) Verbot von Konversionsbehandlungen 2020 ließe sich annehmen, dass sich Gesellschaft insgesamt gegenwärtig transformiert, liberalisiert und queerfeindliche Deutungen und Narrative kaum noch Fuß fassen können. Entsprechend wurden auch medial Studienergebnisse (u. a. Küpper et al. 2017) aufgenommen und diskutiert, die andeuten, dass die Mehrheit der Gesellschaft „offener“ und „toleranter“ geworden ist.

Gerade an den drei genannten Daten wird aber über die darauf erfolgten Reaktionen deutlich, dass die Leben von queeren PersonenFootnote 1 gegenwärtig, angesichts der rechtlichen Erfolge vermutlich noch mehr als in den Jahrzehnten zuvor, hart umkämpft sind. Dabei lassen sich mehrere parallele Konfliktlinien der Auseinandersetzung unterscheiden: (1) die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare beim Adoptions- und Eherecht und damit auch Diskussionen zur Bedeutung der heteronormativen Kernfamilie, (2) die Debatte um Repräsentation queerer Personen in Gesellschaft und insbesondere Popkultur, (3) die Diskussion um Hilfsangebote insbesondere für nichtbinäre Personen (etwa die Hürden für Geschlechtsangleichungen oder Therapien), (4) die Hinweise auf Diskriminierung, Mobbing und Hatespeech gegen queere Menschen und insbesondere Jugendliche (auch) als pädagogische Herausforderung und (5) die Diskussion um sprachliche Repräsentation queerer Lebensformen im Kontext gendersensibler Sprache. In Bezug auf all die genannten Konfliktlinien lassen sich Agitationen von konservativen bis zu rechten, rechtspopulistischen und rechtsextremen Akteur*innen nachzeichnen, die sich insgesamt innerhalb eines Kampfes um kulturelle Deutungen und Identitätspolitik verorten lassen. Dieser entspinnt sich insbesondere an Diskursen um Gender und Familie, über Anschlüsse an Perspektiven im Sinne neurechter „Metapolitik“ (vgl. u. a. Simon und Thole 2021) deckt dieser aber das ganze Spektrum gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ab. Queere Menschen werden dabei von rechten Akteur*innen als lebendig gewordener Angriff auf „traditionelle“ und „wahre“ Auffassungen von Familie und Geschlecht geframed und dadurch deren Lebensformen zum Ziel von Diffamierungen politisiert (Hark und Villa 2015).

Als Ergebnis auch neurechter Strategien kann hier ein Wandel der „problematischen Ablehnungskonstruktionen“ (Thole 2020) im Sinne einer (rechts)populistischen Transformation festgestellt werden, über die queerfeindliche Deutungen innerhalb hegemonialer Diskurse Anschlussfähigkeit erlangen. Dies lässt sich etwa beispielhaft an den Positionierungen des Kasseler Professors für Pflanzenphysiologie und Evolutionsbiologie Ulrich Kutschera zeigen, dessen insbesondere gegen Homosexuelle gerichteten pseudowissenschaftlichen Thesen in rechten und ultrakonservativ katholischen Kreisen vielfach aufgegriffen und verbreitet worden sind (vgl. Sehmer und Marks 2020). Auch andere bekannte Gesichter der konservativen Rechten, wie die ehemalige CDU-Politikerin und Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, verbreiten immer wieder Hass gegen queere Menschen über ihre Social-Media-Kanäle (vgl. Ganz und Meßmer 2015). So kommentierte Steinbach das Outing von 185 Schauspieler*innen im Süddeutschen Magazin vom Februar 2021 in einem Tweet mit den Worten: „Wen interessiert es eigentlich, was die in ihren Betten treiben? Solange keine Kinder mißbraucht werden, ist mir das jedenfalls völlig egal“ (Tweet vom 05.02.2021). Ähnliche Äußerungen finden sich nicht nur bei Akteur*innen, die sich eindeutig rechts und queerfeindlich positionieren. Symptomatisch für die Transformation queerfeindlicher Narrative sind auch Äußerungen konservativer Politiker*innen. So antwortete Friedrich Merz auf die Frage, ob er sich einen schwulen Bundeskanzler vorstellen könne, dass ihn das Privatleben von Kolleg*innen nicht interessiere: „Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft – an der Stelle ist für mich allerdings eine absolute Grenze erreicht –, ist das kein Thema für die öffentliche Diskussion.“Footnote 2 Merz räumt hier gleichzeitig scheinbar allen die Freiheit ein, ihre Sexualität auszuleben und präsentiert sich damit liberal und offen, reproduziert aber, wie Steinbach, gleichzeitig ein tief verwurzeltes homophobes Deutungsmuster der Analogie von Homosexualität und Pädophilie (vgl. Eribon 2019; Kämpf 2015). Ebenso weist auch er die Möglichkeit zurück, sexuelle Identität öffentlich zu thematisieren und damit Repräsentanz herzustellen. Ähnlich problematisch äußerte sich Annegret Kramp-Karrenbauer 2015 in einem Interview zur Frage nach einer Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Während sie zunächst ihre Bedenken gegen die „Ehe für Alle“ mit Unsicherheiten in Bezug auf Fragen des Kindeswohls begründet, erklärt sie schließlich: „Wenn wir diese Definition öffnen in eine auf Dauer angelegte Verantwortungspartnerschaft zweier erwachsener Menschen, sind andere Forderungen nicht auszuschließen: etwa eine Heirat unter engen Verwandten oder von mehr als zwei Menschen. Wollen wir das wirklich?“Footnote 3

Angriffe auf queeres Leben sowie auf Forschung und Theorie zur (Re‑)Produktion sozialer Geschlechter gehen dabei nicht selten auch von konservativ-christlichen Akteur*innen aus oder nehmen zumindest Bezug auf konservativ-christliche Positionen (vgl. Hark und Villa 2015; Paternotte 2015; Thiessen 2015; Lob-Hüdepohl 2018; Simon und Thole 2021; zuletzt auch Nord und Schlag 2021). Zwar werden in großen Teilen des konservativen Christentums die „alten“, tradierten LGBTI*Q-feindlichen Sprachweisen mittlerweile zurückgewiesen, die queere Menschen verurteilen, ihnen ihre Gleichwertigkeit absprechen und sie auffordern, in Scham und Selbstverurteilung zu leben. Die queerfeindlichen Deutungen sind damit aber nicht gänzlich verschwunden, sie haben sich bei manchen lediglich transformiert und in „liberale“ Narrative eingefügt. Gefährlich sind sie für queere Menschen aber weiterhin (Butler 2006; Eribon 2017, 2019; Kleiner 2018; Krell und Oldemeier 2017; Riegel 2017; Tuider und Timmermanns 2015). In Bezug auf Familie zeichnet etwa Barbara Thiessen (2015) nach, wie sich innerhalb der evangelischen Kirche und darüber hinaus v. a. von rechts 2013 teils heftige Kritik an einer Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche Deutschland zu Familien entzündete, die Gräben und Konfliktlinien zwischen unterschiedlichen Gruppierungen deutlich zu Tage treten ließ.

In diesem Beitrag soll anhand der Analyse der Predigt zum „Fest der Heiligen Familie“ des Passauer Bischofs und Vorsitzenden der Jugendkommission der Deutschen Bischofskonferenz Stefan Oster und dessen Reaktion auf Kritik exemplarisch nachgezeichnet werden, wie sich queerfeindliche Narrative transformieren und für rechtspopulistische Agitationen anschlussfähig werden. Die präsentierten Ergebnisse sind verdichtete Befunde aus der Rekonstruktion der Predigt und einer Antwort Osters auf Kritik an dieser. In der sequenziellen Analyse liegt der Fokus insbesondere darauf, wie der Bischof Vorstellungen von seinen Zuhörer*innen einerseits und queeren Personen andererseits präsentiertFootnote 4, welche Anschlüsse er in seiner Argumentation herstellt und wie die Deutungen rhetorisch eingebracht und dadurch insgesamt so transformiert werden, dass sie für die Zielgruppe nachvollziehbar werden. Diese Fragen gehen von der Annahme aus, dass die Predigt zwar zunächst als Rede eines einzelnen Vertreters der katholischen Kirche erscheint, aber als Ausdruck und Aufscheinen eines Diskurses verstanden werden kann, insofern, dass sie einen Einblick darüber gibt, was im Sprechen über queeres Leben wie und von wem sag- und denkbar ist (Foucault 2012). Über den Kontext, die zentrale Stellung Osters als Leiter der Jugendkommission und die ausbleibenden Konsequenzen, etwa das weitgehende Fehlen von Kritik innerhalb der katholischen Kirche, wird deutlich, dass es sich bei der Predigt nicht um ein singuläres respektive „radikales Ereignis“ (Foucault 2003, S. 273) handelt, sondern die präsentierten Argumente inhaltlich anschlussfähig und damit Ausdruck geteilter Deutungen innerhalb von Diskursräumen sind, die es näher herauszuarbeiten gilt. Forschungsmethodologisch kann das Vorgehen so als Mikroanalyse diskursiver Ausdrucksgestalten verstanden werden, über die Narrative rekonstruiert werden, die innerhalb spezifischer Diskurse als legitim gelten können. Osters Predigt selbst, so die Annahme, stellt als diskursive Praxis den Versuch dar, queere Personen in einer spezifischen Art und Weise für die Zuhörenden als Subjektformierungen hervorzubringen, damit seine normativen Vorstellungen von queeren Leben an die Zuhörenden zu vermitteln und queeres Leben so in einer bestimmten Rahmung für diese als Gegenstand des Nachdenkens zu erzeugen (Butler 2006). Zu berücksichtigen ist damit nicht nur der reine Text der Predigt, sondern auch die Stellung und Autorität der sprechenden Person und der soziale Kontext der Rede als Predigt eines katholischen Bischofs zu einer Gemeinde (Kessl 2011).

Mit Verweis auf Andreas Lob-Hüdepohl (2018) werden bei der Analyse „kulturelle Brücken“ zwischen konservativem Christentum und Rechtspopulismus in den Blick genommen und populistische Diskursstrategien identifiziert (Decker 2018). Darauf aufbauend werden im letzten Abschnitt Folgen für queere Menschen diskutiert und Herausforderungen für Soziale Arbeit skizziert. Der Beitrag liefert damit nicht nur eine weitere Facette zur Analyse dieser kulturellen Brücken zwischen Christentum und Rechtspopulismus, sondern zeichnet auch die Transformation queerfeindlicher Argumentations- und Deutungsmuster als Teil des Gesamtspektrums gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und rechter Dynamiken nach (vgl. Heitmeyer 2018; Decker und Brähler 2020; Zick et al. 2019).

2 Analyse einer Predigt zum „Fest der Heiligen Familie“

Zunächst zum Kontext der Analyse: Am 27.12.2020 hielt der Paussauer Bischof Stefan Oster eine Predigt zum „Fest der Heiligen Familie“, die er mit dem Titel „ist die klassische Familie heute noch das Normale?“ überschreibtFootnote 5. Auf die Predigt folgte Kritik u. a. vom Lesben- und Schwulenverband Bayern (LSVD Bayern)Footnote 6 und mediale BerichterstattungFootnote 7. Die Predigt verdient auch deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil Stefan Oster seit 2016 der Jugendkommission der Deutschen Bischofskonferenz vorsteht. Oster wurde damit zum Sprecher für Angelegenheiten und Themen von Jugendlichen im höchsten katholischen Gremium in der Bundesrepublik Deutschland und damit zur wirkmächtigen Stimme im katholischen konservativ-christlichen Spektrum. Als zu thematisierende Handlungsfelder im Aufgabenbereich der Jugendkommission nennt die Deutsche Bischofskonferenz (2021) neben pastoralen Feldern, „Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen, Jugendbildungsstätten, Jugendsozialarbeit, Jugendverbände, Junge Erwachsene, Offene Kinder- und Jugendarbeit, Politische Bildung“ und nimmt damit deutlich Bezug auf Handlungs- und Aufgabenfelder der Kinder- und Jugendhilfe, von denen ein nicht unwesentlicher Teil in Deutschland auch unter katholischer Trägerschaft gestaltet wird. Die Predigt, das wird nachfolgend aufgezeigt, bedient sich dabei populistischer Argumentationen zur Zeichnung eines dichotomen die Anderen-gegen-uns-Schemas, bei dem jede Kritik als Angriff einer diffusen, aber mächtigen Interessengruppe auf den Kern katholischer Identität und die Lebensweisen der Gläubigen gezeichnet wird. Unter Rückgriff auf biologistische Argumentationsmuster werden moralische Aussagen verschleiert und die Kritik queerer Menschen und deren Eintreten in den Diskurs als ideologische Verblendung ohne logische Grundlage zurückgewiesen.

2.1 Das populistische Narrativ der mächtigen, feindlichen Elite als Leitmotiv

Liebe Schwestern und Brüder,

wir begehen den Sonntag der Heiligen Familie. Für die meisten von uns, die wir katholisch sozialisiert sind, klingt diese Bezeichnung sehr selbstverständlich „die Heilige Familie“. Aber wer sich heute nur ein wenig in der Gesellschaft umhört und umsieht, der weiß, dass das in den Ohren von nicht wenigen Menschen anstößig klingt. „Die Heilige Familie“, die noch dazu als Vorbild für die christlichen Familien dargestellt wird – das klingt in den Ohren von vielen Menschen, die heute die politische und mediale Debatte bestimmen, als reaktionär. Maria, Josef und Jesus bieten die Projektionsfläche für ein Bild von einer Familie, die zuerst fromm ist und wie im heutigen Evangelium geschildert, gleich in den Tempel geht, um religiöse Vorschriften zu erfüllen. Und dann ist es eine Familie in der klassischen Zusammensetzung von Mama, Papa, Kind, in dem es scheint, dass der Papa als Zimmermann arbeitet und die Mama brav daheim bleibt und das Kind großzieht. Und das Ganze wird dann also als „heilig“ dargestellt, daher auch als unantastbar.

Ist nur das Normale heute normal – oder noch viel mehr?

Dabei, so das Argument von vielen, zeige doch die Entwicklung unserer Gesellschaft, dass wir das alles längst hinter uns haben. Sehr viele Familien seien erstens längst nicht mehr fromm, und zweitens gebe es das klassische Bild von Mama, Papa, Kind oder Kindern immer weniger. Dafür gibt es Patchwork, Kinder als Geschwister verschiedener Elternpaare, die sich in verschiedenen Variationen zusammenfinden. Es gibt viele Alleinerziehende, auch viele Singles, es gibt schwule und lesbische Paare, mit und ohne Kinder. Es gibt auch Familien, in denen mehr als zwei Erwachsene die Elternrolle übernehmen. Und all das, so sagt man, stehe doch mindestens gleichberechtigt neben dem klassischen und vor allem noch religiös geprägten Bild von der ach so heiligen Familie. All dieses andere sei inzwischen ebenso normal, deshalb soll nicht ein einziges Modell die Norm sein für alles andere.

Gibt es nur Mann und Frau?

Dazu kommt: Ist es heute überhaupt eindeutig, wer Mann oder Frau ist? Gibt es nicht in der Gesellschaft eine einflussreiche Gender-Bewegung, die uns verstehen lassen will, dass es längst nicht mehr nur Männer und Frauen gibt. Vielmehr gibt es jetzt auch in unserem Land vom Verfassungsgericht bestätigt, die Möglichkeit, sich im Geburtenregister weder als männlich noch als weiblich, sondern als „divers“ eintragen zu lassen. Und auch deswegen so sagt man, sei das überlieferte Bild einer traditionellen Familie heute überholt und deshalb solle man damit auch nicht Druck ausüben auf Menschen, die anders sind und anders leben wollen.

Oster beginnt seine Predigt mit der Positionierung, dass es für katholisch sozialisierte Menschen selbstverständlich sei, von der heiligen Familie zu sprechen und verweist auf eine diffuse Gruppe „von nicht wenigen Menschen“ in der Gesellschaft, für die diese Bezeichnung anstößig klinge. Dies stellt er deshalb als thematisierungsbedürftig dar, weil er klar zu machen versucht, dass die heilige Familie (1) als „Vorbild für die christlichen Familien“ dargestellt werde und (2) die Kritiker*innen deutungsmächtige Akteur*innen in der Gesellschaft seien, „die heute die politische und mediale Debatte bestimmen“. Seine Argumentation skizziert Kritik am katholischen Familienbild damit als Angriff mächtiger gesellschaftlicher Akteur*innen auf den identitären Kern der eigenen Gruppe und der durch katholische Sozialisation angeeigneten Normvorstellungen und Überzeugungen. Indem die eigene Gruppe bestimmt wird, die Kritiker*innen hingegen diffus aber mächtig gezeichnet werden, wird ein bedrohliches dichotomes Szenario (die Anderen gegen uns) entworfen. Die Kritik an diesem Familienbild wird nachfolgend von Oster dekonstruiert, ohne diese nachvollziehbar aufzugreifen, wodurch eine echte Auseinandersetzung sowohl für Oster als auch die Zuhörenden unmöglich wird. Es scheint ihm im Kern nicht um die echte Auseinandersetzung, sondern um eine insofern populistisch (Decker 2018) gezeichnete Freund-Feind-Argumentation zu gehen, in der es den Kritiker*innen nur um einen Angriff auf die christliche Familie und nicht um legitime Äußerungen gehe.

Auch in der Dekonstruktion der Kritik bedient sich Oster immer wieder dem populistischen Narrativ der diffusen Gruppe von Kritiker*innen mit großem gesellschaftlichen Einfluss und klarer manipulativer Agenda, etwa, wenn er fragt: „Gibt es nicht in der Gesellschaft eine einflussreiche Gender-Bewegung, die uns verstehen lassen will, dass es längst nicht mehr nur Männer und Frauen gibt.“ Deren gesellschaftliche und politische Macht verdeutlicht er etwa an der Einführung der Kategorie „divers“.

Oster wendet sich wiederholt direkt an die Gläubigen und macht sie damit zum Teil seiner Deutungen, sich selbst zum Fürsprecher dieser ganzen Gruppe und kollektiviert damit auch seine Erzählung in der er ein zunehmendes Bedrohungsszenario zeichnet:

Wir sehen, liebe Schwestern und Brüder, wie sehr sich in wenigen Jahren die Welt verändert hat, wie sich unsere Gesellschaft verändert hat – im Blick auf das, was Familie und Zusammenleben heißt. Und viele erfahren, dass sie ins Abseits geraten, wenn sie einfach nur an ihrem katholischen Glauben festhalten wollen – mit dem auch vom Glauben her gewohnten und uns überlieferten Blick auf Familie. Nicht wenige von uns fühlen sich mit diesem Blick inzwischen auch politisch eher heimatlos. Weil sie erleben, wie das, was von ihnen als gewohnt oder normal empfunden wird, inzwischen von solchen politischen Kräften vereinnahmt wird, die andererseits nicht automatisch mit christlicher Menschenfreundlichkeit gegenüber jedem Menschen glänzen.

In der polemischen Zuspitzung der Kritik am katholischen Familienbild suggeriert Oster, dass die sogenannte „klassische“ Familie an sich in Frage gestellt und Familien untersagt werde, ein „traditionelles“ Familienbild zu leben. Seine Argumentation funktioniert, indem er die Abwertung von diesem Bild abweichender Familienmodelle und Identitäten, auf die die Kritik an konservativen katholischen Positionierungen zielt, verschweigt und Kritik an klerikalen Positionierungen als Angriff auf die einzelnen Gläubigen und ihre Lebenswelten umdeutet. Queerfeindliche Äußerungen und Positionierungen, auf die sich Kritik i. d. R. bezieht, werden von ihm als „einfach nur an ihrem katholischen Glauben festhalten“ banalisiert. Auch diese Passage durchzieht die populistische Diffamierung der Kritiker*innen, die auch über ihre aus Sicht von Oster falschen Argumente und ihr Fehlen „christlicher Menschenfreundlichkeit“ als charakterlich mindestens zweifelhaft dargestellt werden. Damit wird das Agieren der eigenen Gruppe gegenüber den äußeren Anderen moralisch überhöht. Gleichsam wird auch hier deren Macht herausgestellt, die es ihnen ermöglicht habe, innerhalb kurzer Zeit Welt und Gesellschaft zu verändern und katholische Gläubige anzugreifen und im Diskurs zu isolieren. Mindestens im Subtext schließt Oster hier an das Bild der verfolgten christlichen Minderheit an, das im Bewusstsein der katholischen Kirche historisch verankert ist.

2.2 Biologische „Fakten“ gegen ideologische Argumente

In der Predigt selbst, wie auch in der AntwortFootnote 8 auf den offenen Brief des LSVD Bayern begegnet Oster der Kritik an der normativen Ausdeutung der Überzeugung von Zweigeschlechtlichkeit mit einer als biologisch gerahmten Argumentation. Zunächst nur biologische Argumente anführend, die seine Argumentation stützen, wechselt er sogleich die Ebenen und schließt eine moraltheologische Deutung an, wenn er feststellt, dass es biologisch vereinzelt „tatsächlich so genannte Intersexualität gibt“, diese aber als fehlerhaft ausweist:

Und dort, wo es tatsächlich so genannte Intersexualität gibt, dort hat die Natur die Variante eines Menschen hervorgebracht, dem etwas fehlt, nämlich die klare Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechter. Und damit fehlt so einem Menschen fast immer auch die Fähigkeit, sich fortzupflanzen. All das liegt wohl einfach daran, dass auch unsere Schöpfung nicht vorhersehbar fehlerlos wirkt. Und so wie ausnahmslos jeder Mensch, so ist auch die ganze Schöpfung nicht mehr ganz heil, ist mit dem Menschen auch der Vergänglichkeit unterworfen. Und in ihr ereignen sich Abweichungen von normalen Prozessen, die uns fragend zurücklassen. Und so kommt es vor, dass Menschen geboren werden, die einen Mangel leiden, etwa wenn jemand blind geboren wird oder mit einem Herzfehler, oder mit einer anderen Beeinträchtigung. Und so wie solche Beeinträchtigungen nicht einfach zum gewöhnlichen Verlauf natürlicher Prozesse gehören, die wir kennen und erwarten, so erwarten wir bei einer Geburt auch nicht Menschen, die biologisch keine klare Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter haben – auch wenn es das in seltenen Fällen tatsächlich gibt. Solche Menschen sind damit aber aus meiner Sicht nicht ein eigenes drittes Geschlecht.

Indem Oster sich zunächst auf biologische Fakten beruft, nutzt er die Autorität wissenschaftlicher Argumentationen, wodurch alle nicht faktizistischen und/oder naturalistischen Formen von Kritik als ideologische Verblendung kritisierbar werden. Er wechselt, ohne dies erneut zu markieren, in eine moraltheologische bzw. ethisch-normative Argumentation, in der er aus wissenschaftlicher Perspektive unzulässig aus dem, was quantitativ häufiger auftritt, Aussagen darüber trifft, wie es sein soll. In diesem Sinne begeht er einen logischen Fehlschluss der Vermengung dessen, was ist, und dessen, was sein soll. Diese ist umso weniger nachvollziehbar, als dass Oster sich bewusst sein muss, dass er in seiner Funktion als Bischof als moralische Instanz für die Gläubigen fungiert.

In Nutzung der Autorität wissenschaftlicher Aussagen urteilt der Theologe Oster, intersexuelle Menschen seien mangel- und fehlerhaft, weil ihnen etwas fehle, was normalerweise vorhanden sein müsste. Oster verschiebt damit das ethisch-normative Anliegen queerer Menschen auf Gleichbehandlung und Freiheit von Diskriminierung, indem er ihre Kritik auf eine andere Ebene verschiebt, auf der er glaubt, ihr argumentativ begegnen zu können, um dann in seinen Schlussfolgerungen wieder auf die Ebene ethisch-normativer Aussagen zu wechseln. Durch das wiederholte Changieren zwischen den Argumentationsebenen lässt er die Grenzen zwischen wissenschaftlichen Argumenten und Glaubensaussagen mit normativen Orientierungen unklar werden und kann damit rhetorisch normative Sätze unter dem Dach wissenschaftlicher Rationalität plausibilisieren.

Er attestiert intersexuellen Menschen darüber hinaus ein Leiden, indem er eine Analogie zwischen Intersexualität und anderen angeborenen „Beeinträchtigungen“ wie Herzfehlern oder Blindheit zeichnet, bei denen er sich sicher ist, dass sie für alle nachvollziehbar als solche gedeutet werden. Er blendet dabei aus, dass diese jeweils – mindestens in Bezug auf Behinderungen und Intersexualität – eben nur aus (s)einer hegemonialen Perspektive als Mangel erscheinen, die jeweils gemeinten Personen dies für sich aber gänzlich anders sehen können. Oster gelingt es damit nicht nur, biologistisch intersexuelle Menschen als „mangelhaft“ auszuweisen, sondern auch auf dieser Grundlage ein scheinbar objektives Leiden auszumachen, das sich – weil es als biologische Tatsache daherkommt – auch nicht durch Positionierungen intersexueller Menschen selbst wiederlegen lässt. Auch die Forderung nach einem dritten Geschlecht, lässt sich damit zurückweisen, weil es sich nicht um eine dritte Kategorie handele, sondern eben um eine Fehlerversion der beiden anderen.

Oster delegitimiert unter Vorwegnahme biologistisch verschleierter Moralaussagen das Eintreten von queeren Menschen in den Diskurs und die Reklamation einer eigenen Positionierung. Durch das Auftreten der moralischen Instanz des Bischofs als wissenschaftlichem Wahrheitssprecher immunisiert sich Oster gegen die Aushandlung von Positionen innerhalb des ethisch-normativen Feldes sozialer Normen, die queere Menschen in ihrer Kritik an konservativen Positionen zu beanspruchen versuchen.

Oster schließt an diese Kritik eine Versicherung an:

Und selbstverständlich bedeutet das keinerlei Beeinträchtigung ihrer Würde als Menschen und ihrer Personenrechte.

Indem Oster betont, dass er intersexuellen Menschen mit seiner Argumentation, sie seien fehlerhaft geboren, nicht ihre Menschenwürde oder „Personenrechte“ abspreche, kleidet er seine Abwertungen in ein liberales Gewand, nach dem bestimmte Rechte eben auch denen zustehen, die unvollkommen und abweichend sind. So kann er ihnen zugstehen, gleichwertig zu sein und gleichsam in Kauf nehmen, dass sie sich minderwertig fühlen.

Oster belässt es nicht bei transsexuellen Personen, er führt seine biologistische Argumentation auch in Bezug auf Trans*personen und Homosexuelle aus. Auch hier folgt diese dem gleichen Schema, indem zunächst biologische Argumente vorgebracht werden, die dann mit theologischen und normativen Schlussfolgerungen vermischt werden. So schreibt er in Bezug auf Trans*personen:

Was ich aber aus der Sicht des Glaubens und der natürlichen Prozesse zu bedenken geben möchte, ist Folgendes: Ich habe noch von keinem Fall gehört, dass durch Operation oder Hormontherapien wirklich eine ganze Umwandlung des Geschlechtes stattgefunden hätte. Also so, dass vormals eine biologisch weibliche Person, die eine Gebärmutter hat und Eizellen produziert hat, nun ein Mann würde, der nun Samenzellen produziert – und umgekehrt. Das heißt, auch eine äußere Angleichung an das neue, gewünschte Geschlecht, etwa durch Operation, wird im Grunde immer mit der Schwierigkeit belegt bleiben, dass das nie vollständig gelingen kann. Und dass es daher in einer gewissen Weise auch unvollständig bleiben muss. Was das dann aber für die Ausgangsfrage – Bin ich richtig in meinem Körper? – bleibend bedeutet, das kann ich bestenfalls erahnen.

Auffällig ist hier schon zu Beginn die erneute Suggestion einer selbstverständlichen Analogie zwischen der Perspektive „des Glaubens und der natürlichen Prozesse“. Weil Trans*personen seines Wissens nicht vollständig funktionsfähig Mann oder Frau werden, delegitimiert dies, so seine Argumentation, auch jede Kritik an der Unangreifbarkeit des propagierten „traditionellen“ heteronormativen Familienbildes. Weil es in der Argumentation Osters entsprechend nur zwei von Gott und der Natur geplante Seinsformen (als Mann oder Frau) gibt und keine medizinische Operation „wahrhaft“ die andere Seinsform erreicht, erzeugt er das Bild einer „Verunstaltung“ eines eigentlich Intakten zu einem Mängelwesen.

In Bezug auf Homosexualität leitet Oster seine Argumentation damit ein, dass er betont, „sehr beeindruckende Menschen“ zu kennen, „die homosexuell empfinden“ und trennt an dieser Stelle seine Kritik von den einzelnen Personen. Er formuliert hier vorsichtiger und zeichnet Homosexualität damit als grundsätzlich mit einem ehrbaren Leben vereinbar. Hier zielt seine Argumentation auf die Trennung zwischen „Neigung“ und „Ausleben dieser Neigung im sexuellen Akt“. Oster äußert zwar zumindest Verständnis dafür, dass homosexuelle Menschen unter der kirchlichen Lehre leiden, die das Ausleben als Sünde verurteilt, hält sie aber für richtig:

Und dennoch sagt die Kirche auch, dass nicht die Neigung selbst, aber das Ausleben dieser Neigung im sexuellen Akt nicht richtig ist, dass es Sünde ist. Dass das schwer zu verstehen ist, kann ich ehrlich nachempfinden. Ich kenne aber auch Menschen, die obgleich sie homosexuell empfinden, in sich spüren, dass die Kirche mit ihrer Lehre trotzdem recht hat. Sie spüren, dass bei diesem Akt für sie etwas nicht passt. Und sie bemühen sich deshalb um ein Leben in Enthaltsamkeit – und gleichzeitig um die intensive geistliche Verbindung mit Christus. Auch davor habe ich tiefen Respekt und halte es für richtig. Aber zugleich sehe ich, dass andere Homosexuelle so etwas weder verstehen können, noch wollen; oder sie fühlen sich mit der Forderung der Lehre schlicht überfordert.

Das Leid, so argumentiert er, wird zwar erst anhand der Schwierigkeiten mit der kirchlichen Lehre erfahrbar, ist aber unumgänglich, wenn die homosexuellen Menschen nicht in Sünde leben wollen. Das Leben in Sünde ist dabei für ihn unumstößliches, objektives Faktum, das nur für manche nicht erfassbar ist, obwohl es durch ein Leben im Einklang mit der Kirchenlehre als falsch erfahrbar werden kann. Die kirchliche Lehre wird hier nicht als subjektive Überzeugung mit Alternativen, sondern universelles Gesetz erfasst, das auch diejenigen betrifft, die es nicht anerkennen wollen oder können. Durch die Unterscheidung von homosexuellen Menschen, die dies spüren, und jenen, die es „weder verstehen können noch wollen“, führt Oster eine Trennung zwischen zwei Gruppen von Homosexuellen ein, von denen diejenigen überhöht werden, die einen Zugang zur Erfahrung des „Falschen“ erreicht haben. Auch hier wird die Ursache für dieses Leid nicht in den sozialen Umständen, sondern in den natürlichen Gegebenheiten verortet, weshalb er sich selbst und die Aussagen anderer Kirchenvertreter vor Kritik immunisiert.

2.3 Liebe und Akzeptanz als Ausdruck liberaler christlicher Nächstenliebe

Oster versichert in seiner Predigt, dass er es als zentral erachtet, allen Menschen unabhängig ihrer sexuellen Identität respektvoll und mit Liebe zu begegnen und unterstreicht damit, dass er ihnen keine Rechte abspricht oder ihr Menschsein in Abrede stellt. Er warnt auch davor, sich durch das Aufwachsen in einer „normalen“ Familie „im Heil“ zu wähnen. Er verbindet hier liberale Einstellung, Deutung christlicher Nächstenliebe und Selbstkritik, allerdings wiederum ohne auf die Anliegen queerer Menschen einzugehen und ihre Position ernst zu nehmen. Damit zielt er zwar auf Anerkennung ihrer Existenz, jedoch nicht auf Anerkennung ihrer Forderungen respektive Positionierungen.

Teil dieser Auffassung ist es, dass die Gläubigen in einen Dialog mit denen eingehen sollen, die am Rand stehen, die ausgegrenzt sind. Dieser Dialog, auch das wird deutlich, kann aber nicht von der gemeinsamen Verständigung und Suche nach Wahrheit geprägt sein, sondern von der festen Annahme, die richtige Wahrheit zu kennen, und der Hoffnung, sie den anderen näher bringen zu können. Das Dialogangebot folgt in diesem Sinne einer missionarischen Grundidee. Dialog ist es in diesem Sinne aber nicht, wenn man diesen als wechselseitigen Verstehens- und Aushandlungsprozess und prinzipiell offen versteht. Dabei wird aus der Gesamtanalyse deutlich, dass die Positionierung Osters selbst zu dieser Konstruktion von LGBTI*Q-Personen als Ausgegrenzte beiträgt, derer man sich dann aufgrund ihrer randständigen Position zuwenden solle.

3 Conclusio – Einordnung der Rhetoriken und Argumentationsmuster

In der analysierten Predigt wendet sich ein Bischof als moralische Instanz an die Gläubigen. Mit Bezug auf biologistische und pseudowissenschaftliche Argumente entwirft er dabei ein dichotomes Die-gegen-uns-Schema, bei dem jede Kritik als Angriff einer diffusen aber mächtigen Interessengruppe auf den Kern katholischer Identität und die Lebensweisen der Gläubigen gezeichnet wird. Während die eigene Gruppe als moralisch überlegen ausgewiesen wird, werden die Anderen im Außen als manipulative, mächtige Akteur*innen gezeichnet, die Gesellschaft und Welt verändern und die Existenz der Gläubigen und ihre Überzeugungen bedrohen, sie angreifen und im Diskurs isolieren. Die Predigt weist damit Kennzeichen und Stilmittel populistischer Diskursstrategien auf (Decker 2018). Unter Rückgriff auf biologistische Argumentationsmuster werden moralische Aussagen verschleiert und die Kritik queerer Menschen und deren Eintreten in den Diskurs als ideologische Verblendung ohne logische Grundlage zurückgewiesen.

Oster nimmt in seiner Predigt selbst die Kritik vorweg, man werde ihn zu Unrecht in eine „falsche Ecke“ stellen und baut damit dem Vorwurf des (Rechts‑)Populismus vor. In der Analyse der Predigt wurde tatsächlich auch auf populistische Stilmittel verwiesen, die über die gesamte Predigt hinweg identifiziert werden können. Diese bestehen in …

  1. 1.

    einem dichotomen Freund-Feind-Schema,

  2. 2.

    der Figur einer mächtigen, diffusen Elite, der die eigene Gruppe als Einheit gleicher Interessen, Ansichten und Lebensweisen gegenübergestellt wird,

  3. 3.

    der partiellen moralischen Überhöhung der eigenen Gruppe gegenüber den identifizierten „Anderen“,

  4. 4.

    der Zeichnung einer existentiellen Bedrohung für die eigene Lebensweise,

  5. 5.

    der reduktionistischen Simplifizierung der Argumente der Kritiker*innen und Banalisierung der kritisierten Standpunkte

  6. 6.

    und dem zumindest in Teilen angedeuteten antipluralistischen Alleinvertretungsanspruch zur Wertung des „falschen“ Verhaltens einiger homosexueller Menschen (Decker 2018; Lob-Hüdepohl 2018, S. 243).

Entgegen Osters Behauptung bezieht sich die Kritik populistischer Elemente aber nicht auf das Festhalten an oder das Leben eines christlichen Familienbildes durch die Gläubigen, sondern auf den rhetorischen Stil und die Argumentationsmuster seiner Predigt selbst. In Bezug auf die Lehre ist erwartbar, dass er sich als hoher Kirchenvertreter nicht gegen die offizielle Position der katholischen Kirche stellen wird, die zwar kritisiert wird, der aber kaum pauschal Populismus vorgeworfen werden kann. Sie bietet lediglich Anschlusspunkte für (rechts)populistische Vereinnahmungen bzw. Umdeutungen (Lob-Hüdepohl 2018). Anhand der Analyse werden weder Oster selbst noch die Gläubigen „in eine Ecke gestellt“, sondern Elemente populistischer Rhetoriken in seiner Predigt identifiziert.

Oster baut rhetorisch im ersten Teil seiner Predigt eine diffuse Gruppe feindlicher, mächtiger Kritiker*innen auf, die er als bedrohlich für die Gläubigen und deren Lebensweise charakterisiert. Durch die damit verbundene Überhöhung der eigenen Position wirkt der Hinweis, dass in der „normalen“ Familie aufzuwachsen und in die Kirche zu gehen, nicht ausreiche dann wie Selbstkritik, obwohl er nur darauf hinweist, dass man auch der Lehre folgen muss. Er bedient sich in seiner gesamten Argumentation dem tradierten LGBTI*Q-feindlichen Narrativ des „unnatürlichen“, biologisch fehlerhaften oder unvollständigen Menschen, der zwar gleichrangig, aber mangelhaft ist, an diesem Mangel zu leiden hat und ihn irgendwie kompensieren muss (Eribon 2019). Leiden wird dabei ausschließlich auf eine biologische Ursache, auf ein unhintergehbares Faktum zurückgeführt, weshalb soziale Umstände, auf die queere Menschen und auch sozialwissenschaftliche Analysen (Butler 2006; Eribon 2019; Kleiner 2018) immer wieder hingewiesen haben, ausgeblendet und negiert werden. Gerade zu jenen sozialen Ursachen des Leidens trägt Oster mit seiner Predigt bei. Zugleich werden Aussagen und Maßnahmen, die das biologische Leid kompensieren sollen und dabei soziales Leid hervorrufen, indirekt legitimiert. In seiner Strategie, Äußerungen queerer Menschen mit biologistischen Argumenten zu begegnen, also pauschal jede Vorstellung einer Differenz zwischen sozialem und biologischem Geschlecht zurückzuweisen, schließt die Predigt an Positionen des „Anti-Genderismus“ (vgl. u. a. Hark und Villa 2015) an. Anti-Genderismus meint dabei „eine Abwehr gegen Gender, beziehungsweise gegen das, was diesem Begriff unterstellt wird. Unterstellt wird, Gender stehe für eine nicht natürliche, damit also post-essentialistische Fassung von Geschlecht (und Sexualität)“ (Hark und Villa 2015, S. 8). In Bezug auf Homosexualität wird dieses Narrativ durch die moralische Beurteilung der Handlungsweisen ergänzt. Dabei wird zwar eingestanden, dass nicht alle homosexuellen Menschen diese Moralvorstellungen anerkennen, gleichwohl aber betont, dass sie davon dennoch nicht ausgenommen sind und zwischen jenen unterschieden, die das „Falsche“ erkennen und jenen, die dies nicht können oder nicht wollen.

Oster, der als moralische Instanz spricht, kann daher in liberalem Duktus Rechte zusichern und anerkennen, dass nicht alle den katholischen Lehren folgen – anhand der Abwertung queeren Lebens durch Subjektivierung als Mangelwesen reproduziert er aber zugleich das Leid, auf das in der Kritik immer wieder eingegangen wird, ohne es als solches anzuerkennen. Da er innerhalb einer konservativ-katholischen ethischen Ordnung argumentiert, reicht es aus, queeres Leben als sündhaft darzustellen, da sich das Handeln innerhalb dieser Ordnung allein auf die Vermeidung und Kompensation von Sünden auszurichten hat. In diesem Sinne spricht er über queere Menschen, die sich weigern, sich der heteronormativen Ordnung zu fügen, ohnehin das schärfste, ihm zur Verfügung stehende Urteil. Für gläubige Christ*innen stehen dann gleiche Rechte im kurzen Diesseits, der Verurteilung als Sünder*innen im unendlichen Jenseits gegenüber.

Sein Narrativ und die darin eingebetteten Abwertungen queerer Menschen sind daher liberal in Bezug auf die Auffassung, dass es unterschiedliche Lebensweisen und Vorstellungen vom richtigen Leben gibt, aber nicht in der Weise, dass diese als gleichrangig angesehen werden. Das verteidigte Bild der „heiligen Familie“ wird von ihm mit dem Anspruch auf moralische Geltung anderen Vorstellungen übergeordnet. Kritik an diesem moralischen Alleinvertretungsanspruch in Form von Alternativen und Selbstansprüchen queerer Personen werden entsprechend als Angriff und Existenzbedrohung diffamiert.

Seine Strategie des Verschleierns normativer Wertaussagen in liberalem Gewand zur Verschiebung der Kritik von einer ethischen, auf eine biologische Ebene behält Oster so auch in der Antwort auf den Brief des LSVD Bayern bei. Auch hier gesteht er queeren Menschen nicht zu, selbst einschätzen zu können, ob seine Aussagen soziales Leid verursachen, sondern lässt wiederum nur biologische Argumente gelten, die er dort noch einmal wiederholt. Durch diese Argumentation kann er ihnen zugestehen, gleichwertig zu sein und gleichsam mit seiner Rhetorik der Unvollständigen, Beeinträchtigten in Kauf nehmen, dass sie sich minderwertig fühlen. Indem er diejenigen, die für die Gleichberechtigung queerer Subjektivitäten kämpfen bzw. für sich selbst Anerkennung einfordern, als Bedrohung der „heiligen Familie“ skizziert, gefährdet er all jene, die nicht dem von ihm gezeichneten Ideal entsprechen können (Riegel 2017; Tuider und Timmermanns 2015) und macht sie zum Ziel der Deutungs- und Kulturkämpfe.

4 „Liberale“ LGBTI*Q-Feindlichkeit? Einbettung LGBTI*Q-feindlicher Abwertungen in liberale Narrative als kulturelle Brücken zum Rechtspopulismus

Falsch wäre es, anhand der Analyse von liberaler LGBTI*Q-Feindlichkeit zu sprechen; deutlich wird vielmehr, dass sich Abwertungen von LGBTI*Q-Menschen in liberale Narrative einfügen, in denen vordergründig zwar ein tolerantes Gesellschaftsbild gezeichnet wird, gleichwohl aber Muster gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bzw. problematische Ablehnungskonstruktionen in Bezug auf queere Menschen in Anschlag gebracht werden (Heitmeyer 2018; Thole 2020). Dadurch werden die Abwertungen keineswegs negiert, sondern eher transformiert, reproduziert und anschlussfähiger für rechtspopulistische Narrative (Decker 2018). Der Theologe Andreas Lob-Hüdepohl (2018) hat bereits deutlich gemacht, dass konservative christliche Ablehnungs- und Exklusivitätsmuster als Anschlusspunkte für rechtspopulistisches Denken fungieren können. Hier nennt er explizit etwa feindliches Denken gegenüber Homosexuellen, aber auch den Alleinvertretungsanspruch christlicher Heilslehre (Lob-Hüdepohl 2018). Dabei sollte klar sein, dass konservativ-christliche Deutungsmuster nicht per se rechtspopulistisch sind, sie können aber eben „kulturelle Brücken“ für rechtspopulistische Diskursstrategien bieten.

Anhand der Aussagen von Erika Steinbach, Friedrich Merz und Annegret Kramp-Karrenbauer lässt sich zeigen, dass diese Verknüpfung von Ablehnungskonstruktionen mit einer Figur liberaler Offenheit kein Alleinstellungsmerkmal christlich-theologischer Rhetorik ist, sondern darüber hinaus anschlussfähig wird. Diese eigentümliche und zunächst paradox erscheinende Parallelität scheinbar toleranter und gleichzeitig ablehnender Deutungen zeigt sich auch in den Ergebnissen der Leipziger Autoritarismus Studie aus dem Jahr 2020 (Decker und Brähler 2020). Hier stimmten zwar insgesamt 78,6 %, also mehr als dreiviertel der Befragten, der Aussage zu, dass Homosexualität „etwas völlig Normales“ sei, gleichzeitig findet aber auch die Aussage „Ich finde es ekelhaft, wenn sich Homosexuelle küssen“ die Zustimmung von 35,1 % der Befragten und damit von mehr als einem Drittel (Decker et al. 2020, S. 67).

5 Queerfeindlichkeit als Herausforderung für sozialpädagogisches Handeln

Der Raum, den nicht nur Oster adressiert – Familie – ist auch Ort des Aufwachsens und der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, die sich als nicht mit der heteronormativen Vorstellung übereinstimmend wahrnehmen können. Innerhalb der Kultur- und Deutungskämpfe um Gender und Familie werden die Familien selbst dabei immer deutlicher zum Fokus der Agitationen und zu umkämpften Räumen. Sie sind wichtige Orte der Sozialisation, der Vermittlung und Aushandlung sozialer Normen und der Subjektivierung von Kindern und Jugendlichen, innerhalb derer soziale Normen in die Deutungs- und Handlungsmuster eingeschrieben werden. Dabei sind auch queere Menschen nicht immun gegen die Übernahme queerfeindlicher Deutungsmuster. Im Falle queerer Jugendlicher kann dies etwa die Einschreibung von Scham in die Selbstdeutungen bedeuten, die vielfach mit queeren Subjektivitäten verbunden sind und deren Bedeutung erst über Versuche der Subversion gegen die eingeschriebene Scham richtig deutlich werden: „Pride“ als internationaler Kampfbegriff für die Paraden, die in Deutschland stärker als Christopher-Street-Day bekannt sind, sind weniger Ausdruck eines Stolzes auf das eigene Sein, sondern der Versuch der Selbstermächtigung, um dieser verinnerlichten Scham etwas entgegensetzen zu können und sich von ihr zu befreien (vgl. hierzu auch Eribon 2019).

Dieses Ankämpfen gegen soziale Normen, die queere Menschen verurteilen, ist dabei vielfach ein existenzieller Kampf. Wird etwa im Falle christlich-konservativen Aufwachsens das Deutungsmuster der Sündhaftigkeit übernommen, das auch Oster anbietet, kann dies Jugendliche in existenzielle Lebenskrisen stürzen und zu verzweifelten Versuchen führen, der heteronormativen Ordnung zu entsprechen oder ihr endgültig zu entkommenFootnote 9. Dabei ist nicht entscheidend, ob es „objektiv“ Möglichkeiten für Jugendliche gibt, sich von den Normen zu befreien, sondern ob die Alternativen für sie aufgrund ihrer Selbst- und Weltdeutungen auch als lebenswert empfunden werden können. So zeigen Studien, dass LGBTI*Q-Jugendliche mit einem vielfach erhöhten Suizidrisiko aufwachsen (Krell und Oldemeier 2017) und dadurch die Frage nach den sozialen Normen für viele im wahrsten Sinne des Wortes existenziell werden können.

Doch auch wenn queere Personen selbst nicht die problematischen Deutungen verinnerlicht haben, werden sie mit den sozialen Normen der anderen konfrontiert, indem etwa queere Familien mit Ausgrenzung und Othering kämpfen (Riegel 2017) und aus sprachlichen Abwertungen körperliche Gewalt gegen LGBTI*Q-Personen folgen kann (Butler 2006) bzw. folgt (Kleiner 2018). Dieser Tatsache und der Verantwortung, die aus bestimmten Rollen resultieren, sollten sich auch Kirchenvertreter bewusst sein.

Auch in Einrichtungen der Kirche wachsen Kinder und Jugendliche auf, werden betreut und erzogen. Zahlreiche Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, etwa Kindertageseinrichtungen, Wohngruppen und Jugendzentren befinden sich in katholischer Trägerschaft. In Osters Funktion für die Deutsche Bischofskonferenz werden diese Handlungsfelder und Einrichtungen Sozialer Arbeit auch explizit als Teil seiner Zuständigkeit genannt. Oster erweist sowohl den dort erreichten Jugendlichen, als auch den Pädagog*innen, die sich um sie kümmern, sie erziehen und betreuen und dafür Sorge tragen sollen, dass sie geschützt sind und sich zu selbstbewussten und glücklichen Menschen entwickeln können, einen Bärendienst. Sofern der Annahme gefolgt wird, dass die von Oster präsentierten Deutungen innerhalb christlich-konservativer Diskurse anschlussfähig sind, dürfte auch die Predigt innerhalb der Diskursräume Gehör finden und zur Reproduktion der queerfeindlichen Narrative beitragen. Dafür spricht, dass Oster als Vorsitzender der Jugendkommission von der Deutschen Bischofskonferenz, dem höchsten Gremium der katholischen Kirche in Deutschland, die Autorität zugesprochen worden ist, sich als theologischer Experte zu Jugendfragen zu positionieren.

Demgegenüber hält die Kinder- und Jugendhilfe vielfach Angebote bereit, die sich zwar nicht durchgehend explizit an queere Jugendliche wenden, aber dafür Sorge tragen müssen, dass queere Kinder- und Jugendliche in allen Einrichtungen geschützt und sicher aufwachsen können. Dies erfordert von den Professionellen, dass sie die besonderen Bedürfnisse und Lebenslagen von queeren Menschen kennen und erkennen, dass sie queerfeindliche Narrative identifizieren und angemessen reagieren und dass sie selbst den verinnerlichten Normen auf den Grund gehen (Sehmer und Thole 2021). Angesichts der Breite und konzeptionellen Vielfalt der Kinder- und Jugendhilfe ist dies eine komplexe, aber nicht unlösbare Herausforderung. Hier sind auch angesichts rechter Vereinnahmungsversuche von Angeboten der Sozialen Arbeit (vgl. u. a. Gille et al. 2021) sich positionierende und kritische Fachkräfte ebenso gefragt, wie konzeptionell und analytisch unterstützende Kolleg*innen in Forschung sowie Aus‑, Fort und Weiterbildung (Höblich 2014) und nicht zuletzt auch Arbeitgeber*innen, die diese Entwicklungen begleiten und fördern. Für das pädagogische Handeln selbst ist es dabei zunächst irrelevant, ob (Sozial‑)Pädagog*innen davon ausgehen, dass aktuell keine queeren Jugendlichen in den Einrichtungen präsent sind. Hier lassen sich Prämissen aus zwei theoretischen Szenarien ableiten:

  1. 1.

    Im realen Status des Nicht-Wissens:

    Da Fachkräfte nie wissen können, ob Jugendliche queer sind oder nicht, auch weil die Jugendlichen sich vielleicht selbst noch unsicher sind oder nicht als solche erkannt werden wollen, müssen alle Angebote so gestaltet werden, dass sie auch den Bedürfnissen queerer Jugendlicher gerecht werden (etwa in Bezug auf den Schutz vor diskriminierenden Aussagen).

  2. 2.

    In einer Utopie der vollständigen Transparenz:

    Selbst, wenn die Fachkräfte genau wissen könnten, dass sich unter den Jugendlichen, die ihre Einrichtung besuchen, keine Jugendlichen befinden, die sich als nicht übereinstimmend mit der heteronormativen Norm erleben, müssten die pädagogischen Räume so gestaltet werden, dass sie die Perspektiven und Bedürfnisse queerer Jugendlicher einbeziehen,

    1. a.

      weil sie Räume der Vermittlung und Aushandlung von Normen und Werten in Bezug auf Geschlechter und LGBTI*Q auch für nichtqueere Jugendliche sind,

    2. b.

      weil die Einrichtungen erst darüber zu Räumen werden können, die zukünftig auch gefahrlos von queeren Jugendlichen angeeignet werden können.