Das Vorhaben, Kinder als eigenständige wie eigensinnige Akteur*innen wahrzunehmen und zu adressieren und kindlichen Perspektiven eine stärkere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, motiviert seit vier Jahrzehnten zunehmend sichtbarer die Forschung zu Fragestellungen der Kindheit, den Bedingungen kindlichen Aufwachsens und zur Sozialisation von Kindern (vgl. Bühler-Niederberger 2019). Im Diskurs um Kinder und Kindheiten und in den Versuchen, diese Lebensphase angemessen theoretisch zu beschreiben, kommt der Frage nach der Rolle der Kinder als Kinder (Olk 2009, S. 153) und danach, welche Position ihnen in der jeweiligen Gesellschaft, aber auch in den Forschungsprozessen und -designs zugeschrieben wird, eine besondere Bedeutung zu. Forschungsansätze der Kindheitsforschung versuchen entsprechend, die Rolle des Kindes neu zu denken und zu operationalisieren. Dies dokumentiert sich unter anderem in der Konzipierung von „Kindern als Akteur*innen“ und dem Versuch, so den aktiven Beitrag der jüngsten Gesellschaftsmitglieder und deren Wirkmächtigkeit auf gesellschaftliche Prozesse hervorzuheben (Prout und James 1990, S. 8). Ohne die Verwobenheit von Kindern in gesamtgesellschaftliche Ordnungen, wie beispielweise Generationen, mitzudenken, sind die entsprechenden Fragen nicht zu klären. Nachdrücklich wird seit Jahren darauf hingewiesen, dass spezifische Forschungszugänge erforderlich sind, um die Perspektiven von Kindern zu erfassen (vgl. u. a. Heinzel 2013) und dabei die Ambivalenzen, die mit dem Konzept von Kindern als Akteur*innen einhergehen, jedoch nicht zu ignorieren (vgl. Betz und Eßer 2016, S. 302). Die Abkehr von einer erwachsenenzentrierten Perspektive auf soziale und pädagogische Wirklichkeiten hin zu einer, die dem Kind, „das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden“ das Recht zusichert, „diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern“ (UN-Kinderrechtskonventionen, Art. 12, Abs. 1), erfordert die Entwicklung von Forschungszugängen, die Kindern ermöglichen, ihre Welt- und Selbstdeutungen zu artikulieren. Der im Titel des hier vorgestellten Forschungsprojekts Kinder als „Stakeholder“ in Kindertageseinrichtungen (KiSte) enthaltene Begriff „Stakeholder“ soll den sich darüber ergebenden forschungsmethodologischen Ansprüchen entsprechen und das Verhältnis der Kinder zu ihrer Einrichtung als mit eigenständigem Interesse an der Gestaltung und Konzipierung der Institution in den Blick rücken. Zugleich sind theoretische, wie empirische Blicke auf Kinder und Kindheiten herausgefordert, zu beobachtende ökonomische wie zweckrationale Vereinnahmungen und Instrumentalisierungen von Kindern und Kindheiten wie auch damit einhergehende gesellschaftliche Optimierungsstrategien kritisch zu reflektieren. Der Anspruch des Forschungsvorhabens KiSte ist entsprechend einerseits, die bislang weitgehend als passiv zu beschreibende Rolle der Kinder im Diskurs um Qualität in Kindertageseinrichtungen und in den Forschungsvorhaben zu thematisieren. Andererseits sind die forschungsmethodologischen Grenzen zu berücksichtigen und die Schwierigkeiten und Herausforderungen der „einfachen“ Perspektivübernahme mitzudenken.

Ausgehend von diesen Überlegungen zielt das Forschungsvorhaben KiSte darauf ab, dass Kinder in Kindertageseinrichtungen ihre Sichtweisen kommunizieren – konkreter: Erstens wird über das Forschungsvorhaben empirisch fundiertes Wissen bezüglich der Sichtweisen auf und Deutungen von Kindertageseinrichtungen durch Kinder generiert. Vermutet wird, dass Kinder keineswegs in einer identischen Form Kindertageseinrichtungen erleben und die Formen, wie sich Kinder Räume und Artefakte aktiv aneignen und gestalten, ebenso unterschiedlich sind, wie die Weisen, Beziehungen zu gestalten und ihnen eine Relevanz zuzuweisen. Angestrebt wird, eine empirisch valide und theoretisch begründete Typologie der – wahrscheinlich komplexen, nuancenreichen und diffizilen – kindlichen Sichtweisen. Zweitens wird angestrebt, das gewonnene Datenmaterial für die Aus‑, Fort- und Weiterbildung von Pädagog*innen – Erzieher*innen und akademisch qualifizierte Pädagog*innen – didaktisch aufzubereiten. In dem zweiten Teilbereich des Forschungsprojekts wird entsprechend dieses Arbeitsvorhabens das erhobene Material unter Bezug auf die Rekonstruktionen des ersten Arbeitsprogramms bearbeitet und Pädagog*innen an Fachschulen und in Studiengängen der Pädagogik der Kindheit vor respektive nach ihrer praktischen Qualifizierungsphase gezeigt und mit ihnen diskutiert. Die kindlichen Perspektiven auf und Deutungen von Kindertageseinrichtungen können so in qualifizierender Intention nähergebracht werden.

Direkt und unmittelbar schließt die geplante Untersuchung an die jüngere Kindheitsforschung an, in welcher von einer kodifizierten Eigenständigkeit von Kindern ausgegangen wird (vgl. u. a. Braches-Chyrek et al. 2011). Im Kontrast zu entwicklungspsychologischen sowie auch klassischen pädagogischen und sozialisationstheoretischen Annahmen werden Kinder als handlungsfähige und teil-autonome Akteur*innen ihrer Sozialwelt verstanden, womit ihren Wahrnehmungen und Interpretationen im Selbst-Welt-Verhältnis Eigenständigkeit und Wirkmächtigkeit zugestanden wird. Kinder sind demnach „nicht nur in der Lage, hilfreiche Informationen zu geben und richtig zu interpretieren, sondern verstehen sogar Aufforderungen in eine kooperative Richtung“ (Tomasello 2010, S. 30). Explizit diese Erkenntnis aufgreifend und das Wissen über die Bilder von Kindern der pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen beachtend (vgl. Kuhn und Neumann 2015; Oehlmann 2012), wird in dem Forschungsvorhaben davon ausgegangen, dass Kinder früh in der Lage sind, sich selbstständig zu positionieren. Zugleich wird reflektiert, dass die sich darin äußernde Autonomie im Kontext der gegebenen „generationalen Ordnung“ unter den Kindern in gegebenen zeitlichen, räumlichen und sozialstrukturellen Bedingungen, also im Rahmen der vorliegenden Asymmetrien, wie Ungleichheitsdimensionen, zu verstehen und zu analysieren sind (vgl. Sünker und Bühler-Niederberger 2014; Betz 2008) und die Gestaltungen sich ebenfalls nicht unabhängig von Normierungen und Normalisierungen vollziehen können (vgl. u. a. Kelle und Mierendorff 2013).

Im Zentrum der Untersuchung stehen ethnographisch grundierte und von Kindern gestaltete Begehungen von Kindertageseinrichtungen. Kinder zeigen mittels von ihnen selbstgeführten Videokameras den Forscher*innen ihre Kindertageseinrichtung und legen damit ihre Sichtweise auf selbige offen. Die Videokamera dient als distanzschaffendes Medium. Die Kinder machen dabei einen Schritt zurück und begeben sich auf die Metaebene, von der aus sie für einige Momente ihre Einrichtung betrachten. Dies schafft einerseits die Möglichkeit einer analytischen Distanz, andererseits verlängert es die Zeit, die sich die Kinder aktiv kognitiv mit der Situation im Sinne eines „stepping back“ und „prolonged involvement“ (Stephenson 2009) beschäftigen. Die Videographien werden von Seiten der Forscher*innen durch dialoggestützte Interviews begleitet, in denen sie sich flexibel auf kindliche Ausdrucksformen einstellen (vgl. Punch 2002). Die Kinder zeigen, filmen und erläutern für sie relevante Orte und Akteur*innen innerhalb der Institution, vorhandene Artefakte, die Infrastruktur sowie pädagogische Praktiken. Die Aufgabe der Forscher*innen ist dabei, den Kindern größtmöglichen Spielraum bei der Auswahl des Gezeigten zu lassen, ihnen die Möglichkeiten zu geben, sich frei zu allen von ihnen als erwähnenswert markierten Sachverhalten, Orten, Personen und Gegenständen zu äußern und während oder nach der Begehung der Einrichtung gezielt Nachfragen zu Erlebtem bzw. Gezeigtem zu stellen. Zur Teilnahme eingeladen werden alle fünf- bis sechsjährigen Kinder der jeweils besuchten Einrichtung.

Die Forscher*innen begeben sich damit auf für sie „fremdes Terrain“ (Friebertshäuser und Panagiotopoulou 2010, S. 304) und erhalten einen Einblick in die Kultur der Kinder, die sich in Abgrenzung zu der von Erwachsenen als „fremde Kultur“ beschreiben lässt (Deckert-Peaceman et al. 2010, S. 72) und in der Kinder nicht als werdende Erwachsene, sondern als „actors in their own rights“ (Borgers et al. 2000, S. 61) anerkannt werden. Das forschungsmethodische Design des skizzierten Vorhabens beruht auf vier forschungspraktischen methodischen Verfahren der Datengewinnung und -auswertung. In einem multimodalen Setting werden ein ethnographischer Zugang, videographische Elemente und Interviews mit Kindern miteinander verbunden und in den methodologischen Ansatz der Grounded Theory (vgl. Glaser und Strauss 1967) eingebettet.

Die Erkundung der „Wirklichkeit des Pädagogischen“ aus Kinderperspektive, von Michael-Sebastian Honig (1999, 2010) als ethnographische Kinderforschung bezeichnet, zielt über die reine Darstellung hinaus auch darauf ab, die subjektiven Perspektiven der Kinder auf pädagogische Gestaltungsmerkmale offen zu legen und damit für die Weiterentwicklung institutioneller Bildungseinrichtungen bearbeitbar zu machen. Empirisch auswertbare Daten werden zum einen aus den von den Kindern erstellten Bildfolgen und zum anderen aus den die Erstellung der Bildfolgen begleitenden Beschreibungen und Argumentationen gewonnen. Der ethnographische Zugang findet sich in der teilnehmenden Beobachtung der Forscher*innen, die es ermöglicht, die Perspektive der Kinder im Vergleich zur Erwachsenenperspektive kontrastiv einzuordnen (vgl. Heinzel et al. 2010; Friebertshäuser und Panagiotopoulou 2010). Durch dieses Vorgehen und das damit generierte Material sollen die Ergebnisse sowohl zur Grundlegung und weiteren Ausdifferenzierung des Forschungsstandes zur Bedeutung von Kindertageseinrichtungen im Aufwachsen von Kindern beitragen, als auch relevante Hinweise für eine qualitative Weiterentwicklung und Professionalisierung der institutionellen Bildungs‑, Erziehungs- und Betreuungsarrangements liefern, indem Wissen über die subjektiven und eigenwilligen Relevanzsetzungen und Bedürfnisse von Kindern zur Bearbeitung zur Verfügung gestellt wird (vgl. Gramelt 2014, S. 457). Außerdem wird im Laufe der Forschungsarbeit reflektiert, ob und inwieweit sich das Forschungssetting eignet, die kindlichen Sichtweisen zu erfassen, welche forschungsmethodischen Anpassungen erfolgen müssen, um die vielschichtigen Ausdrucksformen von Kindern wahrzunehmen und wie flexibel Forschungssetting und Forscher*innen auf die Konfrontationen mit der für sie „fremden“ und in sich heterogenen Kinderkultur reagieren müssen.