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Zückerchen für Arbeitgebende. Sozialstaatliche Anreize zur beruflichen Eingliederung von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen in der Schweiz

Treats for employers. Welfare state incentives as means of promoting the employment of disabled people in Switzerland

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Zusammenfassung

Die berufliche Eingliederung von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen ist ein behindertenpolitisches Ziel, das in den letzten Jahren in vielen OECD-Staaten stärker in den Fokus gerückt wurde. Arbeitgebende gelten hierbei als Schlüsselakteur*innen, da die Entscheidungsmacht bezüglich Anstellungen bei ihnen liegt. Auf Freiwilligkeit beruhende Anreize werden im sozialpolitischen Diskurs als wirksamstes Instrument diskutiert, um Arbeitgebende für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen zu gewinnen. Ihre tatsächliche Wirkung ist jedoch umstritten und bezüglich ihres Einsatzes in der konkreten sozialpolitischen Praxis ist wenig bekannt. Am Beispiel der Schweizerischen Behindertenpolitik beleuchtet der vorliegende Artikel auf der Grundlage einer ethnografischen Studie, wie Eingliederungsinstrumente in der Praxis eingesetzt werden. Die zuständigen sozialstaatlichen Eingliederungsspezialist*innen fassen Arbeitsvermittlung als Verkaufsakt auf. Die finanziellen Anreize nutzen sie als „Zückerchen“, um Arbeitgebende für die Beschäftigung gesundheitlich eingeschränkter Personen zu belohnen oder unterstellte Leistungseinbußen temporär zu kompensieren. Standardisierte Leistungsvorgaben werden dabei nicht in Frage gestellt. Diese Eingliederungsstrategie zielt darauf ab, gesundheitlich eingeschränkte Personen an bestehende betriebliche Strukturen anzupassen und orientiert sich primär an den Bedürfnissen der Arbeitgebenden.

Abstract

The integration of people with health impairments into the labor market is an important goal of disability policy. In recent years it has come into focus in many OECD countries. Employers are seen as key players, because they have the authority to decide on the employment of people with health impairments. In social policy discourse, incentives encouraging the voluntary action of employers are discussed as the most effective means of promoting the employment of people with disabilities. However, their actual effectiveness is disputed and there is little evidence about how the incentives are used sociopolitical practice. This article presents findings from an ethnographic research project about disability policy practice in Switzerland. The integration specialists consider their work as a sales activity and they use the incentives as “treats” for employers, in order to reward them for the employment of disabled people or to temporarily compensate assumed performance problems. In doing so, they do not question standardized performance expectations of companies. This integration strategy aims at adapting people with health impairments to existing organizational structures and mainly follows the needs of employers.

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Notes

  1. Die Beschäftigungsquote von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen beträgt 46,2 % gegenüber einer Beschäftigungsquote von 74,7 % bei Personen ohne Einschränkungen (vgl. http://ec.europa.eu/eurostat/web/products-datasets/-/hlth_dlm020 [Zugegriffen am 06. Juni 2016]).

  2. http://www.behindertenrechtskonvention.info/inklusion-3693/ [Zugegriffen am 29. August 2016].

  3. Eva Deuchert und Helga Liebert (2012) stellen allerdings am Beispiel von Österreich eine moderate Wirksamkeit von verpflichtenden Quoten zur Beschäftigung von Behinderten fest.

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  5. Wir verwenden den Behinderungsbegriff im Folgenden im sozialversicherungstechnischen Sinn, d. h. für diejenigen Personen, welche Leistungen der IV beziehen.

  6. Dieses Taggeld beläuft sich in der Regel auf 80 % des vor der Maßnahme erzielten Einkommens (https://www.ahv-iv.ch/p/4.02.d [Zugegriffen am 05. September 2016]).

  7. Die Steigerung des Eingliederungserfolgs durch die 5. Revision beläuft sich je nach Studie und gemessenen Maßnahmen auf 0 bis 5 % (vgl. Guggisberg et al. 2015, S. 50 ff.; Bolliger et al. 2012, S. 126 f.). Die Neuberentungsquote wurde in den letzten 10 Jahren halbiert (BSV 2015).

  8. Je nach IV-Stelle variieren die Bezeichnung der Organisationseinheiten und Eingliederungsfachpersonen bzw. Arbeitsvermittler*innen sowie deren Aufgabenzuschnitt. Wenn wir im Folgenden von Arbeitsvermittler*innen oder Einglieder*innen sprechen, sind damit alle mit Eingliederungs- und Arbeitsvermittlungsaufgaben betrauten IV-Fachpersonen gemeint.

  9. Im Rahmen des Projekts wurden zudem eine ethnographische Fallstudie in einem Unternehmen durchgeführt sowie Interviews in 12 weiteren Firmen geführt. Insgesamt liegen 30 Interviews mit Personen aus der betrieblichen Sozialberatung, Human Resources Management und Führungskräften vor.

  10. Diese Kennzeichnung dient u. a. dazu, deutlich zu machen, dass wir die zum Ausdruck kommenden Haltungen und Wertungen nicht teilen.

  11. Die Entschädigung beträgt CHF 70 pro Tag.

  12. Einen Lohn zu vereinbaren, der unter dem für eine Tätigkeit üblichen Niveau liegt, ist in der Schweiz möglich, da es keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt und der Organisationsgrad der Gewerkschaften vergleichsweise schwach ist. Weniger als 30 % der Beschäftigten haben einen tarifvertraglich geregelten Mindestlohn (vgl. Streckeisen 2012).

  13. In der Schweiz ist das Rentensystem bis anhin vierstufig. Je nach Grad der Erwerbseinbuße werden ¼,- ½,- ¾‑ oder ganze Renten gesprochen. Zurzeit ist allerdings ein stufenloses Rentensystem politisch in Vernehmlassung, das einen stärkeren Arbeitsanreiz schaffen soll (vgl. https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-59736.html).

  14. Bei diesem Namen handelt es sich um ein Pseudonym.

  15. Eine einmalige Zahlung an den Arbeitgeber von 8360 Franken.

  16. Mitnahmeeffekt bezeichnet im Fachdiskurs den negativen Effekt von Anreizen, der dadurch entsteht, dass Zielgruppen die Anreize in Anspruch nehmen für eine Handlung, die sie auch ohne Anreize vollzogen hätten. Dies führt dazu, dass die Maßnahmen wirkungslos sind und trotzdem höhere Kosten entstehen (vgl. Deuchert und Liebert 2012).

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Unter dem Terminus „Arbeitgeber“ werden i. d. R. arbeitgebende Institutionen gefasst. Diese werden zwar sowohl von Männern, als auch von Frauen geleitet, sind aber weitestgehend institutionell gerahmt. Eine Personifikation über das übliche Sternchen* ist daher nur an diesen Stellen notwendig, wo es sich konkret um Arbeitgeber*innen als Akteur*innen handelt. Ansonsten wird die Formulierung „Arbeitgebende“ benutzt, die beide Ebenen miteinbezieht.

Die Studie wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert und ist Teil des interdisziplinären Forschungsprojekts „Berufliche Eingliederung zwischen Invalidenversicherung und Wirtschaft. Zum Wandel der Konventionen und Praktiken der Beschäftigung von Behinderten“. Das soziologische Teilprojekt, aus welchem hier Zwischenergebnisse vorgestellt werden, wird von Prof. Dr. Eva Nadai geleitet. Zum Gesamtprojekt vgl. http;//p3.snf.ch/project-153638.

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Gonon, A., Rotzetter, F. Zückerchen für Arbeitgebende. Sozialstaatliche Anreize zur beruflichen Eingliederung von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen in der Schweiz. Soz Passagen 9, 153–168 (2017). https://doi.org/10.1007/s12592-017-0250-9

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