„Das Ende der Naivität“ – so postulierte schon im Mai 2021 eine Sonderausgabe von Internationale Politik die Zeitenwende in der deutschen China-Politik und rechnete mit der „Wandel durch Handel“-Maxime der vergangenen Jahrzehnte ab. Neu ist die Debatte nicht: Tatsächlich forderten damals bereits zwei der aktuell regierenden Koalitionsparteien lautstark eine härtere Gangart gegenüber dem „Systemrivalen“, während einzig die SPD Signale der Kontinuität nach Peking sandte. Die Paradoxie der deutschen China-Debatte bestand zuletzt eher darin, dass politische Akteur*innen entweder „realpolitisch“ oder „werteorientiert“, auf keinen Fall jedoch „naiv“ wirken wollten, dass daher vor allem Kooperationen in Wissenschaft und Kultur großflächig auf den Prüfstand gestellt wurden, während jedoch große deutsche Unternehmen mit langfristigen Investitionsentscheidungen ihre Abhängigkeit vom chinesischen Markt und seinen politischen Regeln weiter intensivierten.

Nun also ein ganzes Buch zum „Ende der China-Illusion“, verfasst von einer routinierten „China-Beobachterin“ (S. 13), wie sich Janka Oertel, Leiterin des Asienprogramms des European Council on Foreign Relations, selbst bescheiden bezeichnet. Das Schlagwort der „Illusion“ passt besser als „Naivität“, da die Autorin hierdurch gekonnt „argumentative Strohmänner“ (S. 23) herausarbeitet, die in der hiesigen China-Debatte auch entgegen öffentlich verfügbarer Informationen und teils wider besseren Wissens gepflegt werden. So lässt die Autorin etwa deutsche Wirtschaftslenker*innen, die seit Jahren Berichte über die massiven Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang ignorieren oder schönreden, nicht als „naiv“ davonkommen, sondern benennt sie als kurzsichtig profitorientierte Helfer*innen der kommunistischen Führung in Peking, auch bei deren Verbreitung opportuner Narrative über die Stabilität und Effizienz des chinesischen Systems.

Sowohl inhaltlich als auch in Form und Sprache richtet sich das Buch weniger an Leser*innen mit China-Expertise als an politische Entscheidungsträger*innen sowie eine Öffentlichkeit, von der angenommen wird, dass sie primär jene gängigen medialen Narrative kennt, denen Oertel fünf zugespitzte Gegenthesen in Form von Kapitelüberschriften entgegensetzt. Gleichzeitig werden gängige deutsche Stereotype über China frei von der Hand paraphrasiert und ins Absurde gezogen: „schnelle Genehmigungsverfahren, wenig Bürokratie, Infrastruktur wird bereitgestellt und Arbeitskräfte ohne Ende, fantastisch!“ (S. 34). Das ist gut lesbar und unterhaltsam, manchmal aber auch etwas flapsig angesichts der Gravitas, mit der die Autorin die Ernsthaftigkeit des Themas unterstreicht: „Es geht um richtig viel.“

Nach einem eindringlichen Problemaufriss beginnt Kap. 1 mit einer Parforcejagd durch die Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Beginnend mit der Mao-Zeit, an die sich die Autorin durch die „Corona-Antwort der aktuellen chinesischen Führung“ (S. 41) erinnert fühlt, werden das Tian’anmen-Massaker, die wirtschaftlichen Boomjahre mit ihrer erfolgreichen „Simulation des freien Marktes“ (S. 50), Xis Antikorruptionskampagne und Machtzentralisierung, die „Made in China 2025“-Strategie, die Olympischen Spiele („Xi-Putin-Gala“) und schließlich die Null-Covid-Politik abgehandelt, letztere als Beweis, „zu welchem Wahnsinn [die Partei] fähig ist“ (S. 78). Dies ist eine von Oertels zugespitzten und mehrfach wiederholten Kernbotschaften: Die KPCh ist eben kein rational-technokratischer und vorausschauend planender Stabilitätsanker, sondern vor allem ein Risikofaktor für China und die Welt. So spannt das Buch den Bogen von der Corona-Politik über den „Seidenstraßen-Hype“ (S. 96) bis zur Warnung vor einem möglichen Krieg um Taiwan in Kap. 4. Verbunden werden diese Warnungen vor der Unberechenbarkeit der KPCh-Führung und deren Streben nach globaler (Militär-)macht mit der Beobachtung einer rapide sinkenden Kompatibilität zwischen chinesischen und deutschen Entwicklungspfaden. Den Spielraum für „win-win“ (S. 20) sieht Oertel nahezu völlig geschwunden, weshalb sie auch mit dem „Dreiklang, China sei Wettbewerber, systemischer Rivale, aber eben auch Partner“ (S. 190) aufräumen will, der die EU-Politik seit 2019 als Minimalkonsens prägt. So sei China eben auch „kein Partner beim globalen Klimaschutz“ (S. 188), da Pekings konsequent an nationalen Interessen ausgerichtete Klimapolitik vor allem eine Gefahr für Europas Wettbewerbsfähigkeit darstelle.

Das Buch ist ein politisches Manifest, das nicht spart mit scharfer, teils polemischer Kritik an der „Trägheit der demokratischen Masse und [der] Gier der kapitalistischen Eliten“ in Deutschland (S. 27). Oertel versucht sich nicht in Differenzierung, sondern in der Entwicklung eindeutiger Thesen und Handlungsempfehlungen. Wie sie selbst betont, ist „[n]ichts, was in diesem Buch steht, […] geheim. Alle Informationen sind frei verfügbar und zum Teil seit Jahren bekannt“ (S. 254). Auch ohne wissenschaftlichen Anspruch wünschte man sich dennoch manchmal sorgfältiger gesetzte Referenzen und mehr als nur eine Perspektive. Insbesondere wenn es um Global China geht, werden zu oft in den USA und Europa wiederholte Anekdoten zur chinesischen „Schuldenfalle“ im Globalen Süden mit einzelnen Zeitungsquellen belegt (S. 99–101), wobei zudem unformatierte URLs in einem gedruckten Buch als Belege wenig weiterhelfen.

Oertels Verdichtung und schonungslose Zuspitzung, an der man sich im Einzelnen reiben kann, macht das Buch jedoch auch lesenswert. Zumal es trotz der dramatischen Warnung vor einem „Crash in der China-Politik“ (S. 12) nicht in Defätismus mündet, sondern in Ideen für eine neue „Realpolitik für Krisenzeiten“ (S. 246). Eigentlich bekannte Forderungen nach Diversifizierung und „De-Risking“, Konditionalität im Dialog und dem konsequenten Einsatz für eine multilaterale Ordnung werden pointiert neu formuliert und Wege zu deutscher und europäischer Gestaltungsmacht zumindest angedeutet: „Es hat keinen Sinn, deutsche Unternehmen nur freundlich zu bitten, sich doch einmal ihr China-Risiko anzuschauen“ (S. 260). Mit dieser und anderen eingängigen Formulierungen fordert die Autorin die deutsche Politik eindringlich zum entschiedenen Eintreten für demokratische Werte ebenso wie nationale Interessen auf: Schluss mit faulen Kompromissen, Mut zur politischen Regulierung auch gegen Widerstände aus der Wirtschaft, Mut zur Konditionierung hochrangiger politischer Gespräche, Mut auch zur Schaffung alternativer „Ordnungsstrukturen“ jenseits der UN oder der gelähmten WTO (S. 270). Das sind Denkanstöße, mit denen Oertel gerade vor dem Hintergrund der selbstgefälligen deutschen Russland-Debatte vor dem Februar 2022 einen wichtigen Beitrag zur außenpolitischen Debatte leistet.