Egon Bahr gehörte seit den 1960er-Jahren zu den prägenden Persönlichkeiten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Kein Wunder also, dass ihm zum 100. Geburtstag posthum ein umfangreicher Sammelband gewidmet wird. Über zahlreiche persönliche Reminiszenzen aus verschiedenen Perioden im Leben des Journalisten, Ostpolitikers, Diplomaten, Entwicklungshilfeministers, SPD-Generalsekretärs und außenpolitischen Ideengebers hinaus reflektiert im vorliegenden Band ein breites Spektrum von mehr als 50 Autor*innen aus Politik und Wissenschaft, von Edmund Stoiber bis Hans Modrow, mit einem hohen Anteil sozialdemokratischer Weggefährten, die Themen, die Egon Bahr umtrieben, sein vielfältiges Wirken, seine Erfolge und Enttäuschungen.

Zu letzteren würde sicherlich der russische Angriff auf die Ukraine gehören, den er, 2015 gestorben, nicht mehr erlebt hat. Das Verhältnis Bahrs zu Russland ist oft missverstanden worden. Aus seiner vielfach zitierten Formel von der „Unverrückbarkeit“ Russlands ist häufig übergroßes Verständnis für die Interessen Moskaus abgeleitet worden. Bahr war geprägt von Gedankengut, das in der Theorie der Internationalen Beziehungen als Realismus aufgefasst wird. Aber er war, wie Michael Staack in seinem Beitrag berichtet, nicht interessiert an akademischen Theorien. Sein Interesse galt der praktischen Politik, insbesondere Deutschlands.

An erster Stelle stand für ihn dabei zunächst, wie zahlreiche Beiträge zum Sammelband belegen, die Einheit Deutschlands. Dieses Ziel konnte nach seiner Ansicht nur über den Umweg über Moskau als dem militärischen und politischen Dominator Ostberlins erreicht werden. Es bedurfte einer Anerkennung der durch den Zweiten Weltkrieg geschaffenen territorialen Realitäten. Die Herausgeber haben neben Zeitzeugen auch Historiker*innen gewonnen, die kenntnisreich über die Wege und Wehen der Ostpolitik der 1960er- und 1970er-Jahre berichten.

Damit wurde Egon Bahr – auch im Rückblick früherer Kritiker*innen der maßgeblich von ihm geprägten Ostpolitik, von denen einige hier zu Wort kommen – zu einem der wichtigsten Architekten der deutschen Einheit. Kontrovers bleibt, dass er davon überzeugt war, dass diese nur von oben, durch politische Veränderungen in Moskau, aber auch in Ostberlin, gewaltfrei zu erreichen war. Im Beitrag mehrerer Autor*innen aus der ehemaligen DDR wird auch seine Zurückhaltung gegenüber der in den 1980er-Jahren immer lauter werdenden öffentlichen Opposition gegen den Unrechtsstaat thematisiert.

Aus der vornehmlich auf Deutschland gerichteten Ostpolitik wuchs das größere Projekt einer neuen europäischen Sicherheitsordnung. Bevor Egon Bahr dabei zu einem zentralen Akteur wurde, widmete er sich anderen politischen Aufgaben. Seiner Zeit als Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, in der er tatkräftig, aber ohne großen Nachhall agierte, folgten fünf Jahre als Bundesgeschäftsführer der SPD. In letzterer Funktion, mit Willi Brandt als Parteivorsitzendem und Helmut Schmidt als Kanzler, betätigte sich Bahr ebenso als innerparteilicher Diplomat wie Zuchtmeister, um eine auseinanderdriftende Partei zusammenzuhalten. Auch über diese Phasen im politischen Wirken Egon Bahrs enthält der Band aufschlussreiche Berichte.

Ab Ende der 1970er-Jahre begann Bahr, noch als Bundesgeschäftsführer der SPD, sich wieder stärker mit sicherheitspolitischen Themen zu beschäftigen. Er meldete sich mit auch international beachteten Äußerungen zu Nuklearfragen zu Wort, zunächst zur Neutronenbombe und dann zum NATO-Doppelbeschluss. Hans Dahlgren, damals Berater des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme und später Minister in Schweden, beschreibt, wie auf Empfehlung Willy Brandts Egon Bahr zum Mitglied der internationalen Kommission für Abrüstung und Gemeinsame Sicherheit unter dem Vorsitz von Palme wurde. Darauf aufbauend betrieb Bahr, inzwischen Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), die Erarbeitung einer Blaupause für eine umfassende europäische Sicherheitsordnung. Das Vorhaben, an das damalige Mitarbeiter aus dem IFSH erinnern, hatte in einer sich schnell verändernden Phase der internationalen Politik wenig unmittelbare Resonanz. Aber Bahr wurde, wie Daniela Dahn in ihrem Beitrag schreibt, für viele zu einem „zeitgemäßen Nathan der Weise“, dessen sicherheitspolitische Ansichten und Einsichten, die in einer Vielzahl von Interviews, Diskussionsrunden, Publikationen und persönlichen Gesprächen Gehör fanden, vor allem, aber nicht nur in der deutschen Sozialdemokratie, was die im Band vertretenen Autoren aus Westeuropa und den USA, einschließlich Henry Kissinger, bestätigen.

Die Würdigung und Reflektion der sicherheitspolitischen Positionen Bahrs bildet den Schwerpunkt des Buches. Das betrifft an erster Stelle das Verhältnis zu Russland, dessen Einbindung in ein europäisches Sicherheitsgeflecht er für Frieden in Europa als notwendig ansah. Zu diesem Sicherheitsgeflecht gehörten für ihn aber auch die NATO und deren Führungsmacht USA, die er – schon weit vor Trump – zwar für unzuverlässig, aber auf lange Sicht für unersetzbar hielt. Zwar setzte er sich für die Stärkung gemeinsamer (west-)europäischer Verteidigung ein, aber blieb angesichts der immer mal wieder durchbrechenden Großmachtambitionen Frankreichs und Großbritanniens skeptisch. Auch Bahrs mit der Zeit immer drängendere Interventionen zur Nuklearpolitik werden im besprochenen Band umfassend durch deutsche und ausländische Autoren gewürdigt. Sie spiegeln sich auch im Titel des Bandes. Die Herausgeber haben ihn einer Antwort Bahrs auf die Frage entnommen, ob die Welt noch zu retten sei. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Chancen bei 50 % lägen: „Mehr nicht. Aber eine Chance haben wir.“

Die Fülle der Erinnerungen, Impressionen und Analysen bietet ein vielschichtiges, würdiges Bild einer viele Menschen beeindruckenden Person von großer politischer Bedeutung. Die weitaus meisten der Beiträge wurden vor dem russischen Angriff auf die Ukraine verfasst. Reflektionen darüber, inwieweit Bahrs sicherheitspolitische Vorstellungen durch die „Zeitenwende“ in Frage gestellt werden, sind daher in dieser Publikation rar. Aber neben den natürlich zentralen Schriften aus Bahrs Feder liefert dieser Band viele wertvolle Hinweise darauf, warum er in unterschiedlichen Zeiten über Frieden und Sicherheit wie gedacht und in welcher Weise gehandelt hat.