Josef Braml ist einer der renommiertesten deutschen Experten für die US-amerikanische Politik. Als langjähriger Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik beschäftigt er sich seit mehr als zwanzig Jahren intensiv mit US-amerikanischer Innen- und Außenpolitik, und er hat seine kritische Sicht auf das Land in zahlreichen, auch populärwissenschaftlichen, Publikationen dargelegt. In diesen warnt er vor dem zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Zerfall der Vereinigten Staaten und plädiert angesichts einer sich immer mehr auf innere Krisen und die geopolitische Konkurrenz mit China konzentrierenden USA für die unbedingte Notwendigkeit europäischer Eigenständigkeit in wirtschafts- und sicherheitspolitischen Fragen. In diese Kerbe schlägt auch sein neuester, schmaler Band, dessen Titel den Inhalt präzise zusammenfasst und der für ein breiteres Publikum gedacht ist. Statt der Chimäre einer dauerhaften Anbindung an den Hegemonen jenseits des Atlantiks nachzulaufen, so der Autor, sei es an der Zeit, sich von den USA weitestgehend unabhängig zu machen und selbstbewusst europäische Interessen im neuen globalen Wettlauf durchzusetzen.

Illustriert wird dieses Plädoyer mit zahlreichen Beispielen unilateraler US-amerikanischer Vorgehensweisen in militärischen, währungs- und handelspolitischen Fragen oder in der digitalen Ökonomie. Dass sich hier noch einmal die (vermeintliche) transatlantische Eintracht der Epoche des Kalten Kriegs einstellen könnte, ist schwer vorstellbar. Der Autor warnt eindringlich vor dieser und ähnlichen Erwartungen angesichts der zunehmenden Entwicklung des amerikanischen politischen Systems hin zu einer defekten Demokratie (S. 133). Er plädiert schließlich im Schlusskapitel leidenschaftlich für eine Europäische Souveränität und entwirft Leitlinien für eine darauf aufbauende neue Politik. Diese enthalten viele Selbstverständlichkeiten (eine eigenständige EU-Handelspolitik mit kompromissloser Interessenvertretung gibt es schon, wie zahlreiche Forschungen dazu gezeigt haben), teilweise aber auch problematische Forderungen. Beispiel ist der Vorschlag für Deutschland, sich unter dem Schutzschirm der Force de Frappe zu begeben (S. 148): Angesichts der jüngsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich kann nicht automatisch von einer dauerhaften Stabilität im Nachbarland ausgegangen werden.

Grundsätzlich lässt sich jedoch an den Feststellungen in dieser Streitschrift angesichts der vorgelegten Tatsachen wenig aussetzen. Aber: Transatlantischen Illusionen dürften sich inzwischen trotz der Normalisierung der Beziehungen unter Joe Biden kaum noch politische Entscheidungsträger*innen in Berlin hingeben, zumal ihnen die politisch volatile Lage in den Vereinigten Staaten beinahe täglich durch Berichte über die dortigen Wahlzyklen unablässig vor Augen geführt wird und die Möglichkeit einer neuen Ära Trump (oder eines ähnlichen Populisten) allen politisch Handelnden sehr wohl bewusst ist. Insofern rennt der Autor hier offene Türen ein, spätestens seit Angela Merkels berühmter Bierzeltrede 2017, in der sie Europa aufforderte, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, oder seit den Aufrufen des französischen Staatspräsidenten Macron zur europäischen Souveränität, beispielsweise an der Sorbonne 2017.

Der Ukrainekonflikt hat diese grundsätzliche Zielorientierung im sogenannten Kerneuropa, die in einem unablässigen Chorus von Wortmeldungen aus europäischen Hauptstädten und Brüssel wie ein Mantra wiederholt wird, sicher noch unterstrichen: der Teufel steckt allerdings im Detail, wie beispielsweise die Forderung nach einer Fiskalunion, um den Euro endlich als globale Währung und Alternative zum Dollar zu etablieren, zeigt. So ist das gegenwärtige amorphe Europa, welches sich in unterschiedlichen Flexibilitäten integriert, eben nur eingeschränkt als Ganzes handlungsfähig und wird auch weiterhin in vielen Bereichen eine pragmatische Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten finden müssen. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, die transatlantische Freundschaft immer wieder zu beschwören und durch vielfältige Verknüpfungen zu intensivieren, solange man nicht in die transatlantische Illusion zurückfällt (wobei diese wohl häufig eher als Rechtfertigung für eigene Inaktivität angesichts politischer Opportunitätskosten diente, als dass sie Ausdruck unkritischer USA-Vergötterung war).

Der Band ist noch vor der Invasion der Ukraine durch Russland erschienen: So erscheinen manche Ratschläge zu einer Politik der ausgestreckten Hand mit Putins Russland bei gleichzeitiger Politik der Stärke oder die Warnungen vor einseitiger Abhängigkeit von amerikanischer Energie inzwischen problematisch und würden wohl in einer Neuauflage angepasst. Wichtiger wäre allerdings statt des pauschalen Alarmismus in Hinsicht auf die Position Europas in der Zwickmühle zwischen den Supermächten pragmatische und politisch realisierbare Lösungen und Wege für spezifische Probleme zu entwickeln, die dem grundsätzlichen Ziel einer größeren europäischen Eigenständigkeit Schritt für Schritt näherkommen und gleichzeitig die Möglichkeiten zur Kooperation mit den USA und anderen kooperationswilligen Staaten und Regionen ausloten.