Zeitenwende. Dieser Begriff wurde mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sofort zu einem stehenden Begriff. Die internationale Ordnung befinde sich am Scheideweg, da rohe militärische Gewalt als Mittel der Politik sowie das Denken in Macht- und Einflusssphären zurückgekehrt seien in Europa. Dass die regelbasierte, liberale Weltordnung erodiert, ist indes kein neuer Befund. Kaum ein Thema hat in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erhalten als die Krise des Westens und die Genese einer postamerikanischen Welt. Und doch herrscht eine gewisse Ratlosigkeit, wie stabil oder fragil die von den USA geführte und mit ihren Partnern gestaltete Weltordnung eigentlich ist. Dass womöglich nicht nur revisionistische Rivalen, sondern die USA selbst die von ihnen geschaffene liberale Ordnung demontieren könnten, führte die Amtszeit von US-Präsident Donald Trump schonungslos vor Augen.

Der von Florian Böller und Welf Werner herausgegebene und von einer ausgewiesenen Autorenriege getragene Band nimmt eben die Trump-Ära in den Blick und geht der Frage nach, ob die Welt einen „hegemonialen Übergang“ und damit das Ende der US-geführten liberalen internationalen Ordnung erlebt. Die elf Einzelanalysen des Bandes, die unterschiedliche Fallstudien aus den Kernbereichen Sicherheit und Wirtschaft abdecken, werden stimmig eingerahmt von einer konzeptionellen Einführung und den Schlussreflexionen der Herausgeber. Im Mittelpunkt stehen die Wechselbeziehungen zwischen der Führungsmacht USA und (anderen Teilhabern) der liberalen internationalen Ordnung. Die Coronapandemie erzwang sich ebenfalls ihren Platz im Band, und zwar in mehreren Einzelkapiteln und einem dem Schlussteil zugeordneten Beitrag über einen möglichen sino-amerikanischen Machtübergang.

Was den vorliegenden Band von anderen unterscheidet und besonders lesenswert macht, ist erstens die theoretische Verquickung von Hegemonie mit Fragen von Autorität, Legitimität und gestalterischem Akteurshandeln („agency“). Die realistische Schule blickt traditionell auf materielle Machtressourcen. Die Herausgeber definieren Hegemonie breiter: als hierarchische Ordnung mit 1) einer Machtkonfiguration, die dem dominanten Staat erlaubt, Kollektivgüter anzubieten und seine Interessen gegen Widerstand durchzusetzen, 2) gemeinschaftlich akzeptierten Regeln, Normen und Institutionen, die vom dominanten Staat geprägt werden sowie 3) der Akzeptanz einer asymmetrischen Rollenverteilung zwischen der Ordnungsmacht, die führt, und untergeordneten Staaten, die folgen (Böller und Werner, S. 7). Einerseits kann also Hegemonie erodieren, selbst wenn die materielle Spitzenposition des dominanten Staates fortbesteht. Andererseits reicht es für Herausforderer nicht, materiell aufzuschließen, denn ohne Führungsfähigkeit und Folgewillen gibt es nach der Definition keine Hegemonie.

Zweitens lohnt die scharfe Analyse der US-Führungsfähigkeit in der Ära Trump. Zwei der drei inhaltlichen Teile (I „Declining Support: The Domestic Sources of US Hegemony“ und II „Abdication of Leadership: US Foreign Policy and the Politics of Hegemonic Ordering“) und damit insgesamt sieben Beiträge beleuchten die Binnengegebenheiten der USA und ihre Außenpolitik. Vier weitere befassen sich im dritten Teil (III „Challenging Western Hegemony: Varying Patterns of Contestation“) mit den Politiken von China, Russland, Indien und Brasilien gegenüber der US-geführten liberalen internationalen Ordnung. Zwar wurde schon viel über Polarisierung, Globalisierungsverlierer und politische Blockaden in den USA geschrieben, aber der Sammelband bettet den Populismus und Nationalismus der Ära Trump überzeugend ein in das größere Argument einer (drohenden) Selbstzerstörung der liberalen Ordnung. Hegemoniale Ordnungen scheitern weder zwangsläufig durch den Revisionismus anderer noch enden sie notwendigerweise mit einem klaren Machtübergang von einer zur nächsten Supermacht. Es kann auch, so das abschließende Fazit, eine Phase der Führungslosigkeit („hegemonic vacancy“) geben, die eine bestehende Ordnung destabilisiert (Böller und Werner, S. 291).

Der Fokus auf Trumps Politik ist eine Stärke, wenngleich der Blick über die Person hinausgehen muss. Donald Trump war ein oftmals erratisch agierender illiberaler Populist. Er verleitet dazu, den Rückzug der USA aus Institutionen und Verträgen, den Handelskonflikt mit China, die US-Kritik an der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) oder NATO-Partnern oder den Ausstieg aus dem INF-Vertrag mit Russland schlicht ihm zuzuschreiben. Doch so einfach ist es nicht. China spielt nicht fair in der Weltwirtschaft, die WTO erweist sich als reformunfähig, die defizitäre Lastenteilung der NATO ist schon lange ein Grund zur berechtigten Klage und der INF-Vertrag scheiterte am russischen Vertragsbruch, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Status quo der internationalen Ordnung muss womöglich an einigen Stellen in Frage gestellt werden, um eine echte liberale internationale Ordnung zu verteidigen, die Demokratie, Marktwirtschaft und Freiheit schützt. Donald Trumps Ziel war das natürlich nicht. Aber es sind solche weiterführenden Fragen, die der Band provoziert. Damit verbunden ist eine weitere: Basiert Hegemonie wirklich zu einem Gutteil auf dem Einverständnis der Beherrschten? Dann hätten Herausforderer wie Russland und China einen schweren Stand. Beide sind angesichts ihrer innenpolitischen Systemlogik nicht gut darin, „soft power“ zu entfalten, Kollektivgüter anzubieten und Partner zu gewinnen, aber erpicht darauf, die internationale Ordnung umzugestalten. China setzt dazu zunehmend auf „Wolfskrieger-Diplomatie“ und „scharfe Macht“. Für Russland sind Gewalt und Zwang reguläre Mittel der Politik. Selbst wenn dadurch keine auf Konsens ruhende Ordnung entsteht, bleibt auch Unterwerfung ein Herrschaftsinstrument. Umgekehrt ist aber, das machen der hier besprochene Band sowie die aktuelle „Zeitenwende“ klar, das letzte Wort zur Weiterentwicklung der internationalen Ordnung noch nicht gesprochen.