Der in dritter Auflage erschienene Sammelband bietet eine umfassende Analyse der deutschen Europapolitik von ihren Anfängen bis zum Ende der Ära Merkel. Durch die Strukturierung entlang der Kanzlerschaften werden dabei auch in der Forschung unterbelichtete Phasen, wie etwa die Europapolitik der Kanzler Erhard und Kiesinger, in den Fokus genommen. Zur Kohärenz des Gesamtbandes dienen drei übergeordnete Leitfragen, nämlich 1) welchen Beitrag Deutschland zur (Weiter‑)Entwicklung der europäischen Integration geleistet hat, 2) inwieweit das europapolitische Engagement der jeweiligen Regierungen den im Zeitverlauf sich ändernden nationalen Interessen entsprach sowie 3) die Frage nach Kontinuität und Wandel in der deutschen Europapolitik. Durch den Fokus auf die Regierungslinie werden innenpolitische Kontroversen zwar überwiegend ausgeklammert, an besonders entscheidenden Punkten werden allerdings auch diese in die Analyse einbezogen, wie etwa der Konflikt zwischen Konrad Adenauers Vorstellung einer vertieften (und regional begrenzteren) Integration im Schulterschluss mit Frankreich und Ludwig Erhards Konzept einer umfassenderen Freihandelszone unter Einbeziehung Großbritanniens. Hervorzuheben ist, dass sich alle Beiträge auch intensiv mit dem jeweiligen europapolitischen Kontext auseinandersetzen, so dass neben der deutschen Europapolitik die Entwicklungslinien des gesamten Integrationsprozesses nachgezeichnet werden. Für die politikwissenschaftliche Europaforschung, die eine Tendenz zur Fokussierung auf die Tagespolitik und den jüngeren Integrationsverlauf hat, ist eine solche Analyse der längerfristigen Entwicklungslinien eine Bereicherung.

Der Sammelband umfasst insgesamt fünf Beiträge, wobei der erste von Corina Schukraft-Wadle die Regierungen Adenauer, Erhard und Kiesinger abdeckt. Der zweite Beitrag von Nicole Stadtmüller untersucht die Regierungen Brandt und Schmidt und der dritte Beitrag, der von Ulrike Kessler stammt, die Ära Kohl. Die abschließenden beiden Beiträge zu den Regierungszeiten von Schröder und Merkel stammen von der Herausgeberin selbst, wobei Letzterer gegenüber der vorangegangenen Auflage völlig neu gefasst wurde und mit über 150 Seiten fast schon den Umfang einer eigenen Monographie erreicht.

Der Beitrag zur Regierungszeit Merkels stellt eine der ersten umfassenden wissenschaftlichen Analysen dieser Ära der deutschen Europapolitik dar. Dabei wird aufgezeigt, dass die häufig zu findenden Stereotypen der Visionslosigkeit und rein reaktiven Europapolitik zu kurz greifen. Dass Merkels Europapolitik insgesamt sehr ambivalent beurteilt werden kann, illustriert Müller-Brandeck-Bocquet u. a. an den verschiedenen Labeln, die ihr bzw. Deutschland in der Europapolitik während ihrer Regierungszeit angeheftet wurden: von „Vermittlerin“ und „Problemlöserin“ (in der Verfassungskrise) bis zum Vorwurf der „Spaltung“ und des „Alleingangs“ (in der sog. Flüchtlingskrise), von „Angela Mutlos“ und „Madame No“ (zu Beginn der Staatsschuldenkrise) bis „Zuchtmeister Europas“ (im späteren Verlauf dieser Krise) sowie von „Vorreiter“ bis „Blockierer“ (in der Klimapolitik). Prägend für die Regierungszeit Merkels war die ungewöhnlich große Zahl von sich zum Teil gegenseitig verstärkenden Krisen. Entsprechend wird das Krisenmanagement als ein zentrales Charakteristikum der Europapolitik ihrer Regierungszeit herausgearbeitet. Dabei sieht Müller-Brandeck-Bocquet als ein wesentliches Element des erfolgreichen Krisenmanagements die Übertragung der auch in der Innenpolitik bewährten „Methode Merkel“ auf die EU-Politik, d. h. das Offenhalten, das Moderieren und ein Stück weit auch das Sich-nicht-selbst-festlegen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, eigene Grundpositionen zu revidieren, wie etwa bei der Finanzierung des Corona-Wiederaufbauprogramms NextGenerationEU über eine gemeinsame Kreditaufnahme durch die EU. Neben der Krisenmoderation sieht Müller-Brandeck-Bocquet vor allem die Fortsetzung der bereits unter der Regierung Schröder festzustellenden Tendenz, nationale deutsche Interessen stärker als in früheren Jahren ins Zentrum zu stellen, als Leitlinie von Merkels Europapolitik. Allerdings tat sie dies weniger robust als Schröder und achtete stärker auf eine möglichst umfassende Abstimmung auch mit den kleineren Partnerländern. Die Verbindung von Interessenvertretung und europäischer Kompromisssuche bringt Müller-Brandeck-Bocquet dabei auf den Begriff des interessengeleiteten Pragmatismus. Eine weitere Grundlinie sieht der Beitrag in der Präferenz für intergouvernementale Ansätze der Integration. Und auch die Weiterentwicklung der deutsch-französischen Beziehungen als Motor der europäischen Integration, die sich u. a. im Vertrag von Aachen und verschiedenen Initiativen zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik niedergeschlagen hat, kann als eine krisenunabhängige Grundlinie gesehen werden.

Der Beitrag zur Europapolitik der Ära Merkel hat seinen Gewinn neben der umfassenden Darstellung und Analyse auch darin, dass er sehr viele Originalzitate und Zeitungskommentare aus den innen- und europapolitischen Diskussionen verwendet, so dass der jeweilige Zeitgeist, vor dessen Hintergrund Entscheidungen gefällt wurden, spürbar wird. Diese Rekonstruktion des damaligen Entscheidungskontextes ist eine Stärke, die auch die übrigen Beiträge des Sammelbandes auszeichnet. Insgesamt ist mit der dritten Auflage dieses Sammelbandes zur deutschen Europapolitik ein gelungenes Werk vorgelegt worden, das eine umfassende Darstellung und Analyse der deutschen Europapolitik und Integrationsgeschichte seit Gründung der Bundesrepublik bietet und dabei auch die zentralen Entwicklungslinien der europäischen Integration nachzeichnet. Darüber hinaus bietet er im letzten Beitrag eine erste umfassende Gesamtbilanz der Europapolitik der Ära Merkel.