Zusammenfassung
Seit 2021 wächst der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sowie den NATO-Staaten – militärisch und verbal. Nach den Erkenntnissen der Konfliktforschung wirken Drohungen und Schuldzuweisungen jedoch kontraproduktiv. Voraussetzung einer Befriedung ist, dass die Beteiligten die Belange der Gegenseite ernst nehmen und gemeinsam Wege suchen, die wechselseitigen Interessen zum Ausgleich zu bringen. Wie dies im Ukraine-Konflikt geschehen kann, ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags.
Abstract
Since 2021, the conflict between Russia and Ukraine as well as the NATO states has been increasing: militarily and verbally. Meanwhile, conflict research teaches that threats and accusations are not suitable for dispute resolution. Peace requires the interests of all parties to be respected and balanced. How this might happen in the Ukraine conflict is the subject of this article.
Notes
So u. a. der russische Außenminister Lawrow gegenüber seinem amerikanischen Kollegen Blinken am 21. Januar 2022 – siehe Handelsblatt (2022).
Zur Begründung führte Putin einen angeblichen „Völkermord“ an der russischsprachigen Bevölkerung im Osten des Landes an und erklärte, er wolle eine „Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“ erreichen – siehe Tagesschau (2022g).
Das Manuskript dieser Analyse wurde am 10. März 2022 fertiggestellt und berücksichtigt somit die Ereignisse bis zu diesem Zeitpunkt.
Siehe zu den Hintergründen das NZZ-Interview mit Oliver Thränert, Leiter des Thinktanks am Center for Security Studies der ETH Zürich: Rüesch und Voss (2022).
Ein treffliches – wenngleich freilich überzeichnetes – Beispiel ist die „Geschichte mit dem Hammer“ bei Watzlawick (1988/2012, S. 37–38).
Auch Bielecke und Kumbier (2020, S. 142) beschreiben, dass uns als „Herdenwesen“ Zugehörigkeit auch heute noch so wichtig ist, dass Streitigkeiten oft die Angst auslösen, „aus einer wichtigen Gemeinschaft herauszufallen“.
Auch nach einer bereits 1997 geäußerten Einschätzung des US-amerikanischen Außenpolitikers Zbigniew Brzeziński haben sowohl die USA wie auch Russland ein erhebliches Interesse daran, dass sich die Ukraine innerhalb der jeweils eigenen Einflusssphäre befindet. Siehe hierzu Staack (2017), Pradetto (2017, S. 52–53) und Csitkovits (2017, S. 11).
Siehe insoweit die prägnante Darstellung bei ZDF (2022): Putin habe am 21. Februar 2022 argumentiert, Russland sei im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands versprochen worden, dass die NATO sich kein bisschen nach Osten ausdehne. Russland werde wie ein Feind behandelt. Wörtlich habe er ausgeführt: „Sie haben uns betrogen“; „warum das alles? Wozu?“ Russland sehe sich dadurch in seiner Sicherheit bedroht.
Ebenso weist der Politikwissenschaftler Robin Markwica darauf hin, dass Erniedrigungen und Bedrohungen nicht zur Deeskalation von Konflikten beitragen (vgl. Rauscher und Gienow-Hecht 2020, S 445).
So ließ sich Chruschtschow 1962 zum Abzug der auf Kuba stationierten Mittelstreckenraketen bewegen, indem Kennedy einerseits Konzessionen in der Sache – nämlich in Form des Abzugs von US-Jupiterraketen aus der Türkei – machte (vgl. Coleman 2007, S. 47), während zugleich der sowjetische Botschafter Anatolij Dobrynin gegenüber Chruschtschow vermittelte, Kennedy achte die Sowjetunion als ebenbürtige Supermacht. Der Politikwissenschaftler Robin Markwica hält diese Respektbekundung für eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Chruschtschow die amerikanischen Bedingungen ohne Gesichtsverlust anerkennen konnte (vgl. Rauscher und Gienow-Hecht 2020, S. 444).
Aus Sicht des jeweils anderen Beteiligten handelt in einem Konflikt der Gegner sogar zumeist irrational.
Zu Rationalitätsfallen allgemein vgl. von Nitzsch (2019).
In ökonomischen Auseinandersetzungen wird dieses Phänomen als Sunk Cost-Effekt, eskalierendes Commitment oder Entrapment bezeichnet und mit dem Bedürfnis der Selbstrechtfertigung in Zusammenhang gebracht (vgl. Moser 2015, S. 192). Dass unterlegene Machthaber infolge von Realitätsverlust und verletztem Stolz bereit sind, aussichtslose Militäroperationen fortzuführen, hat Robin Markwica am Beispiel von Saddam Hussein ausführlich dargestellt (vgl. Rauscher und Gienow-Hecht 2020, S. 444).
Nicht Gegenstand dieses Beitrags ist die sich in diesem Zusammenhang stellende Frage, weshalb die Bundesrepublik auf die Abnahme von aus Russland stammendem Gas (und den weiteren Ausbau der Ostseepipeline) nicht bereits nach der Krim-Annexion vollständig verzichtet hat, welche völkerrechtlich zweifelsfrei einen Angriffskrieg darstellt. Der Umstand, nicht schon damals mit einem Verzicht auf wirtschaftliche Vorteile durch russische Gaslieferungen reagiert zu haben, stellte allerdings die Glaubhaftigkeit nachfolgender Drohungen – insbesondere der in den Wochen vor der russischen Invasion ausgesprochenen – erheblich in Frage.
Auf den Punkt brachte es Martin Ganslmeier aus dem ARD-Hauptstadtstudio: „Indem wir Energie aus Russland kaufen, finanzieren wir Putins blutigen Krieg gegen die Ukraine.“ – siehe Tagesschau (2022i). Eine ethische Bewertung dieses Umstands nahm Ex-Bundespräsident Gauck am 9. März 2022 vor, der einen Verzicht auf russische Rohstoffe forderte und hinzufügte; „Wir können auch einmal frieren für die Freiheit“ – siehe Otte (2022).
„Laterales Denken“, siehe Duve et al. (2011, S. 195).
Offenes, interessenorientiertes (sog. „integratives“) Verhandeln ist die Basis für wertschöpfende Lösungen, siehe Duve et al. (2011, S. 188–196).
Erst recht beschränkt sich der Effekt solcher Drohungen auf eine eskalierende Wirkung, wenn ihre Glaubhaftigkeit fragwürdig erscheint.
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Brose, J. Der Ukraine-Krieg aus konfliktwissenschaftlicher Perspektive. Z Außen Sicherheitspolit 15, 163–178 (2022). https://doi.org/10.1007/s12399-022-00904-w
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