„Ich sage nur China, China, China!“ Mit diesem Alarmruf hatte der damalige Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger 1969 versucht, die Bundestagswahlen zu gewinnen. Geholfen hat ihm die Warnung vor der „gelben Gefahr“, ein damals gängiges Pejorativ aus der Kolonialzeit, allerdings nicht, Bundeskanzler wurde Willy Brandt. Über 50 Jahre später ertönt der Warnruf erneut: „Final Call“ mit der im Ratgeberdeutsch gehaltenen Ergänzung „Wie Europa sich zwischen China und den USA behaupten kann“. Ein Buch mit diesem Titel hat die Berliner Politikwissenschaftlerin Daniela Schwarzer vorgelegt. Auf gut 200 Seiten bietet sie eine konzise Analyse der Europäischen Union und ihrer gegenwärtigen Schwierigkeiten und geht dabei über die durch den reißerischen Titel gedämpften Erwartungen weit hinaus. Man kann die Analyse und den daraus abgeleiteten Forderungskatalog von Daniela Schwarzer so zusammenfassen: Das internationale Geschehen in diesem Jahrzehnt wird von der systemischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China bestimmt werden. Die EU muss sich dabei als eigenständige Kraft positionieren, in Partnerschaft mit den USA, aber nicht in Abhängigkeit.

Das Buch besteht neben einer Einleitung aus drei Kapiteln. Im ersten Teil befasst die Autorin sich mit „Europa in der Post-Covid-Welt“ und geht auf die Veränderungen der globalen Ordnung ein. Besonders im Auge hat sie die Gewichtsverschiebungen in Richtung Asien, womit sie allerdings fast ausschließlich China meint. Sie weist auf, wie China seinen ökonomischen, technologischen und auch militärischen Einfluss gezielt ausweitet und so zum globalen Konkurrenten der USA wird. Während sowohl China als auch die USA klare Vorstellungen von dem sich verschärfenden Konflikt haben, weiß die EU noch nicht, wie sie darauf reagieren will. Genauer gesagt, jedes EU-Mitglied hat so seine eigenen Überlegungen und Interessen.

Auf die innere Entwicklung der EU konzentriert sich die Verfasserin im zweiten Kapitel, in dem sie fünf Krisen nachzeichnet: die Finanzkrise, die russischen Angriffe auf die Ukraine, die auch die europäische Sicherheitsordnung getroffen haben, die Migrationskrise, den Brexit sowie die Corona-Pandemie und die daraus resultierende Erosion des Binnenmarkts. Die Darstellung der Herausforderungen ist ausführlich, kenntnisreich und gut auf den Punkt gebracht. Ärgerlich ist, dass die Autorin völlig auf Anmerkungen und Quellenangaben verzichtet. Es werden gelegentlich Umfragen zitiert, aber man weiß nicht, welche, es werden Zahlen genannt, aber man kann nicht nachverfolgen, woher sie stammen. Und wenn man liest, dass „nach Erwartungen des Auswärtigen Amtes“ im Jahr 2030 „90 Prozent der 2,4 Milliarden Menschen der Mittelschicht im indo-pazifischen Raum leben“ (S. 155), wüsste man schon gerne Genaueres. Ist das eine vom Auswärtigen Amt erarbeitete Studie oder die Meinung eines Referatsleiters, wie definiert man hier „Mittelschicht“, heißt das, im Rest der Welt (Europa, Afrika) leben nur 10 % der Mittelschicht (also 240 Millionen Menschen), sind die USA insgesamt zum „indo-pazifischen Raum“ gerechnet? Und Südamerika?

Im dritten und abschließenden Kapitel formuliert die Autorin die Konsequenzen aus ihrer Analyse und fordert zahlreiche Veränderungen und Weiterentwicklungen der Politik: Die EU müsse außenpolitisch erwachen, technologisch aufholen, die Demokratie – auch und gerade innerhalb der Union – schützen sowie mehr wirtschaftliche Kraft entfalten und dabei gleichzeitig die ökologische Transformation bewältigen. All diesen Forderungen sind aus der Analyse abgeleitet und man kann ihnen ohne Einschränkungen zustimmen. Dennoch hat dieses Kapitel („Europas Selbstbehauptung“) etwas von Wünsch-dir-was, weil es wenig Platz auf die Frage verwendet, wie diese Forderungen nun in konkrete Politik in der real existierenden Europäischen Union umgesetzt werden sollen. So droht die Verfasserin, die EU könne vor der Entscheidung stehen, „sich von Mitgliedstaaten zu verabschieden“ (S. 178), ohne zu sagen, wie das gehen könne. Einen Ausschluss aus der EU sehen die Verträge nicht vor. Sicherlich, man kann die Verträge ändern – aber nur einstimmig.

Bei der Weiterentwicklung der Banken- und Kapitalmarktunion heißt es: „Der Sorge vor falschen Anreizen sollte durch einen stärkeren Rechtsrahmen und einen klaren Prozess zum Umgang mit Staatsinsolvenzen begegnet werden.“ Was heißt das? Die No-Bailout-Klausel des Art. 125 AEUV gibt es ja bereits. Und wer dennoch in Schwierigkeiten gerät? „Dann isch over“, hieß das beim damaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble in der Griechenlandkrise. Meint die Verfasserin das? Nicht nachvollziehbar ist die Kritik, das Europäische Parlament sei „politisiert“ (S. 194). Ja, wer wenn nicht ein Parlament sollte politisiert sein?

Der Wert des Buches liegt darin, dass die Verfasserin den Finger in die europäische Wunde legt und eine Gesamtschau auf die Problemzonen der Europäischen Union bietet. Sie macht deutlich, dass die EU unter ihrer Gewichtsklasse boxt, weil sie zwar über Machtressourcen verfügt, aber sich bislang nicht darauf einigen kann, ob und wie sie diese nutzen will. Daniela Schwarzer zeigt auch, dass die EU sich durchaus weiterentwickelt, aber langsamer als andere Teile der Welt – und somit an Boden verliert. Dabei geht es der Verfasserin nicht um EU-Bashing, sondern um den Appell, Dinge anders, besser und schneller zu machen. Wenn dieser Anstoß die Politik erreichte, wenn in den Parteien und Parlamenten darüber nachgedacht würde, wie man die Überlegungen aufgreifen und umsetzen könnte, dann wäre viel gewonnen. Der Passagier EU hätte den „Final Call“ gehört und sein Flugzeug in Richtung Zukunft gerade noch rechtzeitig erreicht.

Fazit: Ein interessantes und lesenswertes Buch.