Am 15. August 2021 haben die Taliban Kabul eingenommen und den Krieg für beendet erklärt. Drei Wochen später, am 7. September, riefen sie das Islamische Emirat Afghanistan aus und etablierten ihre Übergangsregierung. Damit kamen sie dem zwanzigsten Jahrestag des Beginns des „Krieges gegen den Terror“ am 7. Oktober 2001 zuvor. Wenngleich dieser der Anlass für das Buch von Emran Feroz war, bietet sein Inhalt auch vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen vielfältige Erklärungsansätze – für das Scheitern des Krieges und die erneute Machtübernahme der Taliban.

Das Buch ist Anklage und Spurensuche zugleich. Es verkörpert die Perspektive des Journalisten mit afghanischen Wurzeln, der aufgrund seines einzigartigen Zugangs bei Recherchen in Afghanistan die Sicht „der Afghanen“ auf die letzten zwei Jahrzehnte vermitteln möchte. Die eigene Familiengeschichte fließt an verschiedenen Stellen in das Narrativ ein, spiegelt sie doch die Komplexität afghanischer Lebensrealitäten dort wie im Exil und damit verbundene differenzierte Positionierungen, die sich dem Weltbild ausländischer Beobachter*innen in der Regel entziehen. So ist das Buch dem Onkel des Autors gewidmet, einem Kritiker sowohl der Regierung und der internationalen Militärintervention als auch der Taliban, der 2019 auf offener Straße in Kabul erschossen wurde.

Das Buch ist in fünf Kapitel untergliedert, gerahmt von Einleitung und Ausblick. Die Logik der Gesamtstruktur und Argumentation erschließt sich nicht unmittelbar, Anklage und Erklärungsversuche verschwimmen im Textfluss. Ein roter Faden, der klar hervortritt und sich durch alle Kapitel zieht, ist die Kritik des Autors an der Berichterstattung der Medien über Afghanistan, die zivil-militärische Intervention und ihre Folgen seit 2001. Da der Autor selbst Journalist ist, wiegt dieser Teil der Anklage besonders schwer, denn qua Profession ist er fachlich autorisiert, die Medienberichterstattung einzuordnen. Die Rede ist von Märchen, Falschaussagen und orientalistischen Lügengeschichten rund um die Afghanistankriege und einer kritiklosen Übernahme der offiziellen Narrative der Bundesregierung durch deutsche Medien (S. 13; 89). Zudem hätten ein anti-afghanischer Rassismus und die dominante eurozentrisch-neokoloniale Sichtweise zur Rechtfertigung und Perpetuierung der westlichen Agenda beigetragen und jegliche Kritik negiert.

In der Einleitung unterbreitet der Autor seine Hauptthese: Statt den Terror zu beseitigen, hat der Afghanistankrieg massiv zu seiner Verbreitung beigetragen (S. 21). Darin besteht das Scheitern des Westens. Die ersten zwei Kapitel dienen der Untermauerung der These aus historischer Perspektive. Dazu geht der Autor in die 1980er-Jahre zurück, um zu zeigen, wie die Führer der islamistischen Widerstandsgruppen gegen die sowjetische Besatzung vom Westen hofiert und ermächtigt wurden. Dieselben Personen traten später als Kriegsfürsten im Bürgerkrieg auf, der von ihnen verübte Terror gegen die Zivilbevölkerung rief ab 1994 die Taliban auf den Plan. Ab 2001 bekamen viele dieser Kriegsfürsten wichtige Posten und profitierten überproportional vom Wiederaufbau und der westlichen Militärpräsenz. Feroz analysiert ihre Heroisierung und Idealisierung als Fehler und verurteilt die ausgebliebene Anklage wegen Kriegsverbrechen scharf. In der Wahrnehmung der Bevölkerung machte sich der Westen mit Kriegsverbrechern gemein, die das Land erneut ausplünderten.

Die Kapitel 3 und 4 bilden den Kern des Buches, überschrieben mit „Auszüge des Grauens“ und „Die sechs großen Vergehen des ‚War on Terror‘ in Afghanistan“. Hier trägt der Autor viele Beispiele für die Systematik der Gewalt durch westliches Militär gegenüber der Zivilbevölkerung zusammen. Es geht im dritten Kapitel um Kriegsverbrechen der Kanadier, Amerikaner, Australier und der Deutschen. Die sogenannte „Kunduz-Affäre“ – die auf deutsches Kommando erfolgte Bombardierung von liegengebliebenen Diesellastwagen in Chardara, die etwa 100 zivile Opfer forderte – wird als „deutscher Schandfleck Kunduz“ und „Kriegsverbrechen erster Ordnung“ (S. 85) bezeichnet. Thematisiert werden die Entmenschlichung afghanischer Opfer und die kaum anerkannte Wertigkeit afghanischer Zeugenaussagen wie auch investigativer Recherchen afghanischer Journalist*innen zu Kriegsverbrechen von NATO-Truppen. Seine Stärke entfaltet das Buch, wo der Autor scharf analysiert wie das westliche Opferselbstbild und die Überzeugtheit von der eigenen moralischen Überlegenheit westlichen Akteur*innen ermöglicht hat, die von ihnen verübte Gewalt auszublenden und zu verharmlosen. Folter, Kriegsverbrechen und Straffreiheit haben den Taliban Zulauf beschert. Als „Die Mär von der Frauenbefreiung“ präsentiert der Autor die vom Westen und der afghanischen Regierung mobilisierte rhetorische Instrumentalisierung der Frauenrechte und erklärt, dass diese in der Realität weitgehend missachtet wurden.

Kapitel 5 verknüpft erneut diverse lose Enden politischer Geschehnisse und Beobachtungen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene, wenn es um Geistersoldaten in der afghanischen Armee, Taliban-Schattenherrschaft, Präsident Ghanis junge, westlich ausgebildete und im afghanischen Kontext wenig akzeptierte Berater oder die Verhandlungen der USA mit den Taliban in Doha geht. Die Aneinanderreihung von Insider-Anekdoten und Begebenheiten lässt wie die Abschnitte zu den Familien- und Wohlstandsverhältnissen der Ghanis und Karzais zwar tief blicken, allerdings fehlt eine systematische Verknüpfung mit dem „Scheitern des Westens“.

Feroz hatte nicht den Anspruch, ein wissenschaftliches Buch vorzulegen, sondern als Journalist Missstände offenzulegen und zum Nachdenken und Nachrecherchieren anzuregen. Dies gelingt ihm mit der Fülle an informativem Material, von dem Vieles die Sicht der Afghan*innen widerspiegelt, voll und ganz. Eine Reihe der aufgeworfenen Fragen bedürfen einer tiefergehenden systematischen Analyse, zum Beispiel die These des rassistisch und ethnozentrisch geleiteten westlichen Interventionismus, der den Weg für die Entmenschlichung der afghanischen Kriegsopfer bereitet hat. Fehlende Nuancierungen des Autors wie die Nicht-Differenzierung des „Westens“, subjektive Gewichtungen und Wertungen sind offensichtliche Makel, die dem Buch eine gewisse Sachlichkeit und Neutralität nehmen. Trotzdem ist es eine sehr empfehlenswerte Lektüre, es wirkt der Entmenschlichung der Afghan*innen entschlossen entgegen.