1 Einleitung

Die Bundeswehrplanung arbeitet seit einigen Jahren im Zeichen der Trendwenden. Bei Personal, Infrastruktur, Finanzen und nicht zuletzt beim Material sollen Mängel beseitigt werden, die sich durch jahrzehntelanges Missmanagement angehäuft haben (Krause 2019). Dieser langfristige Negativtrend soll gebrochen und in sein Gegenteil verkehrt werden. Mit Blick auf das Ausstattungsproblem verkündete das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) auf seiner Homepage im April 2019 stolz: „Agenda Rüstung: Die Trendwende wirkt“ (BMVg 2019a). Die nachgeschobenen Anmerkungen „Wenden erfordert Kraft“ und „Innovation braucht Zeit“ nahmen der vollmundigen Anmoderation zwar wieder Schwung, doch unter Verweis auf die deutlich gesteigerten Investitionsmittel blieb der Tenor am Ende doch der gleiche: „Die Agenda Rüstung greift zunehmend.“

Irritierend nur: Der Bericht des inzwischen aus dem Amt geschiedenen Wehrbeauftragen Hans-Peter Bartels kommt im Januar 2020, also nur neun Monate nach der gerade zitierten BMVg-Verlautbarung, zu einem ganz anderen Ergebnis (Bartels 2020). Nun könnte man das als die üblichen perspektivischen Unterschiede im politischen Diskurs abtun – immerhin war der SPD-Politiker Bartels nicht zum Sprachrohr der Verteidigungspolitik der Bundesregierung berufen, sondern zum Anwalt der Bundeswehr.

Seine Gesamtcharakterisierung der Ausstattungsproblematik lässt jedoch tiefer blicken und offenbart eine deutliche Divergenz in der Positionsbestimmung des BMVg selbst:

Die Trendwende Material hat bis heute noch nicht zu spürbaren Verbesserungen geführt. Das, was da ist, ist häufig nicht einsatzbereit: Es gibt zu wenig oder keine Ersatzteile, oder Instandsetzungskapazitäten fehlen. Bei der Mangelverwaltung wird es auf absehbare Zeit bleiben, länger als geplant. Das hat das Verteidigungsministerium dem Verteidigungsausschuss zum Ende des Berichtsjahrs mitgeteilt (Bartels 2020, S. 8).

Ein und dasselbe Ressort der Bundesregierung berichtet also innerhalb weniger Monate sowohl von einer erfolgreichen Trendwende als auch einer fortwährenden Mangelverwaltung.

Nun gibt es mehrere Möglichkeiten, diesen Widerspruch aufzulösen: Die erste, politisch unkorrekte bestünde darin, dem BMVg institutionalisierte Schizophrenie zu unterstellen, also die Fähigkeit, beide Versionen mit dem Brustton der Überzeugung gleichermaßen zu vertreten. Das ist eher unwahrscheinlich. Die zweite Möglichkeit ist die, dass die optimistische öffentliche Selbstdarstellung zutrifft, das interne Fehlereingeständnis aber nicht. Das ist eigentlich ausgeschlossen, denn welchen Grund sollte das BMVg haben, sich vor dem Verteidigungsausschuss schlechter zu verkaufen als nötig?

Verbleibt also noch die dritte Option, dass die intern gegenüber den verteidigungspolitischen KontrolleurenFootnote 1 des Deutschen Bundestages vertretene BMVg-Position der Realität entspricht, die öffentlich kommunizierte Version aber nicht. In der vorliegenden Darstellung werde ich zunächst zeigen, dass es so ist. Dabei will ich es aber nicht belassen, denn dieser Nachweis ist schnell erbracht. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Ursachen dieses langjährigen rüstungspolitischen Versagens.

Ich werde herausarbeiten, dass die zeitgenössische deutsche Rüstungspolitik vor allem unter einem eklatanten Strategiedefizit leidet. Ihre zentralen Defizite sind also nicht komplizierte Beschaffungswege und Kostenexplosion. Ihr Kernproblem ist die geradezu bestürzende konzeptuelle Gedankenarmut, mit der sie betrieben wird: Rüstung ist schließlich kein Selbstzweck, sondern dient der Erfüllung von Aufgaben. Und deshalb muss Rüstungspolitik zunächst bei der strategisch-konzeptuellen Durchdringung der vielfältigen Konflikt- und Kriegsszenarien in Form einsatzbezogener Rüstungsdoktrinen ansetzen, um daraus eine vernünftige Marschkompasszahl für die Materialplanung ableiten zu können.

Denn für den modernen Großen Krieg bedarf es eben anderer Gerätschaften als für asymmetrische bzw. hybride Kriegsszenarien (Kaldor 2000; Hartmann 2015) oder Counterinsurgency-Operationen (Kilcullen 2010). Oder noch kürzer: Jedem Szenario seine Ausstattung. Moderne Rüstungspolitik muss also vielfältig und ganzheitlich zugleich gedacht sowie strategisch-konzeptionell angeleitet sein. Davon ist Deutschland meilenweit entfernt.

2 Veraltung, Vielfalt, Komplexität: Die Ausstattungsprobleme der Bundeswehr als Ausgangspunkt

Die Ausstattungsprobleme der Bundeswehr haben Tradition und waren dann auch Anlass für die Trendwende Material: Die Ausrüstung der Bundeswehr veraltet seit langem, die Ersatzsysteme erfordern auf Grund ihrer Komplexität immer längere Entwicklungs- und später auch Ausbildungszeiten, laborieren auch nach ihrer Einführung immer wieder an gravierenden Mängeln und sind bei ihrer Auslieferung meist wesentlich teurer als ursprünglich vereinbart. Das heißt aber auch: Erst wenn man die dadurch entstandene Komplexität des Ausstattungsproblems richtig begreift, wird man dazu in der Lage sein, einen entsprechend differenzierten Lösungsansatz zu entwickeln. Dieses vertrackte Problemszenario soll deshalb eingangs in gebotener Kürze und exemplarisch zugespitzt vergegenwärtigt werden.

2.1 Fortschreitende Veraltung

Das Problem der Material-Veraltung ist anhand einschlägiger Beispiele schnell umrissen, die so schon vor Beginn der Trendwende Material existierten und sie daher maßgeblich anschoben: Der Kampfpanzer Leopard 2 beispielsweise stammt aus den 1970er Jahren und nähert sich trotz fortlaufender Kampfwertsteigerungen schon seit einiger Zeit seinem Nutzungsende, ohne dass Ersatz in Sicht wäre. Die Kooperation Deutschlands mit Frankreich zur Entwicklung eines neuen Kampfpanzers ist dagegen erst in der Initialphase und wird, wenn überhaupt, erst ab dem Jahr 2030 zum Erfolg führen (Frank 2020).

Auch sonst arbeitet das Heer seit längerem mit zwar zuverlässigen, aber bald museumsreifen Waffensystemen: Der schon im Vietnamkrieg eingesetzte Leichthubschrauber Bell UH-1 D gehört dazu ebenso wie der leichtgepanzerte Mannschaftstransportwagen M 113 als Mörserträger mit einem ähnlichen Dienstalter. Neue Mörsersysteme für den Leichtpanzer Wiesel 2 sind zwar seit einigen Jahren einsatzreif, aber bisher nur in wenigen Exemplaren angeschafft. Auch die Ausmusterung der letzten Bell UH-1 D und ihr Ersatz durch den Hubschrauber NH-90 ist ein zäher Vorgang (Flume et al. 2015, S. 250). Der neue Schützenpanzer Puma, der den ebenfalls schon aus den 1970er Jahren stammenden Marder abzulösen hat, wurde überdies erst einmal ohne sein Lenkraketensystem MELLS beschafft, weil dessen Entwicklung nicht abgeschlossen war. Ein vollwertiger Ersatz für den alten Marder, der ein solches Waffensystem besitzt, ist er daher bislang nicht (Bundeswehr-Journal 2019).

Die Liste ist damit noch lange nicht zu Ende: Auch der mittelschwere Transporthubschrauber CH-53 ist vergleichbar alt und muss wegen Beschaffungsproblemen bei den Nachfolgesystemen seit langem weiter im Einsatz gehalten werden. Gleiches gilt für das bejahrte Transportflugzeug C‑160 Transall, das mit jeder weiteren Verzögerung beim Zulauf des Airbus A400M seinem endgültigen Verschleiß näher und näher rückt. Und die neuen Korvetten der Marine, die auch als Ersatz für die inzwischen ausgemusterten Schnellboote dienen, waren wegen gravierender Antriebsmängel lange nicht einsatzfähig; die U‑Boote der Klasse 212A weisen seit langem ähnliche Mängel auf (Sebaldt 2017, S. 79).

Solch altersbedingte Ausstattungsmängel sind also für sich genommen schon gravierend. Aber das ist eben nur eine Dimension eines Problemkomplexes, der daneben noch weitere und gerade für Außenstehende nicht so leicht erkennbare Facetten aufweist: Die Ausstattung ist durch zahlreiche Neuanschaffungen übertrieben vielfältig und damit zu einem logistischen Albtraum geworden. Sie ist zunehmend übertechnisiert und damit sowohl immer teurer als auch anfälliger für Ausfälle, und sie ist auch immer schwieriger in der Anwendung. Auch das soll an mehreren Beispielen illustriert werden, die auch das fatale Zusammenwirken dieser verschiedenen Fehlentwicklungen demonstrieren.

2.2 Überzogene Diversifizierung

Ein erster exemplarischer Blick gilt hier der Ausstattungsvielfalt bei den Handwaffen: Früher war die Szenerie hier recht übersichtlich. Das alte Standardgewehr G3 mit NATO-Kaliber 7,62 × 51 konnte mit wenigen Handgriffen zum Scharfschützengewehr umgebaut und so auch von jedem nicht als Scharfschützen ausgebildeten Soldaten sofort verwendet werden. Inzwischen leistet man sich aber neben dem G36, das wegen seines kleineren Kalibers (5,56 × 45) und des geringeren Geschoßgewichts von vornherein nicht als Scharfschützenwaffe eingeplant werden konnte, noch das Scharfschützengewehr G22 mit dem Spezialkaliber 7,62 × 67, das Zielfernrohrgewehr G28 mit der neu entwickelten Munition 7,62 × 51 DMR und nicht zuletzt das Gewehr großer Reichweite G82 mit dem Kaliber 12,7 × 99 (Flume 2013, S. 391–395).

Diese Spezialgewehre bringen hinsichtlich Reichweite und Durchschlagskraft zunächst durchaus einen Mehrwert gegenüber dem alten G3-Scharfschützengewehr. Aber dieser Nutzen wird durch stark erhöhten Ausbildungsbedarf, mehr Personal sowie logistische Verkomplizierung mehr als wettgemacht und dreht die Gesamtrechnung ins Negative: Denn statt früher einer Munition, der auch für das Maschinengewehr MG3 verwendeten Patrone 7,62 × 51, braucht es heute schon vier, und dabei sind die verschiedenen Munitionsvarianten der einzelnen Patronen noch gar nicht eingerechnet. Das Nachschubwesen wird damit wesentlich schwieriger, denn sowohl bei der Beschaffung wie bei der Zuführung müssen nun eben vier Patronensorten statt einer berücksichtigt werden. Überdies gehen mit dieser Innovation auch ein breiterer Ausbildungs- und ein größerer Personalbedarf einher: Denn die Soldaten müssen auf diese Spezialgewehre erst geschult werden.

Besonders gut ablesbar ist diese Fehlentwicklung auch beim Ausstattungssystem Infanterist der Zukunft, das aus insgesamt rund 100 Einzelkomponenten besteht und je nach Konfiguration ein Gesamtgewicht zwischen 57 kg und 66 kg besitzt (Flume 2013, S. 543–547). Die Einsatzstatistiken der US-Streitkräfte im Rahmen der Mission International Security Assistance Force in Afghanistan zeigen, wohin das führt: Der häufigste Ausfallgrund ihrer dort operierenden Soldaten waren nicht Feindeinwirkungen, sondern durch überschwere Ausrüstung verursachte Rückenprobleme (Roy et al. 2015).

Hinzu kommt, dass die Ausbildungszeiten für dieses komplexe System, das allein in seinem Kernmodul über einen eigenen Sprechsatz, einen Kernrechner, Navigationsausstattung, Helmdisplay, Bildverstärkerbrille, Wärmebildmodul, Bedien- und Anzeigegerät, Gruppenfunkgerät und einen digitalen Magnetkompass verfügt, exponentiell anwachsen (Flume 2013, S. 547). Und all dies hat der Soldat neben seiner schweren Schutzkleidung, einen am Rücken getragenen Wassersack mit Trinkschlauch und je nach Funktion noch weiteren Ergänzungsmodulen (Aufklärungsausstattung, Visiermodule etc.) sowie den Waffen mit sich herumzutragen. Kurzum: Ein derartiges System ist sowohl am Soldaten vorbeigeplant als auch an den Ausbildungs- und den Logistikerfordernissen. Denn die Materialbewirtschaftung muss auch hier wesentlich mehr Komponenten für Reparatur oder Ersatz vorhalten, und Einweisungs- und Trainingszeiten werden unter Einsatzgesichtspunkten unzumutbar lang.

2.3 Störanfällige Komplexität

Das verweist schon auf den letzten fatalen Trend, der hier anzusprechen ist. Wie viele andere moderne, auf digitaler Vernetzung basierende Ausstattungssysteme der Bundeswehr ist auch das System Infanterist der Zukunft von einem naiven Technikvertrauen geprägt, das unter Einsatzbedingungen schnell in sich zusammenfallen würde. Denn allein schon wegen seiner Komplexität ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass einzelne Komponenten ausfallen und das gesamte System lahmlegen. Zudem wird blauäugig vorausgesetzt, externen Störmaßnahmen effektiv begegnen zu können.

Das wird leider nur bis zum ersten erfolgreichen Hacker-Angriff des Feindes tragen, der Mittel und Wege finden wird, digitale Führungssysteme zu infiltrieren und auch die Waffensysteme selbst lahmzulegen. Nüchtern betrachtet muss man zudem einkalkulieren, dass der Gegner durch eine gezielt platzierte atomare Detonation in der Atmosphäre die elektrischen und elektronischen Kommunikationssysteme lahmlegt. Davor wird schon seit langem gewarnt (Breuer und Lechleitner 1982). Ergo: Mit wachsender Komplexität der Technik und insbesondere mit der fortschreitenden Vernetzung werden auch Fehleranfälligkeit und Verwundbarkeit der Waffensysteme immer ausgeprägter, wie auch der Aufwand für Bedienung, Ausbildung und Logistik.

Das soll am Ende nicht als vormoderne Technikkritik missverstanden werden. Natürlich muss sich eine Armee im Zeitalter der Informationstechnik (IT) den modernen digitalen Herausforderungen stellen und sie in gebotenem Maße in ihr Tätigkeitsprofil einbinden. Militärischer Kampf wird in der Zukunft ja nicht zuletzt im virtuellen Raum geführt (Hofstetter 2019). Doch gerade diese an Bedeutung gewinnende Komponente des Cyberkriegs darf die Augen nicht davor verschließen lassen, dass diese Technisierung nicht überall in gleichem Maße nötig bzw. praktikabel ist. Soll heißen: Die Vorteile klassisch analoger, nur auf mechanischen Grundlagen basierender und ohne komplexe Vernetzung auskommender Kriegsführung sollte auch im digitalen Zeitalter nicht vernachlässigt werden.

Technik muss zum Menschen passen, und gerade dann, wenn Streitkräfte auch zum Zwecke des Personalersatzes und für den Aufwuchs im Einsatzfall planen, sollte klar werden, dass der dann eingezogene Durchschnittsbürger nicht mit überkomplexen Waffensystemen überfordert werden darf, die noch dazu störanfällig sind und logistische Albträume verursachen. Zudem: Streitkräfte sind per definitionem für Ausnahmesituationen geschaffen und müssen deshalb auch in diesen funktionsfähig bleiben. Und dazu zählt eben auch ein Szenario, in dem die elektronische Kommunikation zusammengebrochen ist.

3 Der Anspruch: Trendwende Material als Schlüsselelement der Bundeswehrreform

Auf diesem Problemhintergrund leitete die Bundesregierung daher seit dem Beginn des laufenden Jahrzehnts umfangreiche Reformmaßnahmen ein, um dieser Mangelsituation systematisch begegnen zu können. Einen zentralen Stellenwert besaßen dabei verschiedene „Trendwenden“, die allein schon durch die Wortwahl den Willen zu einem konsequenten Kurswechsel signalisierten (Krause 2019).

Bis heute sind deren Liste und Nomenklatur zwar nicht einheitlich, aber Zielrichtungen und Schwerpunktsetzungen stehen außer Frage: Seit 2015 stehen die drei Trendwenden Personal, Material und Finanzen im Fokus; die Bundeswehr soll also personell, rüstungstechnisch und auch in finanzieller Hinsicht auf eine nachhaltige und zukunftssichere Basis gestellt werden. Bisweilen ist darüber hinaus von einer „Trendwende Infrastruktur“ und sogar einer „Trendwende Mentalität“ die Rede (Bartels 2020, S. 14, 51–55), doch steht das planerisch eher im Hintergrund, denn der infrastrukturelle Aspekt lässt sich auch als materielle Komponente begreifen, und eine Trendwende Mentalität ist naturgemäß politisch-planerisch nur schwer in die Wege zu leiten.

Der Fragestellung dieser Abhandlung entsprechend steht im Folgenden die Trendwende Material im Fokus. Selbst diese Komponente der Bundeswehrreform läuft nicht durchgängig unter diesem Label; bisweilen ist auch von der „Trendwende Rüstung“ (Krause 2019, S. 2–6) die Rede. Das spiegelt allerdings auch den Sachverhalt, dass es für diesen Reformschwerpunkt kein einheitliches und zugleich umfassendes Planungsdokument gibt, sondern die Trendwende Material resultiert aus mehreren, zeitlich gestaffelten Einzeldokumenten, die zwar aufeinander aufbauen, aber letztlich doch keinen integralen Gesamtrahmen abgeben. Die dafür zentralen Grundsatzpapiere sind daher im Folgenden auf ihr Reformpotential zu prüfen.

3.1 Das Jahr 2016: Das Weißbuch der Bundesregierung

Vom Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr des Jahres 2016 waren daher auch für die Bewältigung der Materialproblematik wegweisende Grundsätze zu erwarten (Jacobi und Hellmann 2019). Aber erst im zweiten Teil des Dokuments, das schon durch seinen Titel große perspektivische Breite signalisiert, steht die Streitkräftereform wirklich im Fokus, und das auch nur auf rund 50 locker gesetzten und mit vielen großformatigen Bildern garnierten Seiten (BMVg 2016, S. 87–139).

Immerhin: Gerade die Ausrüstungsmisere der Bundeswehr wurde in dieser Zeit in ihrer Dimension schon richtig erkannt, und insbesondere die seit 2014 laufende Bestandsaufnahme des gesamten Rüstungsmanagements deutete darauf hin, dass diesem Kardinalproblem nun umfassend begegnet werden sollte. Gemäß Weißbuch wurde dafür unter Einbindung externer Berater eine „Agenda Rüstung“ formuliert, die eine „Definition eines rüstungspolitischen Kurses zur strategischen Ausrichtung des Rüstungswesens“ umfasste, eine „Festlegung operativer Zielrichtungen zur Modernisierung des Rüstungswesens“ vornahm sowie „den Aufbau sowie die Optimierung tragfähiger Grundlagen zur Sicherstellung der Steuerungs- und Kontrollfähigkeit“ (BMVg 2016, S. 126) des Rüstungswesens projektierte.

Neben der Verbesserung der Projektsteuerung und der „Stärkung des Vertragswesens“, einer personellen Stärkung des Rüstungsbereichs sowie einem neu eingeführten „Risikomanagement“ legt diese Agenda besonderen Wert auf die multinationale Kooperation: „Eine eigenständige, leistungsfähige und wettbewerbsfähige Verteidigungsindustrie in Europa einschließlich der nationalen Verfügbarkeit von Schlüsseltechnologien ist unverzichtbar“, und Kooperation und wohl auch Kosteneffizienz sollen durch den „Lead-Nation Ansatz“ (BMVg 2016, S. 127) gestärkt werden.

Über diese allgemeinen Grundsätze hinaus findet sich jedoch auf den folgenden Seiten des Weißbuchs kaum Konkretes zu den rüstungsplanerischen Inhalten. Stattdessen wird einem „Kulturwandel“ des Rüstungsmanagements das Wort geredet, dessen „Erfolgsfaktoren […] die Umsetzung einer wertebasierten Führungskultur, das Vorleben einer Wahrheits‑, Streit- und Fehlerkultur sowie die Aus‑/Weiterbildung von Führungskräften für eine solche Kultur“ (BMVg 2016, S. 128) seien. Und die wenigen Restseiten zur Thematik sind dann zumeist nur dem Prozessaspekt dieses Rüstungsmanagements („Multinationale Rüstungskooperation mit neuem Ansatz“, „Transparenz als strategisches Prinzip“) gewidmet.

Lediglich die Passagen zur „Innovation als Schüssel der Zukunftssicherung“ werden auch inhaltlich etwas konkreter, aber mit einem technologieversessenen Tenor, den ich gerade schon mit einem Fragezeichen versehen habe: „Rüstung muss deshalb auch Hochtechnologie sein“ heißt es dort, „denn die Wirkung der Schutztechnologie hat sich im 20. Jahrhundert wesentlich verbessert; gleichzeitig wurden Wirksysteme präziser und reduzierten damit potenziell auch den Schaden für Unbeteiligte; zudem sind Einsätze heute hochvernetzt – über Satellitenanbindung und verschlüsselte Kommunikation“ (BMVg 2016, S. 131). Dass die Projektverantwortlichen dabei gerade von den letzten Punkten nicht selbst nachdenklich gestimmt werden, ist wiederum bedenklich. Denn sie verdeutlichen ja doch zwischen den Zeilen, wie störanfällig solche Kommunikationssysteme sind.

Darüber hinaus fehlen genauere Angaben zur nötigen Reichweite dieser Rüstungsplanung. Das kann schon deshalb nicht gelingen, weil das Hauptaugenmerk der Planer nur auf den Präsenzbestand der Streitkräfte gerichtet ist. Vernünftige Ausrüstungskonzepte müssten stattdessen auch die im Spannungsfall notwendig werdende Aufwuchsorganisation berücksichtigen, denn eine Armee im Einsatz ist naturgemäß wesentlich umfangreicher als im Frieden (Sebaldt 2017, S. 25–26). Und schließlich finden sich auch keinerlei Ausführungen zur Sicherstellung des in solchen Situationen notwendig werdenden laufenden Rüstungsnachschubs.

Gerade dies macht die wahre Dimension der gesamten Rüstungsmisere deutlich: Wenn es schon in Friedenszeiten Probleme bereitet, die spärlichen Kampftruppenverbände mit ihrer Sollausstattung zu versehen, wie soll dann in Einsatzzeiten mit hohem Materialverschleiß und insbesondere nach dem Aufwuchs zusätzlicher Verbände eine nachhaltige Logistik sichergestellt werden? Darauf liefert das Weißbuch mit seinem eigenwilligen „Strategieverständnis“ (Fuhrmann 2019) keinerlei Antworten, und eine derartige „Strategieentwicklung“ des BMVg (Richter 2019) führt deshalb auch nicht wirklich weiter.

3.2 Das Jahr 2018: Die Konzeption der Bundeswehr

Zwei Jahre nach dem Weißbuch wurde dann auch die neue Konzeption der Bundeswehr (KdB) (BMVg 2018a) in Kraft gesetzt, die das veraltete Vorläuferdokument von 2012 ersetzte und insbesondere der Umsetzung der Weißbuch-Grundsätze diente (Sebaldt 2018). Aber auch hier fällt auf den ersten Blick eine kompositorische Unwucht auf, die nicht ohne Folgen für die hier relevante inhaltliche Substanz bleibt. Denn erst nach 65 Seiten allgemeinem militärpolitischem Präludium wird es in Abschnitt 6 auf den verbleibenden 15 Restseiten mit „Vorgaben zu den Gestaltungsbereichen“ etwas konkreter.

Darunter werden die Bereiche „Organisation“, „Personal“, „Ausbildung Streitkräfte und Übungen“, „Material und Ausrüstung“, „Infrastruktur, Dienstleistungen und gesetzliche Schutzaufgaben“ sowie „Konzeption und Konzepte“ verstanden. In sechs Einzelabschnitten („Aufgabenorientierte Ausstattung“, „Modularität und Interoperabilität“, „Informationstechnik“, „Ausrüstung und Nutzung“, „Portfoliomanagement“, „Zusammenarbeit mit der gewerblichen Wirtschaft“) werden dann in der weiteren Folge wesentliche Aspekte der Materialproblematik konsekutiv abgearbeitet.

Generell ist demzufolge für die „Grundaufstellung der Bundeswehr […] die unmittelbare Verfügbarkeit der zur jeweiligen Aufgabenwahrnehmung erforderlichen materiellen Ausstattung (‚aufgabenorientiert‘) in allen militärischen Truppenteilen (‚strukturgerecht‘)“ vorgesehen, und der „materielle Soll-Ausstattungsumfang“ muss dem künftig „vollständig entsprechen“ (BMVg 2018a, S. 72). Die beigefügte Fußnote präzisiert das dann eher nebenbei: Dies gelte für alle aktiven und „grundsätzlich auch [für] die nicht-aktiven [sic!] Truppenteile“. Die derzeitige Ausstattungsmisere, wo nichtaktive Gliederungen mangels eigenen Geräts auf das Material des jeweiligen aktiven Partnerverbands zurückgreifen müssen, gehört damit hoffentlich bald der Vergangenheit an – vorausgesetzt allerdings, dass vom Grundsatz im juristischen Begriffssinne nicht zu viele Ausnahmen gemacht werden.

Und man denkt richtig weiter:

Der der Grundaufstellung der Bundeswehr folgende Soll-Ausstattungsumfang wird für alle anderen Aufgaben, Verpflichtungen oder Einsätze, soweit geeignet, ebenfalls genutzt (Mehrrollenfähigkeit). Können die materiellen Bedarfe nicht vollständig aus der Grundaufstellung gedeckt werden, ist die aufgabenorientierte Ausstattung durch Missionspakete zu ergänzen (BMVg 2018a, S. 73).

Soll heißen: Jeder Verband erhält eine Grundausstattung, die ihn für alle Bundeswehraufgaben gleichermaßen befähigt, und erhält missionsspezifisch zusätzliches Material, wenn es aufgrund von Ausfällen oder spezifischen Anforderungen des Auftrags erforderlich ist.

Diese Ausstattung ist gemäß KdB konsequent modular und interoperabel zu gestalten, auch dies ein richtiger und zugleich kostendämpfender Grundsatz. „Normung und Standardisierung als wesentliche Voraussetzungen zum Erreichen von Interoperabilität“ (BMVg 2018a, S. 74) sind dabei unabdingbar, wie auch die eng damit verbundene Modernisierung der IT: „Hier muss der Digitalen Agenda der Bundesregierung, dem Regierungsprogramm ‚Digitale Verwaltung 2020‘, dem Digitalen Aktionsplan der EU-Kommission und den Datenschutzvorgaben auch in Zukunft in einer vernetzten Welt Rechnung getragen werden“ (BMVg 2018a, S. 74).

Wenngleich ich weiter oben vor einem zu unkritischen Glauben an die digitalen Segnungen gewarnt und auch den Nutzen der traditionellen Analog-Technik in Katastrophenzuständen betont habe, ist die Herangehensweise der KdB an dieser Stelle transparent und konkret. Denn natürlich ist die Digitalisierung der Bundeswehr kein Soloprojekt des BMVg, sondern ein interministeriell zu planendes Vorhaben (Sensburg 2017). Zusammen mit den gerade beschriebenen Ausrüstungs- und Materialgrundsätzen ergibt das schon ein brauchbares Bild der künftigen Materialplanung der Bundeswehr.

Konsequent wird anschließend zu den Beschaffungswegen weitergeschritten, und auch hier sind die Bestimmungen erfreulich konkret und praxisgerecht: „Zur Beschaffung von Ausrüstung und Dienstleistungen stützt sich die Bundeswehr im erforderlichen Umfang auf zeitnah verfügbare bzw. handelsübliche Produkte und Dienstleistungen und Leistungen von NATO und EU ab“ (BMVg 2018a, S. 75). Das ist wohltuend pragmatisch und auch einsatztauglich. Und weiter: „Im Zweifelsfall ist der rechtzeitig verfügbaren Kauflösung der Vorzug vor einer komplexen langwierigen Systementwicklung zu geben“, und „zivile Normen und Standards sind anzuwenden, sofern nicht zwingende militärische Forderungen oder internationale Kooperationserfordernisse dem entgegenstehen“ (BMVg 2018a, S. 75).

Dies alles bleibt zwar am Ende recht allgemein, aber mit ein wenig Phantasie kann wenigstens der militärisch Vorgebildete grob erahnen, was dies etwa für die Materialbeschaffung bzw. Modernisierung eines Panzergrenadierbataillons künftig bedeuten wird, und auch die Grundlinien der neuen streitkräfteweiten Logistikplanung sind daran gut abzulesen. Ein generelles Manko bleibt jedoch auch in diesem zentralen Planungsdokument, und das reduziert seine rüstungsstrategische Substanz dann eben doch gravierend: Es stehen erneut zu sehr die Muster und Prozesse der Beschaffungsorganisation im Fokus! Inhaltliche, strategisch-konzeptionell hergeleitete Beschaffungsrichtlinien dagegen werden nur angedeutet. Hier schreibt die KdB also ein Defizit fort, das bereits beim Weißbuch irritierte.

3.3 Das Jahr 2019: Die Strategie der Reserve

Im Folgejahr trat noch die neue Strategie der Reserve 2019. Vision Reserve 2032+ (SdR) (BMVg 2019b) zu dieser Dokumentenlandschaft hinzu und komplettierte sie insoweit, als nun die bisher vernachlässigte Mobilisierungsproblematik im Mittelpunkt steht (Sebaldt 2019). Die zentralen Passagen selbst definieren zunächst neun „Kernelemente“ der SdR, mit welchen die „Vision Reserve 2032+“ über zwei (nicht näher definierte) Zwischenziele 2023 und 2027 bis zum Ende des Jahres 2031 realisiert werden soll: Diese Kernelemente laufen nacheinander unter den Labels „Systematik“, „Freiwilligkeit“, „Schwerpunkt [Beorderung in der Verstärkungsreserve, Anmerkung des Autors]“, „Grundbeorderung“, „Verlässliche Verfügbarkeit“, „Ausstattung“, „in Übung halten“, „Aufwuchs“ sowie „Verankerung“ (BMVg 2019b, S. 14).

Die Material- und Ausstattungsproblematik wird also auch in der SdR angegangen, denn dass Ergänzungstruppenteile für Ausbildungen und Übungen häufig immer noch auf das Gerät des jeweiligen aktiven Partnerverbandes zurückgreifen müssen, ist längst als Missstand erkannt (Sebaldt 2017, S. 90–91). Immerhin gilt nun, dass diese Reserve „zur Erfüllung ihres Auftrags mit hierfür erforderlichem Großgerät, Fahrzeugen und Material“ auszustatten ist, und explizit: „dies schließt die IT ein“ (BMVg 2019b, S. 31)! Als Selbstverständlichkeit wird hinzugefügt, dass „sich eine identische Ausstattung wie die der aktiven Truppe in vielfacher Weise positiv“ (BMVg 2019b, S. 31) auswirke.

Allerdings irritiert dann schon, dass die konkrete Umsetzung dieses Vorhabens nur recht unscharf skizziert wird. Denn neben der Beschaffung ist bei Reservegliederungen ja insbesondere die laufende Bewirtschaftung eine Herausforderung, da kaum aktives Personal zur Verfügung steht (Müller 2013). Das bedarf der präzisen Vorplanung. Stattdessen liest man nur pauschal: „Die Instandhaltung und Bewirtschaftung des Materials der Reserve ist durch die OrgBer [Organisationsbereiche, Anmerkung des Autors] im Rahmen der Wahrnehmung der Betriebs- und Versorgungsverantwortung in Abstimmung mit dem bzw. der Materialverantwortlichen für die Einsatzreife zu regeln“ (BMVg 2019b, S. 31). Mehr gibt der einseitige Kurzabschnitt der SdR zu den „Grundsätze[n] der Material- und Ausrüstungsplanung“ nicht her.

Aber auch damit wäre es natürlich nicht getan, denn gerade die Territorialorganisation besitzt militärische Alleinstellungsmerkmale, die auch Auswirkungen auf die Materialausstattung haben: Für den Heimat- und Katastrophenschutz braucht es eben andere Gerätschaften als für den Kriegseinsatz. Zudem sollte man hier zumindest prinzipiell ein Praktikabilitätsproblem ansprechen und auch planerisch anpacken, mit dem gerade die Reserve konfrontiert ist: Je komplexer Waffen- und Führungssysteme werden, desto schwieriger wird ihr Einsatz in nichtaktiven Truppenteilen, da dafür eben eine regelmäßige intensive Ausbildung nötig ist (Sebaldt 2017, S. 84–87).

4 Die Realität: Trendwende Material im Spannungsfeld der Perspektiven

Seit nunmehr rund fünf Jahren steht die deutsche Rüstungsplanung also im Zeichen der Trendwende Material. Sie resultierte aus der richtigen Erkenntnis, dass die gravierenden Ausstattungsprobleme der Bundeswehr einen umfassenden Neustart dieser Planung erforderlich machen (Krause 2019, S. 1). Schon auf der konzeptuellen Ebene zeigte sich aber, dass die rüstungsstrategische Herangehensweise der faktischen Dimension und Komplexität dieser Herausforderung nicht gerecht wird: Weißbuch, KdB und SdR bleiben dazu entscheidende Antworten schuldig.

Unbeschadet dessen ist nun aber in einem dritten Schritt noch zu analysieren, ob es der deutschen Bundeswehrplanung wenigstens in der Praxis gelingt, die angesprochenen Probleme effektiv anzugehen. Denn das Fehlen einer umfassenden, durchdachten Rüstungsstrategie bedeutet ja nicht zwingend, dass auch praktische Reformerfolge ausbleiben müssen. Denn diese können auch Resultat pragmatischer Ad-hoc-Planungen sein, die in den militärpolitischen Rahmendokumenten nicht abgebildet sind.

Gerade das Jahr 2019 bietet in dieser Hinsicht mehrere Ansatzpunkte, um den faktischen Wirkungsgrad der Trendwende Material zu evaluieren: Mit Annegret Kramp-Karrenbauer übernahm im Juli des Jahres eine neue Verteidigungsministerin auch das Amt der obersten Rüstungsplanerin und stand daher vor der Aufgabe, in ihrer ersten Regierungserklärung einen generellen Situationsbericht zu präsentieren (Kramp-Karrenbauer 2019). Im Dezember folgte der 10. Rüstungsbericht, der die Details zu liefern hatte (BMVg 2019c). Und der letzte Bericht des scheidenden Wehrbeauftragen Hans-Peter Bartels vom Januar 2020 hatte abschließend die Aufgabe, auch die faktische Reichweite der Trendwende Material zu bilanzieren (Bartels 2020). Diese Aktivitäten werden nun nachgezeichnet.

4.1 Trendwende im Blick: Die Sicht der Regierung

Kramp-Karrenbauer trat am 24. Juli 2019 unmittelbar nach ihrer Vereidigung an das Rednerpult des Deutschen Bundestages, um mit ihrer Regierungserklärung bisher Geleistetes zu bilanzieren und künftige Herausforderungen zu benennen. So jedenfalls liest sich der verheißungsvolle Titel: „In Verantwortung für die Zukunft Deutschlands. Für eine starke Bundeswehr in einer Welt im Wandel“ (Kramp-Karrenbauer 2019). De facto steht dahinter jedoch nur eine Kurzskizze von sechs locker gesetzten Manuskriptseiten, die meilenweit hinter den geweckten Erwartungen zurückbleibt und infolgedessen auch die hier im Fokus stehende Rüstungsproblematik nur kurz anreißt.

Thematisch einschlägig ist dabei zum einen die noch einmal betonte Verpflichtung auf das Ziel, die Verteidigungsausgaben bis zum Jahr 2024 auf 1,5 % des deutschen Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Das bleibt zwar nach wie vor hinter der schon 2002 in der NATO vereinbarten und 2014 noch einmal offiziell bekräftigten Marke von 2,0 % zurück (Krause 2018), geht aber in die richtige Richtung, da mit dieser deutlichen Anhebung des Verteidigungsetats auch die rüstungspolitischen Spielräume wachsen. „Nach 25 Jahren des Sparens“ habe man nun „den Schalter umgelegt“, und dies zeige Wirkung: „Die Bundeswehr wächst wieder. Personal und Material: Alle Trendlinien zeigen endlich wieder aufwärts. Diese Trendwenden will ich fortsetzen, und diese Trendwenden müssen dauerhaft abgesichert werden“ (Kramp-Karrenbauer 2019, S. 4).

Doch nur wenige anschließende Sätze genügen, um dieses optimistische Bild gerade mit Blick auf die Trendwende Material zu destruieren. Zum einen bezüglich der „dringend benötigten Großprojekte“, bei denen bis zum Herbst des Jahres entschieden werden solle, „wann wir in dieser Legislaturperiode mit welchen Projekten in dieses Parlament zur Entscheidung gehen“ (Kramp-Karrenbauer 2019, S. 5). Hier fragt man sich also schon, ob eine jetzt schon festgestellte Trendwende bereits darin liegt, auch erst künftig zu treffende Entscheidungen gleich mit in das Urteil einzupreisen.

Aber bei den bekannten Großprojekten, wie der Beschaffung neuer Kampfflugzeuge und Kampfpanzer, bleibt die Ministerin nicht stehen, sondern nimmt richtigerweise auch die Erfordernisse des militärischen Grundbetriebs in den Blick, der der eigentliche Lackmustest für eine wirksame Material-Trendwende ist. Aber auch hier wartet die Ministerin nach über fünf Jahren Trendwende Material mit keiner Erfolgsbilanz auf, sondern erneut mit einem geradezu hilflos wirkenden Wechsel auf die Zukunft:

Unsere Soldatinnen und Soldaten sollen Tag für Tag erleben, wie die Lücken bei Material und Ausrüstung endlich geschlossen werden: dass sie das bestmögliche Gerät, die bestmögliche Ausrüstung, die modernste persönliche Ausstattung nicht nur im Einsatz, nicht nur bei großen Übungen, sondern schon für die tägliche Ausbildung haben, dass wir genügend Flugstunden, einsatzklare Schiffe und gefechtsbereite Panzer haben, dass die Munitionslager voll sind, die Ersatzteile schnell ankommen, auch in der Fläche. Unsere Soldatinnen und Soldaten sollen das Gerät beherrschen, das sie im Einsatz nutzen. Wenn jeder Soldat das Gerät hat, das er für seine Aufgabe braucht – und ich betone: in seiner Einheit und nicht auf Leihschein [sic!] –, dann ist die Bundeswehr wirklich auch ein attraktiver Arbeitgeber, und daran arbeiten wir (Kramp-Karrenbauer 2019, S. 5).

Mit dieser kurzen und zugegebenermaßen ungeschönten Zustandsbeschreibung ließ es die Ministerin dann aber auch bewenden, wobei gerade der letzte Satz doppelt entlarvend ist. Denn zum einen wird hier nun auch öffentlich auf die dramatischen Materialengpässe hingewiesen: Eine Truppe, die auf „Leihschein“ arbeitet, ist weder einsatzbereit noch steht sie für eine Trendwende Material. Zum anderen wird die Bundeswehr wieder nur als „attraktiver Arbeitgeber“ begriffen, was eine langjährige, fatale perspektivische Engführung fortschreibt (Sebaldt 2017, S. 58): Streitkräfte dürfen nicht primär als Arbeitgeber begriffen werden, sondern sind der bewaffnete Arm unserer Demokratie, dessen Effektivität sich gerade im Kriegsfall erweisen muss – also in einem Szenario mit auf Einsatzstärke angewachsenen Großverbänden, die ein Mehrfaches der jetzigen Präsenzstärke ausmachen und einsatzbedingt ein Vielfaches an Materialbedarf geltend machen werden. Das ist der eigentliche militärische Planungshorizont, und das hat die Ministerin offensichtlich nicht im Blick.

4.2 Trendwende im Lauf: Die Sicht der militärpolitischen Führung

Der im Dezember 2019 vorgelegte 10. Bericht des Bundesministeriums der Verteidigung zu Rüstungsangelegenheiten (BMVg 2019c) bot deshalb die Gelegenheit, bisher Versäumtes nachzuholen und die recht pauschal gebliebenen Ankündigungen der Ministerin zu konkretisieren. Zwar ist traditionell nur der erste Teil solcher Rüstungsberichte öffentlich zugänglich, während der zweite – wie auch das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr von 2018 (BMVg 2018b) – nur intern Verwendung findet und Geheimhaltungsbestimmungen unterliegt. Aber auch dieser veröffentlichte Teil gibt genügend Aufschluss darüber, ob Ausrichtung und Schwerpunktsetzungen militärischer Materialplanung den Anforderungen genügen.

In den zwei Kapiteln dieses öffentlichen Teils wird zunächst das „Rüstungswesen“ generell in den Blick genommen, gefolgt von ausstattungsspezifischen Informationen, in denen nicht weniger als neunzehn Einzelprojekte aus Heer, Luftwaffe und Marine genau erläutert werden. Dahinter verbergen sich die weiter oben schon exemplarisch angesprochenen zentralen Beschaffungsprojekte (u. a. Schützenpanzer Puma, Eurofighter, Korvette K130). Auf diese projektbezogenen Einzelheiten soll an dieser Stelle nicht genauer eingegangen werden, da dieser Aspekt gleich anschließend in der Analyse des Wehrbeauftragten-Berichts im Fokus stehen wird.

In den Blick genommen wird stattdessen der erste Teil, in dem die rüstungspolitische Gesamtbilanz zu finden ist. Diese erfolgt unter explizitem Verweis auf ein „Maßnahmenpaket“ der Ministerin vom 19. September 2020 „zur Verbesserung der Rahmenbedingungen“ der „Beschaffungs- und Nutzungsorganisation“ (BMVg 2019c, S. 5).

Dabei stehen fünf Schwerpunkte im Zentrum, die schon in dieser Listung viel über die rüstungspolitische Grundlinie verraten (BMVg 2019c, S. 19–28): Aussagen zum „Veränderungsmanagement“ bilden den Auftakt, gefolgt von einem kurzen Abschnitt zur internationalen „Rüstungskooperation“. Daran schließt dann thematisch recht unvermittelt die Rubrik „Customer Product Management“ (CPM) an, mit den recht enumerativ gelisteten Unterabschnitten zur CPM selbst, zur „[i]ndividuelle[n] Nachtsehfähigkeit [sic!]“ und zur neuen „Agenda Nutzung“, auf die die Ministerin in ihrer Regierungserklärung bereits kurz hingewiesen hatte. Abschließend wird noch auf das Projekt „Einkauf Bundeswehr“ eingegangen.

Aufschlussreich und leider auch entlarvend ist diese Listung deshalb, weil sie eben auch die thematischen Blindstellen offenlegt: Zwar ist es durchaus richtig und wichtig, Organisation und Prozess der Beschaffungsorganisation zu optimieren. Noch wichtiger für eine erfolgreiche Trendwende Material wäre aber einmal mehr der präzise Aufweis der inhaltlich-programmatischen Grundlagen bzw. der militärischen Zweckbestimmungen, welchen diese derart optimierte Rüstungsorganisation zu dienen hat. Das bleibt das Dokument aber auch nach einer genauen Durchsicht der genannten Abschnitte schuldig.

Der Reihe nach: Der kurze Passus zum „Veränderungsmanagement“ beschränkt sich im Wesentlichen auf einige allgemeine Bemerkungen zur Organisations- und Prozessoptimierung, als deren „kultureller Kompass [sic!]“ das „Zielbild für das Rüstungsmanagement in der Bundeswehr“ aus dem Jahr 2015 dient (BMVg 2019c, S. 20). Dabei verfolgte inhaltliche Planungsgrundsätze werden allerdings nicht erwähnt, was leider auch für den anschließenden Abschnitt „Rüstungskooperation“ gilt, der nur exemplarisch und erneut recht enumerativ die Zusammenarbeit mit Frankreich, den Niederlanden, Norwegen, den baltischen Staaten und Ungarn in den Blick nimmt, aber eine konzise Zusammenfassung der Kooperationsgrundsätze schuldig bleibt.

Nach inhaltlich ebenso dürftigen Passagen zum CPM wird es zumindest bei der Beschreibung künftiger Nachtsehfähigkeiten der Bundeswehr etwas konkreter: 20 spezifische Beschaffungsprojekte der „plattformungebundenen Nachtsehfähigkeit“ zählen dazu, darunter verschiedene Nachtsichtbrillen, Fernrohre, Wärmebildbeobachtungsgeräte, Zielhilfsmittel und Zielgeräte (BMVg 2019c, S. 24). Das ist zwar nun gerade im Vergleich zu den unscharfen Pauschalismen des Veränderungsmanagements erfreulich gegenständlich, bringt aber für das eigentliche Ziel wiederum nichts, weil nun in das andere Extrem verfallen wird: Denn auch an solch spezifischen und konkreten Beschaffungsmaßnahmen kann man eben nicht genau ablesen, von welchen rüstungspolitischen Grundsätzen sie geleitet sind.

Konkret: Nachsichtfähigkeit ist ja nicht nur ein generelles Erfordernis, sondern muss auch gegnerspezifisch ausgeplant sein (Weh 2018). Denn bei einem modern ausgestatteten Feind muss die Truppe beispielsweise von Infraroterkennungsfähigkeiten ausgehen, die den Einsatz eigener Infrarotscheinwerfer gefährlich machen und eher für passiv arbeitende Restlichtverstärker und Wärmebildsysteme sprechen. Was man sich also in asymmetrischen Konfliktszenarien vielleicht noch leisten kann, wo solche Fähigkeiten auf Feindseite (noch) nicht existieren, wird in symmetrischen Kriegssituationen nicht angehen. Kurzum: Auch hier zeigt sich einmal mehr das Erfordernis, konkrete Beschaffungsmaßnahmen immer zur systematischen Zweckbestimmung in Bezug zu setzen, die wiederum nur aus einer ganzheitlichen Zweckbestimmung moderner Streitkräfte erwachsen kann.

Dieses Erfordernis bleibt auch die von der Ministerin schon in ihrer Regierungserklärung avisierte „Agenda Nutzung“ schuldig, die anschließend noch erläutert wird. Denn deren Teilprojekte Strategie, Steuerung, Einsatzbereitschaft Waffensysteme Land, See und Luft, Management, Datenmanagement sowie „Performance-Based-Ansätze [sic!]“ (BMVg. 2019c, S. 26) beschränken sich eben wiederum auf organisatorische und prozessbezogene Aspekte. Gerade das Teilprojekt Strategie könnte da durchaus ambitionierter ausfallen, dient aber faktisch im Wesentlichen der „Darstellung der komplexen Regelungslandschaft in der Nutzung mit dem Ziel der Erstellung eines Lagebildes über alle aktiven Regelungen mit Nutzungsbezug“ und zur Formulierung „strategische[r] Zielvorgaben zur Ausgestaltung der Nutzung“ (BMVg 2019c, S. 25). Darüber hinaus soll sie einen „30-Tage-Einsatzvorrat an Ersatz- und Austauschteilen (ET/AT) über das gesamte Produktspektrum“ (BMVg 2019c, S. 25) gewährleisten – immerhin wieder einmal recht konkret, aber erneut nicht ganzheitlich-systematisch hergeleitet!

4.3 Trendwende missglückt: Die Sicht des Kontrolleurs

Auf diesem Planungs- und praktischen Erfahrungshintergrund leitete dann der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hans-Peter Bartels, dem Parlament am 28. Januar 2020 seinen neuen und gleichzeitig letzten Jahresbericht zum Zustand der Bundeswehr zu (Bartels 2020). Für das vorliegende Essay bietet er folglich einen guten Abschluss, weil er zum einen die vorgelagerten Reformpläne und -maßnahmen evaluiert und zugleich mit Blick auf die aktuelle Situation der Bundeswehr auf neuestem Stand ist. Anspruch und Realität deutscher Rüstungspolitik können gerade auf dieser Basis gut verglichen werden.

Neben den anderen Trendwenden und den üblichen Problemen im Soldatenalltag und bei der Inneren Führung unternimmt Bartels dabei auch eine Würdigung der Trendwende Material. Bereits in der Einleitung dieses Essays habe ich darauf verwiesen, dass ihr Gesamttenor äußerst kritisch ausgefallen ist. Eine Trendwende, so Bartels sinngemäß, sähe anders aus. Im weiteren Verlauf seines Berichts macht er darüber hinaus aber auch deutlich, welcher Erfolgsmaßstab dabei anzulegen ist: Eben nicht die vergleichsweise kleine Präsenzarmee, sondern die auf Einsatzstärke angewachsenen Streitkräfte für den Ernstfall. Sein Hinweis dazu ist glockenklar:

In den 1980er Jahren rüstete die Bundeswehr 1,3 Millionen Soldaten für den Mobilmachungsfall aus. Das musste damals funktionieren. Es galt, durch präsente Stärke und Abschreckung den Dritten Weltkrieg zu verhindern. Darüber können die heute gut 180.000 aktiven Soldatinnen und Soldaten nur staunen (Bartels 2020, S. 46).

Aber selbst für die zahlenmäßig begrenzten Präsenzverbände ist sein Gesamturteil ernüchternd: „Es gibt seit Jahren keine wesentlichen nachhaltigen Verbesserungen“ (Bartels 2020, S. 43). Und er setzt verbittert hinzu:

Alles geht zu schleppend voran. 2031 ist die offizielle Zielmarke für die Vollausstattung, festgelegt im sogenannten Fähigkeitsprofil der Bundeswehr. 2023 soll allerdings gerade einmal eine Brigade des Heeres (von bisher siebeneinhalb) voll ausgerüstet sein, 2027 eine ganze Division (drei Brigaden), 2031 dann drei Divisionen. Doch von diesen Zielen rückt das Verteidigungsministerium schon wieder ab, weil sie heute offenbar weder materiell noch personell noch finanziell als vollständig realisierbar erscheinen. Jetzt ist die Rede von einer personell teilweise gekaderten, das hieße mit Reservisten aufzufüllenden dritten Division und von Zeitverzug bei der materiellen Vollausstattung (Bartels 2020, S. 43).

Dieses vernichtende Gesamturteil unterlegt der Wehrbeauftragte dann mit einer engmaschigen Evaluation wichtiger Hauptwaffensysteme der Teilstreitkräfte, die damit exemplarisch für die gesamte Ausstattungsmisere der Bundeswehr stehen: Von den 284 eingekauften Schützenpanzern Puma sei nur ein Viertel einsatzbereit, beim noch in Nutzung befindlichen Vorgängermodell Marder betriebe die Truppe mangels neuer Ersatzteile das Ausschlachten von in Reparatur befindlichen Exemplaren. „Und wieso braucht es sieben Jahre, um 100 alte Kampfpanzer auf den modernsten Stand hochzurüsten, wenn zur selben Zeit die gleiche Industrie in zwei Jahren 50 nagelneue Kampfpanzer für eine andere Nation bauen kann?“ (Bartels 2020, S. 43). Einen sehr geringen Bereitschaftsgrad weisen im Bereich der Heeresfliegerei auch die Hubschrauber Tiger, NH-90 sowie die betagte CH-53 auf.

Dieser Zustandsbericht des Jahres 2020 gleicht also frappierend dem von mir eingangs beschriebenen Szenario, wie es vor Beginn der Reformmaßnahmen bereits existierte! Gleiches gilt sinngemäß für den derzeitigen Gesamtbestand von 93 Tornado-Kampfflugzeugen der Luftwaffe, von denen weniger als ein Viertel einsatzbereit seien. Mit den Transportkapazitäten verhält es sich nicht besser: Nur ein Bruchteil der neuen und defektanfälligen Transportflugzeuge A400M ist überhaupt nutzbar – auch dies altbekannt –, weswegen die veraltete, aber wenigstens zuverlässige Transall C‑160 erneut weiter in Nutzung gehalten werden muss (Freiwah 2019).

Besonders kritisch würdigt Bartels dann noch den Zustand der Marine, der bei solchen Bestandsaufnahmen gerne einmal übersehen wird: „Unsere Marine war nie kleiner als heute. Von den 15 größeren Kampfschiffen, die auf dem Papier stehen, existieren in der Realität der Flotte 2020 […] neun. Es gibt kaum verlässliche Terminpläne für den Zulauf neuer Schiffe“ (Bartels 2020, S. 44). Sinngemäß stellt er dann auch dem Bereich der Marine-Luftfahrt ein schlechtes Zeugnis aus, wo mit Blick auf den Zulauf neuer Waffensysteme (Sea Lion) und hinsichtlich nötiger Nutzungsverlängerungen veralteter Modelle (Sea King) ähnliche Mangelbewirtschaftung vorherrsche wie bei der Luftwaffe.

Eine entscheidende Ursache sieht der Wehrbeauftragte dabei völlig zurecht in der defizitären Beschaffungsorganisation. Das ist im BMVg zwar längst als zentraler Mangel erkannt, und der vom Ministerium eingesetzte Expertenrat zur Optimierung der Beschaffungs- und Nutzungsorganisation rückte das in seinem Abschlussbericht 2019 auch als kardinale Herausforderung in den Fokus. Gleichwohl: Die Wirksamkeit der seit Herbst 2019 beim Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr angelaufenen entsprechenden Reformmaßnahmen kann erst in ein paar Jahren präziser evaluiert werden (Bartels 2020, S. 46).

Die Truppe kann aber solange nicht warten, und deshalb wird der Bericht des Wehrbeauftragten immer dort besonders scharf, wo es nicht um die Beschreibung genereller Strukturprobleme der Bundeswehr geht, sondern um die Nöte der einzelnen Soldaten und Verbände. Besonders drastisch gestalte sich das derzeit beim Jägerbataillon 1 in Schwarzenborn: „Nachtsichtgeräte, so die Soldatinnen und Soldaten, seien Mangelware, und der Aufwand, sich diese und andere Ausrüstungsgegenstände oder Großgerät bei anderen Verbänden zu borgen, sei groß“ (Bartels 2020, S. 47).

Damit wird im Übrigen erneut auf eine schon lange übliche soldatische Beschaffungspraxis verwiesen, die zwar vom Improvisationstalent der Truppe zeugt, aber natürlich untragbar ist. Und um der Angelegenheit noch die Krone aufzusetzen, wird auch der damit verbundene bürokratische Aufwand gnadenlos offengelegt: „Für das Ausleihen und die Übergabe eines Radpanzers GTK Boxer gebe es beispielsweise 70 Anlageblätter. Allein hierfür brauche man einen halben Tag und extra Personal“ (Bartels 2020, S. 47).

Kurzum: Der aktuelle Bericht des Wehrbeauftragten entlarvt die Trendwende Material als Luftbuchung. Punktuellen Erfolgen stehen nach wie vor gravierende Schwächen gegenüber, die die materielle Einsatzbereitschaft der Truppe nicht nur insgesamt schädigen, sondern ganz konkret spürbar für jeden einzelnen Soldaten. Und auch aus seiner Fürsorgefunktion als Wehrbeauftragter heraus ist daher gut nachvollziehbar, dass Bartels diese Mängeldiagnose schon zu Beginn seines Reports mit einer Aussage einleitet, die alles schon sagt: „Nicht zu verstehen ist, dass es bisher nicht einmal gelungen ist, die Soldatinnen und Soldaten komplett mit neuer persönlicher Ausrüstung auszustatten, etwa mit Schutzwesten“ (Bartels 2020, S. 8).

5 Rüstungspolitik im Zeichen des Versagens: Fazit und Folgerungen

Damit schließt sich der Kreis des vorliegenden Essays, denn natürlich sind die Parallelen zwischen dem Ausgangsszenario vor Beginn der jüngsten Rüstungsreformen und dem aktuellen Zustandsbericht des Wehrbeauftragten unverkennbar. Der Vergleich zeigt: Trotz vieler Anläufe ist eine Trendwende Material, die diesen Namen verdient, bloße Illusion. Der Begriff macht nur Sinn, wenn er eine nachhaltige und zugleich substantielle Änderung zum Besseren meint. Davon aber sind wir meilenweit entfernt. Wer unter Trendwende stattdessen nur die Brechung eines Abwärtstrends verstehen möchte, betreibt bloße Kosmetik. Das mag dem lädierten Ego erfolgloser Rüstungsplaner zwar guttun, hilft aber in der Sache nicht weiter, zumal bei der Trendwende Material selbst die Erreichung dieses Minimalziels fraglich ist.

Auch um dieser Strategie der Wirklichkeitsverweigerung entgegenzuwirken, sei deshalb abschließend noch einmal nachhaltig betont, dass das Versagen der deutschen Rüstungspolitik kein bloßes Implementationsproblem ist, sondern Folge fataler konzeptueller Schwächen. Mit anderen Worten: Wer sich lediglich darauf konzentriert, die Schwierigkeiten bei der Beschaffung neuen Geräts, die materielle Einsatzbereitschaft stehender Truppenteile oder die Überbürokratisierung des Beschaffungswesens zu kritisieren, hat des Pudels Kern nicht erkannt. Denn dieser Kern liegt eben darin, dass trotz etlicher Jahre rüstungspolitischer Reformversuche bis heute kein ganzheitliches, inhaltlich substantielles Rahmenkonzept vorliegt, das eine Trendwende Material gezielt anleiten könnte.

Zwei zentrale Schwachpunkte möchte ich an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung rufen: Erstens haben die Rüstungsplaner die komplexen Wechselwirkungen, die bei der militärischen Sachausstattung entstehen, nicht im Blick: Das Ausstattungsproblem der Bundeswehr lässt sich nicht einfach auf den Aspekt der Material-Veraltung reduzieren. Wenn es sich so verhielte, wäre das Problem mit geeigneten Neuanschaffungen schnell vom Tisch. Stattdessen schafft man sich mit Nachfolgesystemen regelmäßig ein Komplexitätsproblem, das vorher so nicht existierte. Moderne Waffensysteme sind technisch differenzierter und damit zugleich reparaturanfälliger und ausbildungsintensiver. Durch ihre digitale Vernetzung sind sie auch wesentlich störanfälliger, und überdies verursachen sie eine Kostenexplosion, die auch durch deutlich steigende Rüstungsetats kaum mehr eingefangen werden kann. Soll heißen: Dieses komplexe Folgenszenario, das auch die Schattenseiten und Gefahren einer übertechnisierten Truppe offenlegen würde, haben Deutschlands Rüstungsplaner nicht im Blick.

Zweitens aber wird Rüstungsplanung nicht in der Dimension betrieben, die für einsatzfähige Streitkräfte nötig wäre. Denn der eigentliche Lackmustest erfolgreicher Rüstungsplanung ist eben nicht der idyllische Friedenszustand, sondern der Kriegsfall. Im Kriegsfall aber müssen Streitkräfte eben auf ein Mehrfaches ihrer Friedensstärke anwachsen, um bestehen zu können. Materialbedarf, -verbrauch, -verschleiß und -verluste wachsen dann um ein Vielfaches an und müssen zudem unter logistischen Ausnahmebedingungen kompensiert werden. Ein „30-Tage-Einsatzvorrat an Ersatz- und Austauschteilen (ET/AT) über das gesamte Produktspektrum“ (BMVg 2019c, S. 25), wie ihn der letzte Rüstungsbericht als zentrales Planungsziel formuliert, wirkt demgegenüber fast schon rührend naiv und weltfremd zugleich. Denn es soll ja schon vorgekommen sein, dass Einsätze länger als 30 Tage dauern.

Gerade mit Blick auf den Großen Krieg als ultimative Herausforderung wird man sich dann auch eingestehen müssen, dass eine hochtechnisierte, hochspezialisierte, langjährig ausgebildete und zahlenmäßig begrenzte Präsenztruppe diesem Szenario nicht mehr gewachsen sein wird. Soll heißen: Mit dem dann nötigen Truppenaufwuchs wird nach der Aussetzung der Wehrpflicht eine Masse bisher ungedienter Soldaten zu den Waffen gerufen werden, die so schnell wie möglich verwendungsfähig gemacht werden müssen. Denn der Krieg tut uns nicht den Gefallen, in Ruhe zu warten, bis wir für ihn bereit sind.

Eine zukunftsweisende Trendwende Material, die alle diese Herausforderungen im Blick hat und unter Berücksichtigung ihrer komplexen Wechselwirkungen zu einem ganzheitlichen Rüstungskonzept verdichten würde, ist auch deshalb nicht einmal ansatzweise auszumachen. Wer Rüstungsplanung nur mit Blick auf die wenigen Präsenzverbände und die kapazitär und zeitlich gut kontrollierbaren Auslandsmissionen fokussiert, hat die Dimension des Nötigen nicht begriffen. Genau das aber ist das Kernproblem der aktuellen Rüstungsplanung: Der große Krieg, für den die Bundeswehr auch und gerade gewappnet sein muss, bleibt ausgeblendet. Immerhin: Seit wenigen Jahren ist es wieder politisch korrekt, vom Krieg zu sprechen (Lather 2015). Die Rüstungsplaner sollten sich daran ein Beispiel nehmen und ihre Maßstäbe entsprechend neu justieren.