1 From decline to “Westlessness”: Die Debatte um eine Transformation der internationalen Ordnung

Die Debatte um eine Entstehung einer multipolaren Weltordnung und der relative ökonomische Niedergang des Westens haben bereits mehrere akademische Konjunkturzyklen hinter sich gebracht. Aktuelle Trends in der internationalen Politik haben jedoch erneut die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit einer Neuordnung der Weltordnung beziehungsweise eine hegemoniale Transformation geweckt: Dazu zählt zum einen, dass sich die USA unter Präsident Donald J. Trump zunehmend von ihrer traditionellen Rolle als liberaler Hegemon verabschieden und selbst dazu beitragen, zentrale Institutionen der liberalen Weltordnung zu beschädigen und das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Führungsmacht untergraben. Zum anderen treten Akteure wie China und Russland, aber auch Mittelmächte wie Saudi-Arabien oder Brasilien selbstbewusster auf, formulieren international oder auch auf regionaler Ebene Führungsansprüche und versuchen, die vermeintliche Orientierungslosigkeit der USA und Europas auszunutzen. Obwohl diese globalen Trends kaum bestritten werden können und die Situation der „Westlessness“Footnote 1 oder der „Contestations of the Liberal Script“Footnote 2 bereits zutreffend diagnostiziert wurde, bleiben weiterhin wichtige Fragen zu diskutieren, etwa: Was sind die Ursachen der globalen Neuordnung; welche Faktoren tragen dazu bei, dass sich Akteure für bestimmte Strategien im Umgang mit der gegenwärtigen Situation entscheiden? Schließlich gibt es signifikante Unterschiede, wie etwa Verbündete der USA (z. B. Deutschland oder Saudi-Arabien) mit der veränderten Rolle Washingtons umgehen. Auch stellt sich die Frage, ob sich die Transformation auf verschiedenen Ebenen der liberalen Ordnung ähnlich oder divergent vollzieht. Während sich im handelspolitischen Bereich erhebliche Umbrüche zeigen und traditionelle Prinzipien und Normen, aber auch Institutionen wie die Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) an Einfluss verlieren, erscheinen andere Regime, etwa die NATO im sicherheitspolitischen Bereich, deutlich resilienter. Die institutionelle Struktur der liberalen Weltordnung sollte also nicht mit den Akteursbeziehungen zwischen Hegemon und untergeordneten Staaten gleichgesetzt werden. Schließlich ist ungeklärt, ob und inwiefern die gegenwärtigen Umbrüche tatsächlich geeignet sind, eine hegemoniale Transformation anzustoßen.

Diesen Fragen im Kontext einer hegemonic transition widmete sich eine internationale Konferenz, die vom 04. bis 05. Oktober 2019 am Heidelberg Center for American Studies (HCA) unter Leitung von Welf Werner (Universität Heidelberg) und Florian Böller (Technische Universität Kaiserslautern) stattfand. Ziel war es dabei auch, unterschiedliche Perspektiven aus den Einzeldisziplinen Politikwissenschaft bzw. Internationale Beziehungen (IB) und den Wirtschaftswissenschaften zusammenzubringen, da es in beiden unterschiedliche Denktraditionen zum analytischen Rahmenkonzept der Hegemonie gibt (etwa jene nach Charles Kindleberger in der Ökonomie und Robert Keohane in der IB), die jedoch häufig nicht in Dialog treten.Footnote 3 Zudem sollte sich der Blick über den unmittelbaren Bezugspunkt der Präsidentschaft Donald Trumps hinaus auf die mittel- und längerfristigen Trends richten, denn es ist nur allzu deutlich, dass der 45. Präsident eher als Symptom denn als Ursache der internationalen Transformationsprozesse gelten muss. Trotzdem, und dies ist nicht zuletzt dem HCA als Tagungsort geschuldet, richtete sich der Blick hauptsächlich auf die USA, sowohl mit Blick auf deren Außenpolitik als auch auf die innenpolitischen Bedingungen. Die USA dienten dann wiederum auch als Bezugspunkt für das Verhalten anderer diskutierter Akteure.

2 Defining hegemony: Das Konzept der hegemonialen Ordnung als analytischer Rahmen

Den Auftakt zur Konferenz bildete eine Keynote, in der Ayşe Zarakol (Cambridge University) das Konzept der globalen Hegemonie auf den Prüfstand stellte und die aktuelle Situation mit vergangenen Perioden hegemonialer Transformationen verglich. Zarakol grenzte Hegemonie dabei von verwandten Konzepten wie Imperium, Hierarchien oder Uni- versus Multipolarität ab und spezifizierte damit den analytischen Rahmen für die weitere Diskussion. Hegemonie wird demnach durch drei Aspekte gekennzeichnet: Zum einen eine Verteilung materieller Ressourcen, die es einem führenden Akteur ermöglicht, kollektive Güter bereitzustellen sowie seine Interessen gegenüber schwächeren Akteuren durchzusetzen. Zum anderen durch eine institutionelle Struktur, welche die hegemoniale Ordnung stabilisiert und maßgeblich vom führenden Akteur beeinflusst wird. Und schließlich von einem asymmetrischen Beziehungsgeflecht, in dem der Hegemon von anderen Akteuren in variierendem Maße unterstützt oder herausgefordert wird. Daraus folgt, dass Hegemonie kein statisches Konzept ist und auch nicht nur auf materiellen Faktoren fußt. Inwiefern eine hegemoniale Transformation stattfindet, hängt sowohl von Veränderungen auf der Ebene des Hegemons selbst, aber auch innerhalb zentraler Institutionen ab. Die Stabilität bzw. Krisenanfälligkeit einer hegemonialen Ordnung wird zudem maßgeblich durch das Verhalten anderer Akteure konstituiert.

3 Domestic contestation: Schwindende Unterstützung für die liberale Führungsrolle in den USA

Im zweiten Teil der Konferenz richtete sich der Blick auf die innenpolitische Situation in den USA. Christian Lammert (Freie Universität Berlin) und Welf Werner (HCA) machten dabei in ihren Vorträgen ein überzeugendes ökonomisches Argument, warum die USA unter Donald Trump nicht mehr in der Lage ist, ihre traditionelle Rolle als liberaler Hegemon auszuüben. So diagnostizierte Werner den Zusammenbruch eines spezifischen liberalen „social contract“, der über Jahrzehnte hinweg sicherstellte, dass eine Mehrheit der Wähler*innen von Globalisierung und Liberalisierung profitierte. Spätestens seit der Finanzkrise von 2008 und 2009 war jedoch klar, dass diese Rechnung nicht mehr aufging und die sozialstaatlichen Institutionen in den USA zu schwach ausgeprägt waren, um die negativen Marktauswirkungen abzufedern. Dadurch, so machte Lammert deutlich, verschärften sich die ohnehin vorhandenen Einkommensungleichheiten nochmals erheblich und die Unterstützung für eine globale Führungsrolle der USA schwand. Die Wählerschaft wurde mithin empfänglich für das populistische Argument, dass die USA im Zuge von Globalisierung und Handelsliberalisierung von anderen Staaten übervorteilt worden sind. Christian Tuschhoff (Freie Universität Berlin) verwies in seinem Beitrag darauf, dass die schwindende Bereitschaft zur Übernahme internationaler Führungsverantwortung auch auf die zunehmende Fragmentierung und Polarisierung der US-Gesellschaft zurückzuführen sei. Trump sei es gelungen, eine neue Koalition zu schmieden, die darauf zielt, die Kosten der Weltführungsrolle zu Lasten anderer Staaten zu externalisieren.

4 Breakdown of trust: Verlust hegemonialer Autorität bei den westlichen Partnern

Im dritten Teil der Konferenz stand die Außenpolitik der USA und ihrer transatlantischen Partner im Fokus. Zwei Papiere widmeten sich den wirtschafts- und außenhandelspolitischen Veränderungen, zwei weitere Papiere rückten die Sicherheitspolitik ins Zentrum der Analyse. Zunächst erörterte Andreas Falke (Universität Erlangen-Nürnberg) die Handelspolitik der Trump-Administration. In diesem Politikfeld werde laut Falke der ordnungspolitische Bruch und die Abkehr von der Rolle des liberalen Hegemons am deutlichsten sichtbar. Falke betonte nicht nur die Auswirkungen bei bilateralen Handelsbeziehungen, sondern auch die Beschädigung des WTO-Regimes insgesamt. Das Papier von Herman Mark Schwartz (University of Virginia) fokussierte sich auf den Bereich der intellectual property rights, die ein zentrales Instrument zur Festigung der Hegemonie der USA im ökonomischen Bereich darstellten und auch noch weit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Vormachtstellung der USA ermöglichten. Trumps Handelspolitik sowie Einschränkungen in der Immigrationspolitik trugen jedoch dazu bei, diese Machtbasis zu untergraben.

Das Beziehungsgeflecht zu den Verbündeten der USA im sicherheitspolitischen Bereich stand im Mittelpunkt der Papiere von Gordon Friedrichs (HCA) und Florian Böller (Technische Universität Kaiserslautern). Friedrichs untersuchte am Beispiel der Nonproliferationspolitik, wie sich die Führungsrolle der USA gewandelt hat und welche Gegenrollen andere Staaten übernommen haben. Der interessante Aspekt dieses Politikfelds liegt dabei einerseits darin, dass weniger materielle als vielmehr ideationale Veränderungen erkennbar sind. Zum anderen zeigt sich hier, dass die USA weiterhin in der Lage sind, eine (wenn auch veränderte) Führungsrolle auszuüben, da es die europäischen Staaten noch nicht geschafft haben, wirksame Gegenrollen einzunehmen. Zu einem ähnlichen Befund kam auch Böller. Zwar habe der massive Vertrauensverlust gegenüber den USA europäische Staaten wie Frankreich und Deutschland dazu veranlasst, weitere Anstrengungen in Richtung einer stärkeren Autonomie zu entwickeln. Dieses sicherheitspolitische hedging wurde insbesondere in Deutschland jedoch bislang nur in Ansätzen implementiert, was sich mit innenpolitischen Faktoren erklären lasse, etwa der zunehmenden Politisierung außen- und sicherheitspolitischer Fragen in Parlament und Regierung.

5 Challenging Western hegemony: Neue Machtansprüche nicht westlicher Staaten

Den Abschluss der Konferenz bildeten Analysen zu Akteuren außerhalb des transatlantischen Raums, deren Verhalten die liberale Hegemonie herausfordern: China, Indien, Russland und Brasilien. Während Suzanne Loftus (Marshall European Center for Security Studies) Russlands Positionierung gegenüber dem Westen als Versuch einordnete, den alten internationalen Status wiederzuerlangen, ohne dabei einen eigenen Entwurf einer hegemonialen Ordnung voranzutreiben, beschrieb Tobias Burgers (Keio University Tokio) Chinas Verhalten als deutlich ambitionierter. Burgers untersuchte dabei den oft übersehenen Versuch Chinas, im Cyberspace globalen Einfluss auszuüben. Diese Strategie sei insbesondere in Entwicklungsländern westlichen Staaten bereits deutlich überlegen. Indien stellt im Kontext des chinesischen Hegemoniestrebens einen interessanten Fall dar, wie David Jacobs und Patrick Kessler (beide Universität zu Köln) darlegten. Internationale Handlungszwänge ergeben sich für die größte Demokratie sowohl durch die zunehmende handelspolitische Konfrontation zwischen China und den USA als auch aus regionalen sicherheitspolitischen Erwägungen, etwa mit Blick auf Pakistan und Chinas regionales Vormachtstreben. Durch diese internationalen Bedingungen werde die Formulierung eigener Machtansprüche konterkariert. Der Fall Brasiliens zeigt wiederum, dass die Politik der Trump-Administration auf globaler Ebene nicht nur auf Kontestation, sondern auch auf Nachahmer trifft. Wie Luis Schenoni (University of Notre-Dame) darlegte, ziele Präsident Jair Bolsonaros Außenpolitik auf gute Beziehungen zu den USA, um damit den Status Brasiliens als regionale Vormacht in Südamerika langfristig zu festigen.

6 The erosion of liberal hegemony: Keine Transformation, aber zunehmende Instabilität

Die Konferenz konnte mittels einzelner Fallstudien nur einen begrenzten Ausschnitt der gegenwärtigen Veränderungsprozesse auf weltpolitischer Ebene nachzeichnen. Offen blieb auch, wie eine Weltordnung aussehen könnte, wenn sich der Niedergang der liberalen Hegemonie – für die fast alle Teilnehmenden Hinweise fanden – fortsetzen würde. Trotzdem konnten die Papiere und Diskussionen einige Muster und Prozesse herausarbeiten, die für die weitere wissenschaftliche Debatte um Hegemonie und weltpolitische Transformation nützlich sein werden. Erstens zeigten die Analysen zu den innenpolitischen Bedingungen der US-Weltpolitik, dass die Ursachen für die Absage an die liberale Führungsrolle Washingtons deutlich vor den Präsidentschaftswahlen 2016 zu verorten sind. Der überparteiliche Konsens, die Kosten zu tragen, die zur Aufrechterhaltung der hegemonialen Ordnung nötig sind, ist spätestens seit der ökonomischen Krise von 2008 und 2009 aufgebrochen. Zweitens, und das zeigt der Blick auf das US-Allianzsystem, sind für die Stabilität der liberalen Hegemonie nicht alleine materielle Faktoren maßgeblich. Der Verlust von Vertrauen und das Entstehen konflikthafter Rollenkonstellationen innerhalb der transatlantischen Allianz untergräbt die westliche „Sicherheitsgemeinschaft“Footnote 4 von innen – trotz weiterhin vorhandener materieller Ressourcen des Hegemons. Drittens verwenden Herausforderer der liberalen Hegemonie, wie China, Indien, Russland oder Brasilien, unterschiedliche Strategien, um ihre ordnungspolitischen Vorstellungen durchzusetzen. Während Russlands Machtstreben regional begrenzt ist und lediglich auf das Ausfüllen des durch den US-Rückzug entstehenden Vakuums im Nahen Osten zielt, formuliert Peking unter anderem mit dem One Belt, One Road-Projekt und mit Initiativen im digitalen Raum neue Ordnungsvorstellungen. Doch auch hier gilt, dass Hegemonie nicht allein durch materielle Macht erzwungen werden kann, sondern auf die Unterstützung und Legitimitätszuschreibung anderer Akteure angewiesen ist – zumindest bislang bleibt Pekings hegemonialer Anspruch in dieser Perspektive defizitär.