Zusammenfassung
Das Ende der Ära Merkel erzeugt strategischen Denkraum, um die unausgesprochene Spaltung des Westens von innen zu überwinden. Es gilt, die strategische Bewertung Chinas als zentralen Herausforderer Amerikas so zu begreifen, dass ein Krieg zwischen beiden unweigerlich signifikanten Einfluss auf Amerikas Abschreckungsfähigkeit in Europa hat. Und dass Amerika bereits im Vorfeld – zur Schwächung Chinas – ein Rapprochement mit Russland eingeht. Die europäische Antwort besteht in deutsch-französischer Nuklearabschreckung als Break Out-Option innerhalb der NATO, sofern es in Ostasien zum Krieg kommt.
Abstract
The coming end of Merkel’s tenure in power provides an opening for strategic thinking. Observing an interregnum in world politics, China needs to be regarded as America’s most significant great power rival by the latter’s NATO partners. As the possibility of a war between China and America cannot be ruled out, US capabilities, conventional and nuclear, may be stretched. Thus, America could well reach for a rapprochement with Russia to weaken China. Europe should consider a new model of German-French nuclear deterrence, designed as a break-out option within NATO in case of an East Asian war.
Notes
Ein erster Aufriss des Themas findet sich in einem Gastkommentar von Heisbourg und Terhalle (2018). Vorbild für den hier vorgelegten Aufsatz sind die strategischen Einzelbeiträge Henry Kissingers. Antrieb ist dabei die als gesellschaftliche Notwendigkeit betrachtete Auskunftspflicht der Intellektuellen eines Landes angesichts fundamentaler Krisen der westlichen internationalen Ordnung. Vergeblich würde man allerdings heute in einem Journal wie International Organization Sonderhefte zum Thema „Strategy and the Atlantic Community“ (Bowie 1963) suchen. Deutsche Forscher der Internationalen Beziehungen (IB) würde man dabei nur mit großen Schwierigkeiten finden (Terhalle 2016).
Für eine balancierte Kritik siehe The Economist (2018).
Ausnahmen bilden hier u. a. ein ehemaliger Bundeskanzler, Helmut Schmidt, und ein ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann. Auf der akademischen Ebene, horrible dictu, ist solches Denken allerdings in Deutschland nahezu absent. Bisher weitgehend ungenutzt ließe sich gegebenenfalls mittels der ursprünglich von Andreas Hillgruber so benannten „Krimkriegssituation“ (zit. n. Hildebrand 1990) eine Theorie machtpolitischer Vakua in Verbindung mit Paul Schroeders (2004) dynamischer Typologie von Weltordnungen sondieren.
Zu Deutsch: Anhängsel Eurasiens.
Spykman warnte in dieser Hinsicht treffend: „Nations which renounce the power struggle [...] risk eventual absorption by more powerful neighbors“ (1942, S. 446).
Es ist bezeichnend für die verkürzende Politisierung dieser Diskussion, dass das transatlantische Element, das immer wesentlich für europäische Strategiedebatten gewesen ist, gegenwärtig mit Unbedacht weitestgehend ausgeblendet wird.
Zur konzeptionellen Logik politischer grand bargains siehe Little (2007, S. 165, 270, 274).
Im vorliegenden Artikel wird, abweichend vom ZfAS-Standard, bei personenbezogenen Substantiven die männliche grammatikalische Form verwendet. Der Autor schließt damit Personen jeden Geschlechts gleichermaßen ein.
Siehe Terhalle (2019, S. 40).
Während der durch das Weißbuch der Bundeswehr von 2006 ausgelösten Debatte über deutsche Interessen machte der Friedensforscher Klaus Naumann (2008, S. 28-30) richtigerweise darauf aufmerksam. Eine konzeptionelle Begründung lieferte er allerdings nicht.
Rühle (2017, S. 88) erkennt diesen strategisch hergeleiteten Wandel der US-Position und die daraus abgeleiteten Konsequenzen nicht.
Diese Auffassung vom Zweck einer Strategie ähnelt der bei Craig und Gilbert (1986, S. 869): „Strategy is [...], in a broader sense, [...] the rational determination of a nation’s vital interests, the things that are essential to its security, its fundamental purposes in its relations with other nations, and its priorities with respects to goals.“ Siehe hierzu auch die wichtigen Anmerkungen bei von Alten (1994, S. 135) und Kissinger (1965, S 160-161).
Gernot Erlers Weltordnung ohne den Westen (2018) übersieht trotz des vielversprechenden Untertitels Europa zwischen Russland, China und Amerika genau diese Begrenzung europäischen Handlungsspielraums.
Die hier anzusetzende Debatte zum Thema cyber warfare, das entgegen der häufig überzogen dargestellten Dominanz des technologischen Fortschritts nur in Kombination mit konventionellen Kapazitäten gedacht werden sollte, wird zu einem späteren Zeitpunkt und in anderem Zusammenhang geführt werden.
Kritiker, die einwenden, die USA habe doch den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion und parallel Kriege in Korea und Vietnam geführt, übersehen, dass die letztgenannten Kriege keine Frontlinie gegen eine zweite Großmacht bedeuteten.
Zur russischen Konzeption des nahen Auslands siehe Toal (2017, S. 1-54).
Australien, Neuseeland und Japan sind zwar nicht Mitglied der NATO, aber mit Blick auf China integraler Bestandteil westlicher Strategie.
In einem Interview mit The Atlantic nannte Obama Deutschland (unter Merkel) „free-rider“ (Goldberg 2016).
Trotz teilweise massiver Kritik (in Deutschland) an den Vorschlägen des Autors hat sich seitdem eine hauchdünne, wenn auch stärker internationale Zustimmung entwickelt. So spricht Richard Burt, 1990 Chefunterhändler des damaligen US-Präsidenten George H. Bush für den Strategic Arms Reduction Treaty I und zuvor Botschafter in Deutschland, etwa davon, dass es einen „European umbrella of some sort“ geben müsse (zit. n. Heilbrunn 2018). Und der kürzlich noch als deutscher Botschafter in Großbritannien fungierende Peter Ammon wähnt Möglichkeiten eines „erschreckend radikalen“, ja, „grundlegenden und mutigen Deals mit Frankreich, der eine ganz tiefe Integration beider Staaten vorsieht“, die auch die französischen Nuklearstreitkräfte umfassen werde (zit. n. Graw et al. 2018). Ausschließlich zum deutsch-französischen Verhältnis siehe Krotz und Schild (2018).
Benner (2018) verweist klug auf die im deutschen intellektuellen Milieu (ideologisch) vorhandene, weitgehende Ausblendung des innergesellschaftlichen und außenpolitischen Machtansatzes Chinas.
Eine Konzentration auf die Verteidigung liberaler Werte schließt die realpolitische Diplomatie mit autoritären Staaten keineswegs aus (Schmidt 2008, S. 65-68).
Friedrich Merz hat dies möglicherweise im Sinn gehabt, als er davon sprach, dass seitens der Politik „komplexe Sachverhalte stärker erklärt werden“ müssten (zit. n. Lohse und Wehner 2018).
Siehe auch von Marschalls Hinweis auf das dadurch entstandene „Wachkoma“ (2018, S. 237) und den Mangel an „Autoritäten, die der deutschen Gesellschaft mit prononcierten Richtungsweisungen dabei helfen, sich in der Weltlage zurechtzufinden“ (2018, S. 141). Solche operativen Richtungsanweisungen bedürfen jedoch gewiss zuerst angemessener, strategischer Analyseparameter.
Bemerkenswert ist die Konstatierung von Selbstkritik (an einem im politischen Deutschland weit verbreiteten Weltbild) seitens Thomas Bagger (2019) in diesem Zusammenhang.
U. a. Münkler hält prominent an dieser traditionellen Sicht fest (2016, S. 183).
Xi Jinping wird in einem geleakten Dokument, das von der New York Times bereitgestellt wird, mit den Worten zitiert, dass seine Führungskraft eine „clear alternative“ zum „chaos of the West“ aufzeige (Sanger und Erlanger 2018).
Schwarz (1985, S. 165) wies bereits vor 35 Jahren auf solch notwendige, resiliente „Kampfbereitschaft“ hin.
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Danksagung
Der Autor dankt Stephen Walt, Robert Jervis, Paul Kennedy, Thomas Kleine-Brockhoff, Bastian Giegerich, Francois Heisbourg, Carlo Masala, Klaus Naumann und mehreren deutschen und internationalen Ministerialbeamten (die um Anonymität gebeten haben) für wertvolle Austauschmöglichkeiten zum Thema in den letzten zwölf Monaten.
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Terhalle, M. Im Westen nichts Neues? Eine strategische Vision transatlantischer Macht. Z Außen Sicherheitspolit 12, 133–150 (2019). https://doi.org/10.1007/s12399-019-00745-0
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